23. KAPITEL

»Mr Fletcher ist ganz sicher kein Diener«, schimpfte Patricia am nächsten Nachmittag leise. »Mehr noch, er weiß gar nicht, wie sich ein Diener benimmt. Sieh doch, er lümmelt an der Wand und vertilgt Sandwiches wie ein Gast des Hauses.«
Lucinda wechselte einen raschen amüsierten Blick mit Lady Milden. Es war halb vier Uhr nachmittags, den Salon zierten mehr als ein halbes Dutzend elegant gekleideter junger Männer. Durch das Fenster sah sie weitere ungeduldige, reichlich beklommen aussehende Gentlemen Anfang zwanzig mit Blumensträußen in der Hand die Stufen heraufkommen.
Der Raum quoll bereits vor Schnittblumen und Gestecken aller Art über. Sie hatte ihre Sinne dämpfen müssen, um den Geruch des Verfalls aushalten zu können, doch Patricia und Lady Milden schienen entzückt von den Blumengeschenken.
Es war jedoch nicht das schwach spürbare Vorhandensein so vieler toter Blumen, das ihre Nerven belastete. Schwache Strömungen psychischer Energie vibrierten leicht im Raum. Patricias Anbeter waren durchweg Mitglieder der Society. Das bedeutete, dass jeder mit einem gewissen Ausmaß an Talent ausgestattet war. Versammelte man all diese psychisch begabten Menschen in einem begrenzten Raum, würde auch ein Mensch mit minimaler Empfindsamkeit Spannung in der Atmosphäre spüren, dachte sie.
Mrs Shute und zwei ihrer Nichten, die heute wegen der erwarteten großen Gästeschar aushalfen, brachten ständig frischen Tee und einen nicht enden wollenden Vorrat an Sandwiches und Backwerk. Erstaunlich, welche Unmengen gesunde junge Männer verzehren können, dachte Lucinda.
Für diese Art von Besuchen junger Damen und Herren im heiratsfähigen Alter galten sehr strikte Anstandsregeln. Patricia saß behütet vor der Teekanne auf dem Sofa. Lucinda und Lady Milden nahmen die Plätze ihr zur Seite auf Sesseln ein, gerade so weit entfernt, dass die Verehrer sich Patricia nähern und mit ihr plaudern konnten.
Keiner der jungen Männer hätte mehr als zehn bis fünfzehn Minuten bleiben sollen, doch es war bereits eine halbe Stunde vergangen, ohne dass sich jemand empfohlen hätte, und mit jeder Minute trafen neue Gäste ein, die der Reihe nach antraten, um Patricia Komplimente zu machen. Nur wenige schafften es, unter den wachsamen Augen Lady Mildens ein längeres Gespräch mit der jungen Dame zu führen.
»Ich gebe ja zu, dass wir Mr Fletcher unmöglich als Diener ausgeben können«, sagte Lucinda ruhig. »Deshalb beschlossen Lady Milden und ich, ihn als Freund der Familie vorzustellen.«
»Aber das ist er nicht«, gab Patricia ungehalten zurück. »Als Diener, der er sein sollte, führt er Anordnungen nicht aus. Ich wollte, dass er draußen in der Diele bleibt, da er von dort aus einen guten Überblick hätte, aber nein, er bestand darauf, sich hier drinnen zu postieren.«
Lucinda musste zugeben, dass Edmund Fletcher ihren Vorstellungen von einem Leibwächter gar nicht entsprach. Man ging davon aus, dass Männer, die sich für diesen Beruf entschieden, von der Straße kamen. Mr Fletcher hingegen kleidete sich nicht nur wie ein Gentleman, er beherrschte auch die Umgangsformen, das Gehaben und, was am schwierigsten nachzuahmen war, die Sprache eines wohlerzogenen und gebildeten Mannes.
»Schenkt Mr Fletcher keine Beachtung«, riet Lady Milden ihnen unbekümmert. »Ich nehme an, dass er nur seine Verpflichtung wahrnehmen möchte.«
»Nicht nur, dass er keine Anweisungen entgegennimmt, er versucht sogar, selbst welche zu geben«, murmelte Patricia. »Er hatte doch tatsächlich die Dreistigkeit, mir zu sagen, ich solle nicht am Fenster stehen. Ist das zu fassen?«
Ein junger Mann mit gerötetem Gesicht und einer leeren Tasse in der Hand näherte sich zögernd. Patricia bedachte ihn mit einem nach Lucindas Meinung strahlenden Lächeln.
»Noch eine Tasse Tee, Mr Riverton?«, fragte Patricia.
»Ja, danke, Miss McDaniel.« Verwirrt hielt Riverton ihr seine Tasse hin. »Wenn ich Sie auf dem Ball richtig verstanden habe, gilt Ihr Interesse der Archäologie.«
»Allerdings, Sir.« Patricia schenkte ihm mit anmutigem Schwung Tee nach. »Sie ist meine Leidenschaft.«
»Ich bin auch leidenschaftlich an Archäologie interessiert«, gab Riverton angeregt zurück.
»Ach.« Patricia schenkte ihm noch ein interessiertes Lächeln.
Am anderen Ende des Raumes verdrehte Edmund Fletcher die Augen und verdrückte den Rest eines Sandwiches. Lucinda gewann den Eindruck, dass seine Reaktion für Patricia Anreiz zu noch sprühenderer Laune war.
Mrs Shute tauchte im Eingang auf. »Mr Sutton und Mr Dodson.«
Die Neuankömmlinge wurden in den Salon geführt. Lucinda glaubte ein Ansteigen des Energiepegels zu spüren, als die bereits Anwesenden die neue Konkurrenz abschätzten. Lady Milden schien überaus befriedigt mit dem Erreichten. Edmund Fletcher wirkte durch und durch gelangweilt.
Eine flüchtige Bewegung am Rande ihres Gesichtsfeldes ließ Lucinda wieder aus dem Fenster blicken. Caleb entstieg einer Droschke und kam die Vorderstufen herauf. Sekunden später hörte sie seine leise Stimme in der Diele.
Wieder erschien Mrs Shute. »Mr Jones.«
Caleb betrat den Salon wie eine Naturgewalt. Das Stimmengewirr verstummte jäh. Die jungen Männer gaben dem Neuankömmling den Weg frei und musterten ihn mit einer Mischung aus Wachsamkeit, Bewunderung und Neid wie junge Löwen einen ausgewachsenen Artgenossen. Das Energieniveau im Salon stieg um etliche Grad.
Caleb nickte Edmund Fletcher zu, der den stummen Gruß mit einer respektvollen Neigung des Kopfes erwiderte.
Ohne die anderen Männer in der Nähe zu beachten, blieb Caleb vor Lucinda, Patricia und Lady Milden stehen.
»Meine Damen«, sagte er. »Dürfte ich Miss Bromley kurz entführen? Ich möchte zu gern einen Rundgang in ihrem Gewächshaus machen.«
»Aber natürlich«, sagte Lady Milden, ehe Lucinda in eigener Sache ein Wort äußern konnte. »Geh nur. Patricia und ich kommen gut allein zurecht.«
Lucinda stand auf und ging mit Caleb zur Tür. Sie sagte kein Wort, bis sie draußen in der Diele standen.
»Einen Rundgang in meinem Gewächshaus, Mr Jones?«, fragte sie trocken.
»Ich hielt es für einen plausiblen Vorwand, um Sie loszueisen.«
»Das weiß ich zu schätzen, ich bin über die Atempause wirklich froh. Es schmerzt, diese eifrigen jungen Gentlemen zu beobachten, wie sie sich bemühen, höfliche Konversation mit Patricia zu machen.«
»Auf dem Heiratsmarkt scheint es ja gut voranzugehen«, bemerkte er.
»Ja. Lady Milden ist zuversichtlich, binnen einiger Tage eine Ehe zu stiften.«
»Und was ist mit Miss Patricia? Zeigt sie Interesse für einen der anwesenden jungen Männer?«
»Sie ist zu allen charmant und scheint ihre Gesellschaft zu genießen, doch die einzige starke Emotion, die ich wahrnehmen konnte, ist eine unbegreifliche Feindseligkeit gegen Mr Fletcher.«
»Warum hat sie eine Abneigung gegen ihn?«
»Ich fürchte, dass es zum Teil seine Schuld ist. Er gab klar zu erkennen, dass er von ihren Bewunderern und dem ganzen Projekt nicht viel hält. Ich glaube, er hält Patricias Suche nach einem Ehemann für zu nüchtern und geschäftsmäßig. So ließ er verlauten, dass er das Gefühl hätte, einer Auktion von Vollblütern bei Tattersall beizuwohnen.«
Caleb furchte die Stirn. »Merkwürdige Ansicht. Lady Mildens Beratung in Anspruch zu nehmen, erscheint mir als sehr effektive und logische Lösung des Problems.«
»Ja, Mr Jones, das hatten Sie schon klargemacht.« Sie ging ihm voraus.
»Wie geht es Ihrer Schulter heute?«
»Sie schmerzt noch ein wenig, doch das war zu erwarten. Shute geht es auch schon besser. Ich nehme an, Sie sind gekommen, weil Sie etwas Neues vom Fortgang Ihrer Ermittlungen zu berichten haben?«
»Nein.« Er öffnete die Glastüren und schob sie vor sich ins Gewächshaus. »Ich kam, da wir nach all dem Wirbel keine Gelegenheit zu einem Gespräch hatten.«
»Worüber?«
»Über den Trockenschuppen.«
Erschrocken drehte sie sich zu ihm um. Sie spürte, wie ihr heiße Röte ins Gesicht stieg, doch sie schaffte es, in kühlem und gefasstem Ton zu antworten - ganz erfahrene Frau, die sie dank der Vorkommnisse im Trockenschuppen nun tatsächlich war.
Sie räusperte sich leise. »Ich glaube kaum, dass ein Gespräch über dieses Thema nötig ist. Zwischen reifen Meschen geschehen diese Dinge.«
»Mir nicht. In meinem ganzen Leben hatte ich kein Erlebnis dieser Art in einem Trockenschuppen.« Er schloss die Tür mit Bedacht und sah sie mit beunruhigend stetigem Blick an. Sein hartes Gesicht war noch mürrischer als sonst. »Auch für Sie war es eine neue Erfahrung.«
»Nun ja, ich hatte nicht viele Gelegenheiten in dieser Richtung, Sir«, sagte sie wenig freundlich. »Was gibt es also zu bereden?«
»Unter normalen Umständen eine Heirat.«
»Heirat?!«
»Leider bin ich nicht in der Lage, Ihnen eine Ehe bieten zu können.«
Als sie spürte, wie sie schwankte, suchte sie automatisch am nächsten stabilen Objekt, einem Arbeitstisch, Halt und versuchte, gleichmäßig zu atmen.
»Ich versichere Ihnen, dass ich ein solches Angebot nie erwartete.« Sie vollführte eine, wie sie hoffte, lässige Handbewegung. »Es ist ja nicht so, dass ich eine unschuldige junge Dame wie Patricia bin und auf meinen Ruf achten müsste. Du lieber Himmel, mein Ruf wurde unwiderruflich geschädigt, als mein Verlobter starb.«
»Sie waren unschuldig«, sagte er. »Ich wusste es, ehe ich Sie in den Trockenschuppen brachte, ignorierte es aber lieber.«
Endlich verstand sie. Er gab ihr nicht die Schuld. Er klagte sich selbst eines Verbrechens an.
Sie straffte ihre Schultern. »Ich bin siebenundzwanzig, Sir. Sie können mir glauben, wenn ich sage, dass die Freuden der Unschuld begrenzt sind. Ab einem gewissen Punkt ist Unwissenheit kein Segen mehr. Ich fand die Vorkommnisse der letzten Nacht sehr erhellend und … und belehrend.«
»Belehrend?«, wiederholte er neutral.
»Und erhellend.«
»Nun, ich bin erleichtert, dass Sie nicht das Gefühl haben, unsere Zweisamkeit wäre vergeudete Zeit gewesen.«
Sie blinzelte. Sein Ton hatte sich nicht verändert, doch etwas sagte ihr, dass sie ihn gekränkt hatte. Sehr gut. Sollte er beleidigt sein. Im Moment empfand sie ihm gegenüber nicht das geringste Mitgefühl. Sie griff nach einer Gartenschere und machte sich daran, von einer Orchidee abgestorbene Blüten abzuschneiden.
»Vergessen Sie die Episode, Mr Jones«, riet sie ihm.
»Da gibt es ein Problem. Ich kann an nichts anderes mehr denken.«
Sie war so verblüfft, dass sie fast eine frische Blüte abgeknipst hätte. Ihr Puls geriet ins Schleudern. Behutsam legte sie die Schere aus der Hand.
»Was sagen Sie da?«, fragte sie.
Er fuhr sich durchs Haar. »Mir wurde klar, dass die Erinnerung an die vergangene Nacht mich immer begleiten wird.«
Eine Entdeckung, die ihn nicht zu begeistern schien.
»Es tut mir leid, dass Sie das als Problem betrachten, Mr Jones.« Jetzt klang sie richtig gereizt. »Vielleicht hätten Sie diese Möglichkeit ins Auge fassen sollen, ehe sie den Spaziergang zum Schuppen vorschlugen.«
»Ich sagte nicht, dass die Erinnerungen das Problem wären. Aber es wird eine Weile dauern, bis ich mich an sie gewöhnt habe.« Er runzelte die Stirn. »Ich habe es immer geschafft, störende Gedanken zu verdrängen, wenn ich mich konzentrieren wollte.«
»Und jetzt bin ich ein störender Gedanke?« Sie verschränkte die Arme. »Mr Jones, vielleicht interessiert es Sie, dass dies nicht die Sorte Kompliment ist, die eine Frau nach einer intimen Begegnung mit einem Mann zu schätzen weiß.«
»Ich gehe nicht gut mit der Situation um, oder?«
»Nein«, sagte sie gepresst. »Das tun Sie nicht.«
»Das rührt zweifellos daher, dass ich das Thema Ehe zu vermeiden suche.«
Sie erstarrte. »Sie waren es, der das Thema anschnitt, nicht ich.«
»Lucinda, Sie dürfen mit Recht einen Heiratsantrag erwarten. Ich halte mich für einen Ehrenmann und sollte Ihnen diesen Antrag machen, doch ich bedauere sagen zu müssen, dass ich es nicht kann.« Er ließ eine Pause eintreten. »Nun ja, noch nicht jedenfalls. Vielleicht niemals.«
Schmerz vermischt mit Empörung drückte ihr das Herz so zusammen, dass sie kaum atmen konnte. Es ist ja nicht so, dass ich ihn heiraten möchte, dachte sie. Doch es wäre nett gewesen zu wissen, dass das intime Zwischenspiel ihm mehr bedeutete als ein Fleck auf seiner Ehre und ein paar störende Gedanken.
Sie nahm zu ihrem Stolz Zuflucht.
»Sehen Sie sich um, Caleb Jones.« Ihre ausholende Handbewegung umfasste das Gewächshaus und das große Wohnhaus, das sich daran anschloss. »Sieht man denn nicht, dass ich auf keinen Mann angewiesen bin? Ich habe auf mich allein gestellt einen Skandal überlebt. Ich verwalte das Erbe, das mir meine Eltern hinterließen, sehr geschickt und führe ein komfortables Leben. Ich fröne meiner Leidenschaft für Botanik, und erlebe große Befriedigung, wenn ich den Menschen in der Guppy Lane helfen kann. Das ist mehr als genug, um das Leben einer Frau randvoll zu machen. Ich versichere Ihnen, dass für eine Frau in meiner Situation eine Affäre viel günstiger ist als eine Ehe.«
»Ja, das sehe ich ein.« Seine dunklen Brauen bildeten eine markante Linie über seinen Augen. »Mir ist klar, dass ich die meisten, wenn nicht gar alle Ihre Anforderungen an einen Ehemann nicht erfüllen kann.«
»Das ist nicht der Punkt, Sir.«
»Hypothetisch gesprochen - was müsste ein Mann in meiner Lage Ihnen bieten, um Sie zu einer Ehe zu bewegen?«
Dieser kalte, intensive Blick wurde ihr immer vertrauter. Caleb hatte wieder ein Geheimnis erspürt, das es zu lösen galt.
»Er müsste mir Liebe bieten, Sir.« Sie reckte ihr Kinn. »Und ich müsste seine Gefühle erwidern.«
»Ich verstehe.« Er wandte sich ein wenig ab, als wäre bei ihm jähes Interesse für die merkwürdige Welwitschia mirabilis erwacht, die in der Nähe stand. »Ich fand immer, dass Liebe sich unmöglich auf klare und sinnvolle Weise messen oder beschreiben lassen kann.«
Typisch, diese logische, wissenschaftliche Denkweise. Entzog sich etwas einer Definition, war es einfacher, man tat so, als existiere es gar nicht. Fast tat er ihr leid.
Fast.
»Ja.« Sie lächelte kalt. »Liebe lässt sich mit Worten nicht definieren. So wie die paranormalen Farben der Blumen, die ich sehe, wenn ich meine Sinne öffne, sich nicht beschreiben lassen.«
Er sah sie über die Schulter hinweg an. »Wie kann man in diesem Fall wissen, dass man sie erlebt?«
Sie überlegte. Sie konnte ihm ihre eigenen Gefühle nicht anvertrauen. Er war im Grunde ein anständiger Mensch, dem sein Ehrgefühl jetzt zu schaffen machte. Sie wollte die Last seiner Schuld nicht noch vergrößern. Schließlich war sie für das Geschehene ebenso verantwortlich wie er. Sie bereute dieses unglaubliche Erlebnis nicht, obwohl sie nun den Preis dafür bezahlte.
Sie löste ihre Arme, griff nach der Gießkanne und begoss eifrig einen Frauenfarn. »Lady Milden sagt, es sei eine intuitive Sache. Man empfindet, dass eine psychische Verbindung besteht.« So wie ich bei dir auf dem Blütenbett.
Er kniff die Augen zusammen. »Fühlten Sie diese Verbindung mit Ihrem Verlobten?«
Völlig aus dem Konzept gebracht, stellte sie die Gießkanne ziemlich energisch ab. Sie öffnete ihre Sinne weit und bezog Trost aus der belebenden Energie des Gewächshauses.
»Nein«, sagte sie, schon gefasster. »Aber er schien für mich in jeder Hinsicht ideal zu sein. Er erfüllte alle Anforderungen auf meiner Liste. Jede einzelne. Ich war sicher, dass die Liebe zwischen uns wachsen würde. Wie auch nicht? Das wird in allen Ratgebern für Eheglück verheißen. Wähle deinen Ehemann mit Bedacht, und die Liebe wird sich einstellen.«
»Du lieber Gott. Es gibt Bücher zu diesem Thema?«
Unter anderen Umständen hätte sie sein Erstaunen amüsant gefunden.
»Hunderte«, sagte sie aufgeräumt. »Nicht zu reden von der Unmenge von Artikeln in Frauenzeitschriften.«
»Verdammt, das wusste ich nicht. Ich habe noch nie von solchen Büchern und Artikeln für Männer gehört.«
»Sehr wahrscheinlich gibt es keine, weil Männer sie nicht lesen würden«, sage sie. »Warum auch? Eine Ehe stellt für sie ein weitaus geringeres Risiko dar als für Frauen. Männer erfreuen sich so vieler Rechte und Freiheiten. Sie müssen nicht befürchten, von der Gesellschaft geächtet zu werden, falls sie in einer kompromittierenden Situation ertappt werden. Sie können reisen, wann und wohin sie wollen, ohne dass man sich über sie mokiert. Sie können unter vielen Berufen wählen. Eine unglückliche Ehe kann mit einer teuren Geliebten kompensiert werden. Und wenn ein Mann sich entschließt, seine Frau zu verlassen, kann er darauf bauen, dass ihn die Scheidungsgesetze in jeder Hinsicht begünstigen.«
»Den Vortrag können Sie sich sparen, Lucinda«, sagte Caleb trocken. »Sie können sicher sein, dass jeder Mann in der Familie Jones ihn oft genug von den Jones-Frauen zu hören bekommen hat.«
Sie errötete. »Ja, natürlich. Verzeihen Sie. Ich weiß, dass Sie sehr moderne Ansichten über die Rechte der Frauen haben.« Wahrscheinlich einer der Gründe, warum ich mich in dich verliebte.
Er runzelte die Stirn. »Sie sagten, Ihr Verlobter erfüllte jede Bedingung auf Ihrer Liste?«
Sie seufzte. »Jetzt haben Sie wieder diesen Blick.«
»Welchen Blick?«
»Jenen der mir verrät, dass Sie wieder einem Geheimnis auf der Spur sind. Als Antwort auf Ihre Frage, ja. Mr Glasson erschien mir perfekt. Rückblickend ist es erstaunlich, wie perfekt er war. Erst als wir verlobt waren, erkannte ich die Wahrheit. Er erfüllte nur eine einzige Bedingung.«
»Welche?«
»Er besaß mit Sicherheit eine Menge Talent«, sagte sie grimmig. »Ich spürte es in seiner Nähe.«
»Botanisches Talent?«
»Nein, obwohl er einige Kenntnisse auf diesem Gebiet besaß. Schließlich entdeckte ich, dass fast alles an ihm falsch war. Aber irgendwie schaffte er es, nicht nur mich, sondern auch meinen Vater zu überzeugen, dass er für mich einen idealen Ehemann abgeben würde.«
»Anders gesagt, er hatte ein Talent für Betrug.«
»Ja, es war wirklich erstaunlich.« Sie schüttelte den Kopf, noch immer verblüfft darüber, wie sie sich von Ian Glasson hatte hinters Licht führen lassen. »Sogar Papa ließ sich von ihm täuschen, obwohl mein Vater ein guter Menschenkenner war.«
Calebs Miene wurde noch nachdenklicher. »Das hört sich an, als wäre Glasson ein wahres Chamäleon gewesen.«
Sie blinzelte. »Wie bitte?«
»In meinen Mußestunden erarbeite ich eine Klassifizierung verschiedener Typen starker Talente. Die Society benötigt eine brauchbarere Methode zur Einteilung und Beschreibung der Art und Weise, wie starke paranormale Fähigkeiten sich manifestieren.«
»Sie versetzen mich in Erstaunen, Sir«, sagte sie amüsiert. »Nie hätte ich gedacht, dass Sie freie Zeit haben.«
Von ihrem neuen Thema abgelenkt, ging er nicht darauf ein. »Bei der großen Mehrheit der Menschen mit dieser Gabe reicht die psychische Fähigkeit nicht über das Stadium einer vagen, allgemeinen Empfindsamkeit hinaus.«
»Intuition.«
»Ja. Mein Studium der historischen Berichte der Society und meine Beobachtungen deuten darauf hin, dass ein sehr starkes Talent fast immer hoch spezialisiert ist.«
Nun regte sich ihre Neugierde. »So wie meine Fähigkeit, Pflanzenenergie zu analysieren?«
»Genau. Oder nehmen wir das Talent für Hypnose oder das Deuten einer Aura. Chamäleons wiederum haben ein Talent, nicht nur zu erspüren, was ein anderer möchte, sie schaffen für kurze Zeit auch die Illusion, diese Sehnsüchte befriedigen zu können.«
Sie runzelte die Stirn. »Warum diese zeitmäßige Einschränkung?«
»Man braucht viel Energie, um die Illusion aufrechtzuerhalten, zumal, wenn das angepeilte Opfer intelligent und einigermaßen empfindsam ist. Früher oder später zerbricht das Phantasiebild und die wahre Natur des Chamäleons tritt zutage.«
»Das erklärt vermutlich, warum Mr Glasson sich nur selten in meiner Gesellschaft befand.« Sie zögerte. »Obwohl wir hin und wieder ins Theater oder zu einem Vortrag gingen und bei diesen Gelegenheiten mehrere Stunden zusammen waren.«
»Es waren Situationen, in denen Ihre Aufmerksamkeit sich auf andere Dinge richtete, während dieser Zeit musste er nicht viel Energie aufwenden.« Caleb sah sie nachdenklich an. »Was weckte in Ihnen den Verdacht, dass er nicht der war, für den er sich ausgab?«
Sie errötete und wendete sich halb ab. »Sie müssen wissen, dass ich am Anfang unserer Beziehung von seiner Zurückhaltung sehr beeindruckt war.«
»Zurückhaltung?« Caleb schien verblüfft.
Caleb war zwar brillant, konnte zuweilen aber erstaunlich begriffsstutzig sein.
»Mr Glasson benahm sich immer wie ein perfekter Gentleman«, führte sie weiter aus.
»Ich wüsste nicht, wie das Ihren Argwohn hätte wecken sollen.«
Sie drehte sich auf dem Absatz zu ihm um. »Um Himmels willen, Sir, Ian Glasson küsste mich, als wäre ich seine Schwester oder seine altjüngferliche Tante. Keusch und leidenschaftslos wäre noch untertrieben. Muss ich noch deutlicher werden?«
Caleb war sprachlos, als ihm ein Licht aufging. »Allmächtiger, er küsste Sie, als wären sie seine Tante
»Sie können davon ausgehen, dass er sich geradezu übertrieben an die Anstandsregeln hielt.« Sie ballte die Hand, an der sie den Ring trug, zu einer kleinen Faust. »Bis zu dem Nachmittag, als er mich im Garten der Carstairs Botanical Society vergewaltigen wollte.«
Suesses Gift Der Liebe
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