23. KAPITEL
»Mr Fletcher ist ganz sicher kein Diener«,
schimpfte Patricia am nächsten Nachmittag leise. »Mehr noch, er
weiß gar nicht, wie sich ein Diener benimmt. Sieh doch, er lümmelt
an der Wand und vertilgt Sandwiches wie ein Gast des Hauses.«
Lucinda wechselte einen raschen amüsierten Blick
mit Lady Milden. Es war halb vier Uhr nachmittags, den Salon
zierten mehr als ein halbes Dutzend elegant gekleideter junger
Männer. Durch das Fenster sah sie weitere ungeduldige, reichlich
beklommen aussehende Gentlemen Anfang zwanzig mit Blumensträußen in
der Hand die Stufen heraufkommen.
Der Raum quoll bereits vor Schnittblumen und
Gestecken aller Art über. Sie hatte ihre Sinne dämpfen müssen, um
den Geruch des Verfalls aushalten zu können, doch Patricia und Lady
Milden schienen entzückt von den Blumengeschenken.
Es war jedoch nicht das schwach spürbare
Vorhandensein so vieler toter Blumen, das ihre Nerven belastete.
Schwache Strömungen psychischer Energie vibrierten leicht im Raum.
Patricias Anbeter waren durchweg Mitglieder der Society. Das
bedeutete, dass jeder mit einem gewissen Ausmaß an Talent
ausgestattet war. Versammelte man all diese psychisch begabten
Menschen in einem begrenzten Raum, würde auch
ein Mensch mit minimaler Empfindsamkeit Spannung in der Atmosphäre
spüren, dachte sie.
Mrs Shute und zwei ihrer Nichten, die heute
wegen der erwarteten großen Gästeschar aushalfen, brachten ständig
frischen Tee und einen nicht enden wollenden Vorrat an Sandwiches
und Backwerk. Erstaunlich, welche Unmengen gesunde junge Männer
verzehren können, dachte Lucinda.
Für diese Art von Besuchen junger Damen und
Herren im heiratsfähigen Alter galten sehr strikte Anstandsregeln.
Patricia saß behütet vor der Teekanne auf dem Sofa. Lucinda und
Lady Milden nahmen die Plätze ihr zur Seite auf Sesseln ein, gerade
so weit entfernt, dass die Verehrer sich Patricia nähern und mit
ihr plaudern konnten.
Keiner der jungen Männer hätte mehr als zehn bis
fünfzehn Minuten bleiben sollen, doch es war bereits eine halbe
Stunde vergangen, ohne dass sich jemand empfohlen hätte, und mit
jeder Minute trafen neue Gäste ein, die der Reihe nach antraten, um
Patricia Komplimente zu machen. Nur wenige schafften es, unter den
wachsamen Augen Lady Mildens ein längeres Gespräch mit der jungen
Dame zu führen.
»Ich gebe ja zu, dass wir Mr Fletcher unmöglich
als Diener ausgeben können«, sagte Lucinda ruhig. »Deshalb
beschlossen Lady Milden und ich, ihn als Freund der Familie
vorzustellen.«
»Aber das ist er nicht«, gab Patricia ungehalten
zurück. »Als Diener, der er sein sollte, führt er Anordnungen nicht
aus. Ich wollte, dass er draußen in der Diele bleibt, da er von
dort aus einen guten Überblick hätte, aber nein, er bestand darauf,
sich hier drinnen zu postieren.«
Lucinda musste zugeben, dass Edmund Fletcher
ihren Vorstellungen von einem Leibwächter gar nicht entsprach. Man
ging davon aus, dass Männer, die sich für diesen Beruf entschieden,
von der Straße kamen. Mr Fletcher hingegen kleidete sich nicht nur
wie ein Gentleman, er beherrschte auch die Umgangsformen, das
Gehaben und, was am schwierigsten nachzuahmen war, die Sprache
eines wohlerzogenen und gebildeten Mannes.
»Schenkt Mr Fletcher keine Beachtung«, riet Lady
Milden ihnen unbekümmert. »Ich nehme an, dass er nur seine
Verpflichtung wahrnehmen möchte.«
»Nicht nur, dass er keine Anweisungen
entgegennimmt, er versucht sogar, selbst welche zu geben«, murmelte
Patricia. »Er hatte doch tatsächlich die Dreistigkeit, mir zu
sagen, ich solle nicht am Fenster stehen. Ist das zu fassen?«
Ein junger Mann mit gerötetem Gesicht und einer
leeren Tasse in der Hand näherte sich zögernd. Patricia bedachte
ihn mit einem nach Lucindas Meinung strahlenden Lächeln.
»Noch eine Tasse Tee, Mr Riverton?«, fragte
Patricia.
»Ja, danke, Miss McDaniel.« Verwirrt hielt
Riverton ihr seine Tasse hin. »Wenn ich Sie auf dem Ball richtig
verstanden habe, gilt Ihr Interesse der Archäologie.«
»Allerdings, Sir.« Patricia schenkte ihm mit
anmutigem Schwung Tee nach. »Sie ist meine Leidenschaft.«
»Ich bin auch leidenschaftlich an Archäologie
interessiert«, gab Riverton angeregt zurück.
»Ach.« Patricia schenkte ihm noch ein
interessiertes Lächeln.
Am anderen Ende des Raumes verdrehte Edmund
Fletcher die Augen und verdrückte den Rest eines Sandwiches.
Lucinda
gewann den Eindruck, dass seine Reaktion für Patricia Anreiz zu
noch sprühenderer Laune war.
Mrs Shute tauchte im Eingang auf. »Mr Sutton und
Mr Dodson.«
Die Neuankömmlinge wurden in den Salon geführt.
Lucinda glaubte ein Ansteigen des Energiepegels zu spüren, als die
bereits Anwesenden die neue Konkurrenz abschätzten. Lady Milden
schien überaus befriedigt mit dem Erreichten. Edmund Fletcher
wirkte durch und durch gelangweilt.
Eine flüchtige Bewegung am Rande ihres
Gesichtsfeldes ließ Lucinda wieder aus dem Fenster blicken. Caleb
entstieg einer Droschke und kam die Vorderstufen herauf. Sekunden
später hörte sie seine leise Stimme in der Diele.
Wieder erschien Mrs Shute. »Mr Jones.«
Caleb betrat den Salon wie eine Naturgewalt. Das
Stimmengewirr verstummte jäh. Die jungen Männer gaben dem
Neuankömmling den Weg frei und musterten ihn mit einer Mischung aus
Wachsamkeit, Bewunderung und Neid wie junge Löwen einen
ausgewachsenen Artgenossen. Das Energieniveau im Salon stieg um
etliche Grad.
Caleb nickte Edmund Fletcher zu, der den stummen
Gruß mit einer respektvollen Neigung des Kopfes erwiderte.
Ohne die anderen Männer in der Nähe zu beachten,
blieb Caleb vor Lucinda, Patricia und Lady Milden stehen.
»Meine Damen«, sagte er. »Dürfte ich Miss
Bromley kurz entführen? Ich möchte zu gern einen Rundgang in ihrem
Gewächshaus machen.«
»Aber natürlich«, sagte Lady Milden, ehe Lucinda
in eigener Sache ein Wort äußern konnte. »Geh nur. Patricia und ich
kommen gut allein zurecht.«
Lucinda stand auf und ging mit Caleb zur Tür.
Sie sagte kein Wort, bis sie draußen in der Diele standen.
»Einen Rundgang in meinem Gewächshaus, Mr
Jones?«, fragte sie trocken.
»Ich hielt es für einen plausiblen Vorwand, um
Sie loszueisen.«
»Das weiß ich zu schätzen, ich bin über die
Atempause wirklich froh. Es schmerzt, diese eifrigen jungen
Gentlemen zu beobachten, wie sie sich bemühen, höfliche
Konversation mit Patricia zu machen.«
»Auf dem Heiratsmarkt scheint es ja gut
voranzugehen«, bemerkte er.
»Ja. Lady Milden ist zuversichtlich, binnen
einiger Tage eine Ehe zu stiften.«
»Und was ist mit Miss Patricia? Zeigt sie
Interesse für einen der anwesenden jungen Männer?«
»Sie ist zu allen charmant und scheint ihre
Gesellschaft zu genießen, doch die einzige starke Emotion, die ich
wahrnehmen konnte, ist eine unbegreifliche Feindseligkeit gegen Mr
Fletcher.«
»Warum hat sie eine Abneigung gegen ihn?«
»Ich fürchte, dass es zum Teil seine Schuld ist.
Er gab klar zu erkennen, dass er von ihren Bewunderern und dem
ganzen Projekt nicht viel hält. Ich glaube, er hält Patricias Suche
nach einem Ehemann für zu nüchtern und geschäftsmäßig. So ließ er
verlauten, dass er das Gefühl hätte, einer Auktion von Vollblütern
bei Tattersall beizuwohnen.«
Caleb furchte die Stirn. »Merkwürdige Ansicht.
Lady Mildens Beratung in Anspruch zu nehmen, erscheint mir als sehr
effektive und logische Lösung des Problems.«
»Ja, Mr Jones, das hatten Sie schon
klargemacht.« Sie ging ihm voraus.
»Wie geht es Ihrer Schulter heute?«
»Sie schmerzt noch ein wenig, doch das war zu
erwarten. Shute geht es auch schon besser. Ich nehme an, Sie sind
gekommen, weil Sie etwas Neues vom Fortgang Ihrer Ermittlungen zu
berichten haben?«
»Nein.« Er öffnete die Glastüren und schob sie
vor sich ins Gewächshaus. »Ich kam, da wir nach all dem Wirbel
keine Gelegenheit zu einem Gespräch hatten.«
»Worüber?«
»Über den Trockenschuppen.«
Erschrocken drehte sie sich zu ihm um. Sie
spürte, wie ihr heiße Röte ins Gesicht stieg, doch sie schaffte es,
in kühlem und gefasstem Ton zu antworten - ganz erfahrene Frau, die
sie dank der Vorkommnisse im Trockenschuppen nun tatsächlich
war.
Sie räusperte sich leise. »Ich glaube kaum, dass
ein Gespräch über dieses Thema nötig ist. Zwischen reifen Meschen
geschehen diese Dinge.«
»Mir nicht. In meinem ganzen Leben hatte ich
kein Erlebnis dieser Art in einem Trockenschuppen.« Er schloss die
Tür mit Bedacht und sah sie mit beunruhigend stetigem Blick an.
Sein hartes Gesicht war noch mürrischer als sonst. »Auch für Sie
war es eine neue Erfahrung.«
»Nun ja, ich hatte nicht viele Gelegenheiten in
dieser Richtung, Sir«, sagte sie wenig freundlich. »Was gibt es
also zu bereden?«
»Unter normalen Umständen eine Heirat.«
»Heirat?!«
»Leider bin ich nicht in der Lage, Ihnen eine
Ehe bieten zu können.«
Als sie spürte, wie sie schwankte, suchte sie
automatisch am nächsten stabilen Objekt, einem Arbeitstisch, Halt
und versuchte, gleichmäßig zu atmen.
»Ich versichere Ihnen, dass ich ein solches
Angebot nie erwartete.« Sie vollführte eine, wie sie hoffte,
lässige Handbewegung. »Es ist ja nicht so, dass ich eine
unschuldige junge Dame wie Patricia bin und auf meinen Ruf achten
müsste. Du lieber Himmel, mein Ruf wurde unwiderruflich geschädigt,
als mein Verlobter starb.«
»Sie waren unschuldig«, sagte er. »Ich wusste
es, ehe ich Sie in den Trockenschuppen brachte, ignorierte es aber
lieber.«
Endlich verstand sie. Er gab ihr nicht die
Schuld. Er klagte sich selbst eines Verbrechens an.
Sie straffte ihre Schultern. »Ich bin
siebenundzwanzig, Sir. Sie können mir glauben, wenn ich sage, dass
die Freuden der Unschuld begrenzt sind. Ab einem gewissen Punkt ist
Unwissenheit kein Segen mehr. Ich fand die Vorkommnisse der letzten
Nacht sehr erhellend und … und belehrend.«
»Belehrend?«, wiederholte er neutral.
»Und erhellend.«
»Nun, ich bin erleichtert, dass Sie nicht das
Gefühl haben, unsere Zweisamkeit wäre vergeudete Zeit
gewesen.«
Sie blinzelte. Sein Ton hatte sich nicht
verändert, doch etwas sagte ihr, dass sie ihn gekränkt hatte. Sehr
gut. Sollte er beleidigt sein. Im Moment empfand sie ihm gegenüber
nicht das geringste Mitgefühl. Sie griff nach einer Gartenschere
und machte sich daran, von einer Orchidee abgestorbene Blüten
abzuschneiden.
»Vergessen Sie die Episode, Mr Jones«, riet sie
ihm.
»Da gibt es ein Problem. Ich kann an nichts
anderes mehr denken.«
Sie war so verblüfft, dass sie fast eine frische
Blüte abgeknipst hätte. Ihr Puls geriet ins Schleudern. Behutsam
legte sie die Schere aus der Hand.
»Was sagen Sie da?«, fragte sie.
Er fuhr sich durchs Haar. »Mir wurde klar, dass
die Erinnerung an die vergangene Nacht mich immer begleiten
wird.«
Eine Entdeckung, die ihn nicht zu begeistern
schien.
»Es tut mir leid, dass Sie das als Problem
betrachten, Mr Jones.« Jetzt klang sie richtig gereizt. »Vielleicht
hätten Sie diese Möglichkeit ins Auge fassen sollen, ehe sie den
Spaziergang zum Schuppen vorschlugen.«
»Ich sagte nicht, dass die Erinnerungen das
Problem wären. Aber es wird eine Weile dauern, bis ich mich an sie
gewöhnt habe.« Er runzelte die Stirn. »Ich habe es immer geschafft,
störende Gedanken zu verdrängen, wenn ich mich konzentrieren
wollte.«
»Und jetzt bin ich ein störender Gedanke?« Sie
verschränkte die Arme. »Mr Jones, vielleicht interessiert es Sie,
dass dies nicht die Sorte Kompliment ist, die eine Frau nach einer
intimen Begegnung mit einem Mann zu schätzen weiß.«
»Ich gehe nicht gut mit der Situation um,
oder?«
»Nein«, sagte sie gepresst. »Das tun Sie
nicht.«
»Das rührt zweifellos daher, dass ich das Thema
Ehe zu vermeiden suche.«
Sie erstarrte. »Sie waren es, der das Thema
anschnitt, nicht ich.«
»Lucinda, Sie dürfen mit Recht einen
Heiratsantrag erwarten.
Ich halte mich für einen Ehrenmann und sollte Ihnen diesen Antrag
machen, doch ich bedauere sagen zu müssen, dass ich es nicht kann.«
Er ließ eine Pause eintreten. »Nun ja, noch nicht jedenfalls.
Vielleicht niemals.«
Schmerz vermischt mit Empörung drückte ihr das
Herz so zusammen, dass sie kaum atmen konnte. Es ist ja nicht so,
dass ich ihn heiraten möchte, dachte sie. Doch es wäre nett gewesen
zu wissen, dass das intime Zwischenspiel ihm mehr bedeutete als ein
Fleck auf seiner Ehre und ein paar störende Gedanken.
Sie nahm zu ihrem Stolz Zuflucht.
»Sehen Sie sich um, Caleb Jones.« Ihre
ausholende Handbewegung umfasste das Gewächshaus und das große
Wohnhaus, das sich daran anschloss. »Sieht man denn nicht, dass ich
auf keinen Mann angewiesen bin? Ich habe auf mich allein gestellt
einen Skandal überlebt. Ich verwalte das Erbe, das mir meine Eltern
hinterließen, sehr geschickt und führe ein komfortables Leben. Ich
fröne meiner Leidenschaft für Botanik, und erlebe große
Befriedigung, wenn ich den Menschen in der Guppy Lane helfen kann.
Das ist mehr als genug, um das Leben einer Frau randvoll zu machen.
Ich versichere Ihnen, dass für eine Frau in meiner Situation eine
Affäre viel günstiger ist als eine Ehe.«
»Ja, das sehe ich ein.« Seine dunklen Brauen
bildeten eine markante Linie über seinen Augen. »Mir ist klar, dass
ich die meisten, wenn nicht gar alle Ihre Anforderungen an einen
Ehemann nicht erfüllen kann.«
»Das ist nicht der Punkt, Sir.«
»Hypothetisch gesprochen - was müsste ein Mann
in meiner Lage Ihnen bieten, um Sie zu einer Ehe zu bewegen?«
Dieser kalte, intensive Blick wurde ihr immer
vertrauter. Caleb hatte wieder ein Geheimnis erspürt, das es zu
lösen galt.
»Er müsste mir Liebe bieten, Sir.« Sie reckte
ihr Kinn. »Und ich müsste seine Gefühle erwidern.«
»Ich verstehe.« Er wandte sich ein wenig ab, als
wäre bei ihm jähes Interesse für die merkwürdige Welwitschia mirabilis erwacht, die in der Nähe
stand. »Ich fand immer, dass Liebe sich unmöglich auf klare und
sinnvolle Weise messen oder beschreiben lassen kann.«
Typisch, diese logische, wissenschaftliche
Denkweise. Entzog sich etwas einer Definition, war es einfacher,
man tat so, als existiere es gar nicht. Fast tat er ihr leid.
Fast.
»Ja.« Sie lächelte kalt. »Liebe lässt sich mit
Worten nicht definieren. So wie die paranormalen Farben der Blumen,
die ich sehe, wenn ich meine Sinne öffne, sich nicht beschreiben
lassen.«
Er sah sie über die Schulter hinweg an. »Wie
kann man in diesem Fall wissen, dass man sie erlebt?«
Sie überlegte. Sie konnte ihm ihre eigenen
Gefühle nicht anvertrauen. Er war im Grunde ein anständiger Mensch,
dem sein Ehrgefühl jetzt zu schaffen machte. Sie wollte die Last
seiner Schuld nicht noch vergrößern. Schließlich war sie für das
Geschehene ebenso verantwortlich wie er. Sie bereute dieses
unglaubliche Erlebnis nicht, obwohl sie nun den Preis dafür
bezahlte.
Sie löste ihre Arme, griff nach der Gießkanne
und begoss eifrig einen Frauenfarn. »Lady Milden sagt, es sei eine
intuitive Sache. Man empfindet, dass eine psychische Verbindung
besteht.« So wie ich bei dir auf dem
Blütenbett.
Er kniff die Augen zusammen. »Fühlten Sie diese
Verbindung mit Ihrem Verlobten?«
Völlig aus dem Konzept gebracht, stellte sie die
Gießkanne ziemlich energisch ab. Sie öffnete ihre Sinne weit und
bezog Trost aus der belebenden Energie des Gewächshauses.
»Nein«, sagte sie, schon gefasster. »Aber er
schien für mich in jeder Hinsicht ideal zu sein. Er erfüllte alle
Anforderungen auf meiner Liste. Jede einzelne. Ich war sicher, dass
die Liebe zwischen uns wachsen würde. Wie auch nicht? Das wird in
allen Ratgebern für Eheglück verheißen. Wähle deinen Ehemann mit
Bedacht, und die Liebe wird sich einstellen.«
»Du lieber Gott. Es gibt Bücher zu diesem
Thema?«
Unter anderen Umständen hätte sie sein Erstaunen
amüsant gefunden.
»Hunderte«, sagte sie aufgeräumt. »Nicht zu
reden von der Unmenge von Artikeln in Frauenzeitschriften.«
»Verdammt, das wusste ich nicht. Ich habe noch
nie von solchen Büchern und Artikeln für Männer gehört.«
»Sehr wahrscheinlich gibt es keine, weil Männer
sie nicht lesen würden«, sage sie. »Warum auch? Eine Ehe stellt für
sie ein weitaus geringeres Risiko dar als für Frauen. Männer
erfreuen sich so vieler Rechte und Freiheiten. Sie müssen nicht
befürchten, von der Gesellschaft geächtet zu werden, falls sie in
einer kompromittierenden Situation ertappt werden. Sie können
reisen, wann und wohin sie wollen, ohne dass man sich über sie
mokiert. Sie können unter vielen Berufen wählen. Eine unglückliche
Ehe kann mit einer teuren Geliebten kompensiert werden. Und wenn
ein Mann sich entschließt, seine Frau zu verlassen, kann er darauf
bauen, dass ihn die Scheidungsgesetze in jeder Hinsicht
begünstigen.«
»Den Vortrag können Sie sich sparen, Lucinda«,
sagte Caleb trocken. »Sie können sicher sein, dass jeder Mann in
der Familie Jones ihn oft genug von den Jones-Frauen zu hören
bekommen hat.«
Sie errötete. »Ja, natürlich. Verzeihen Sie. Ich
weiß, dass Sie sehr moderne Ansichten über die Rechte der Frauen
haben.« Wahrscheinlich einer der Gründe, warum
ich mich in dich verliebte.
Er runzelte die Stirn. »Sie sagten, Ihr
Verlobter erfüllte jede Bedingung auf Ihrer Liste?«
Sie seufzte. »Jetzt haben Sie wieder diesen
Blick.«
»Welchen Blick?«
»Jenen der mir verrät, dass Sie wieder einem
Geheimnis auf der Spur sind. Als Antwort auf Ihre Frage, ja. Mr
Glasson erschien mir perfekt. Rückblickend ist es erstaunlich, wie
perfekt er war. Erst als wir verlobt waren, erkannte ich die
Wahrheit. Er erfüllte nur eine einzige Bedingung.«
»Welche?«
»Er besaß mit Sicherheit eine Menge Talent«,
sagte sie grimmig. »Ich spürte es in seiner Nähe.«
»Botanisches Talent?«
»Nein, obwohl er einige Kenntnisse auf diesem
Gebiet besaß. Schließlich entdeckte ich, dass fast alles an ihm
falsch war. Aber irgendwie schaffte er es, nicht nur mich, sondern
auch meinen Vater zu überzeugen, dass er für mich einen idealen
Ehemann abgeben würde.«
»Anders gesagt, er hatte ein Talent für
Betrug.«
»Ja, es war wirklich erstaunlich.« Sie
schüttelte den Kopf, noch immer verblüfft darüber, wie sie sich von
Ian Glasson hatte hinters Licht führen lassen. »Sogar Papa ließ
sich von
ihm täuschen, obwohl mein Vater ein guter Menschenkenner
war.«
Calebs Miene wurde noch nachdenklicher. »Das
hört sich an, als wäre Glasson ein wahres Chamäleon gewesen.«
Sie blinzelte. »Wie bitte?«
»In meinen Mußestunden erarbeite ich eine
Klassifizierung verschiedener Typen starker Talente. Die Society
benötigt eine brauchbarere Methode zur Einteilung und Beschreibung
der Art und Weise, wie starke paranormale Fähigkeiten sich
manifestieren.«
»Sie versetzen mich in Erstaunen, Sir«, sagte
sie amüsiert. »Nie hätte ich gedacht, dass Sie freie Zeit
haben.«
Von ihrem neuen Thema abgelenkt, ging er nicht
darauf ein. »Bei der großen Mehrheit der Menschen mit dieser Gabe
reicht die psychische Fähigkeit nicht über das Stadium einer vagen,
allgemeinen Empfindsamkeit hinaus.«
»Intuition.«
»Ja. Mein Studium der historischen Berichte der
Society und meine Beobachtungen deuten darauf hin, dass ein sehr
starkes Talent fast immer hoch spezialisiert ist.«
Nun regte sich ihre Neugierde. »So wie meine
Fähigkeit, Pflanzenenergie zu analysieren?«
»Genau. Oder nehmen wir das Talent für Hypnose
oder das Deuten einer Aura. Chamäleons wiederum haben ein Talent,
nicht nur zu erspüren, was ein anderer möchte, sie schaffen für
kurze Zeit auch die Illusion, diese Sehnsüchte befriedigen zu
können.«
Sie runzelte die Stirn. »Warum diese zeitmäßige
Einschränkung?«
»Man braucht viel Energie, um die Illusion
aufrechtzuerhalten,
zumal, wenn das angepeilte Opfer intelligent und einigermaßen
empfindsam ist. Früher oder später zerbricht das Phantasiebild und
die wahre Natur des Chamäleons tritt zutage.«
»Das erklärt vermutlich, warum Mr Glasson sich
nur selten in meiner Gesellschaft befand.« Sie zögerte. »Obwohl wir
hin und wieder ins Theater oder zu einem Vortrag gingen und bei
diesen Gelegenheiten mehrere Stunden zusammen waren.«
»Es waren Situationen, in denen Ihre
Aufmerksamkeit sich auf andere Dinge richtete, während dieser Zeit
musste er nicht viel Energie aufwenden.« Caleb sah sie nachdenklich
an. »Was weckte in Ihnen den Verdacht, dass er nicht der war, für
den er sich ausgab?«
Sie errötete und wendete sich halb ab. »Sie
müssen wissen, dass ich am Anfang unserer Beziehung von seiner
Zurückhaltung sehr beeindruckt war.«
»Zurückhaltung?« Caleb schien verblüfft.
Caleb war zwar brillant, konnte zuweilen aber
erstaunlich begriffsstutzig sein.
»Mr Glasson benahm sich immer wie ein perfekter
Gentleman«, führte sie weiter aus.
»Ich wüsste nicht, wie das Ihren Argwohn hätte
wecken sollen.«
Sie drehte sich auf dem Absatz zu ihm um. »Um
Himmels willen, Sir, Ian Glasson küsste mich, als wäre ich seine
Schwester oder seine altjüngferliche Tante. Keusch und
leidenschaftslos wäre noch untertrieben. Muss ich noch deutlicher
werden?«
Caleb war sprachlos, als ihm ein Licht aufging.
»Allmächtiger, er küsste Sie, als wären sie seine Tante?«
»Sie können davon ausgehen, dass er sich
geradezu übertrieben an die Anstandsregeln hielt.« Sie ballte die
Hand, an der sie den Ring trug, zu einer kleinen Faust. »Bis zu dem
Nachmittag, als er mich im Garten der Carstairs
Botanical Society vergewaltigen wollte.«