33. KAPITEL
In der Umgebung des Red Dog rollten keine
Mietkutschen oder Droschken auf der Suche nach Fahrgästen durch die
Straßen. Nicht der dichte Nebel war es, der sie davon abhielt,
sondern vielmehr die Tatsache, dass nur wenige Bewohner dieser
spärlich erhellten Gegend sich den Luxus einer Wagenfahrt leisten
konnten und die Kutscher dies sehr wohl wussten.
Caleb ging zu der Ecke, an der eine einzelne
Gaslaterne im Nebel brannte. Das grelle Licht reichte aber nicht
weit in den Nebel hinein. Seine Intuition meldete ihm, dass er
verfolgt wurde, ehe er Schritte hinter sich hörte. Die Tür der
Kneipe hatte sich nicht wieder geöffnet. Wer immer hier in der
Dunkelheit wartete, hatte den Eingang von der Straßenseite
gegenüber beobachtet und auf ihn gewartet.
Ich werde verfolgt, seit ich den Ballsaal
verließ, dachte er. Das erklärte das irritierende Gefühl, das er in
der vergangenen Stunde verspürt hatte.
Hitze und Energie durchströmten ihn, dasselbe
erregende Gefühl, das er erlebte, wenn vormals dunkle Bereiche des
Irrgartens plötzlich erhellt waren. Es war immerhin möglich, dass
sein Verfolger ein gewöhnlicher Straßenräuber auf der Suche nach
einem lohnenden Opfer war, doch seine Gabe verriet ihm, dass es
anders war. Er schätzte die Wahrscheinlichkeit,
Perretts Dämon zu begegnen, auf neunundneunzig Prozent.
Stetig und zielstrebig ausschreitend gab er sich
so, als hätte er den Mann hinter sich nicht wahrgenommen. Die
Schritte kamen näher. Es hatte keinen Sinn, sich umzudrehen und
einen Blick auf den Verfolger zu werfen. Nur ein echter, mit
psychischer Nachtsicht ausgestatteter Jäger hätte im Nebel mehr als
einen dunklen Schatten auszumachen vermocht.
Er zog einen Handschuh aus, steckte die Hand in
die Manteltasche und zog die Pistole hervor. Die Waffe an sein Bein
drückend, damit sie unsichtbar blieb, trat er in den erhellten
Nebel um die Straßenlaterne.
Der schockierende Angstschwall kam aus dem
Nichts. Einen Moment stockte sein Atem, seine Sinne zerstoben,
seine Nerven lagen blank. Es ertönte ein scharfes metallisches
Geräusch. Er merkte undeutlich, dass er die Waffe fallen gelassen
hatte.
Taumelnd blieb er stehen, starr vor namenloser
Angst, die, wie er in einem winzigen Winkel seines Gehirns wusste,
nicht auf Logik oder Vernunft gründete. Sein Puls hämmerte. Seine
Lungen drohten zu bersten. Er konnte kaum atmen.
Und plötzlich stürzte er in seinen ultimativen
Albtraum und schwankte am Rand des Abgrunds, der das Chaos war.
Schiere Panik loderte durch seine Venen.
Als Reaktion auf den Angriff steigerte er
instinktiv alle seine Sinnesempfindungen. Seine Begabung flammte
auf. Das Gefühl des drohenden Chaos ging leicht zurück, genug
jedenfalls, dass er ein paar Gewissheiten aus dem Sumpf
unbegreiflicher Dunkelheit pflücken konnte, die ihn zu verschlingen
drohte.
Jetzt macht er es mit dir.
So tötete er Sharpy und die Daykin. Er versetzt seine Opfer in
große Panik. Du musst dich wehren, sonst wirst du im Chaos
ertrinken.
So wollte er die Welt nicht verlassen, als Opfer
eines Mahlstroms völlig zufälliger, bedeutungsloser Energie. Er
würde die Muster der Klarheit, des Verstandes und der Stabilität
finden. Das war seine Gabe, und er würde sie nutzen, damit das
Zentrum standhielt, auch wenn er im Laufe dieses Prozesses sein
Leben lassen musste.
Es kostete ihn jede Faser an Willenskraft, die
er besaß, doch er brachte es fertig, sich umzudrehen und dem Mörder
entgegenzutreten. Der Vorgang schien eine Ewigkeit zu dauern, da er
sich ganz fest konzentrieren musste, damit seine Muskeln
gehorchten.
Perretts Dämon nahm Gestalt an, als er sich aus
dem Nebel löste und ins milchige Licht trat. In seinen Augen
loderten keine Flammen, weder lange Klauen noch Fledermausflügel
waren zu sehen, und doch zweifelte Caleb nicht daran, dass er sich
einem Ungeheuer gegenübersah.
»Ich bin erstaunt, Sie heute hier anzutreffen,
Jones.« Die Kreatur kam in ein paar Fuß Entfernung zum Stehen. »In
dieser Umgebung würde man einen Gentleman in Ihrer Position nicht
vermuten. Was führt Sie hierher? Ein pikantes Verlangen, das in den
feineren Gegenden der Stadt keine Befriedigung fände? Eine
bevorzugte Opiumhöhle?«
Caleb sagte nichts. Er war nicht sicher, ob er
auch nur ein Wort herausbringen konnte. Die sengende Energie, die
seine Sinne angriff, schien ihn zu lähmen. Aber seine Gabe
reagierte auf seinen Willen. Tief in seinem Bewusstsein entstand
ein Irrgarten, schärfer, klarer, verständlicher. Hier leuchtete
eine
Kristallwand, dort ein Boden. Nun galt es einen Weg zu finden, die
erhellten Teile zu verbinden.
»Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle«, sagte
der Dämon. Mit einer lässigen Geste streifte er einen Handschuh ab,
griff in seine Manteltasche und förderte im nebligen Licht einen
golden schimmernden Gegenstand zutage. »Ich bin Allister
Norcross.«
Er öffnete die Schnupftabakdose und nahm eine
Prise des puderähnlichen Inhalts. Er führte die Mischung an die
Nase und atmete sie tief ein.
Gleich darauf versengte ein neuerlich heftiger
Panikschwall Calebs Sinne so stark, dass er bebend vor sinnloser
Angst fast auf dem Pflaster zusammengebrochen wäre. »Ach, die neue
Variante der Rezeptur wirkt tatsächlich sehr gut«, sagte Norcross.
»Hulsey hatte recht.«
Im Inneren des Irrgartens leuchteten weitere
Korridore auf. Caleb bezwang die Flutwoge der Angst und
konzentrierte sich auf das Schema. Er konnte es schaffen. Er
wusste, wie er seine Emotionen im Zaum halten konnte, während er
seine Gabe einsetzte. Er hatte den größten Teil seines Lebens damit
zugebracht, den Kern wilder, gefährlicher Energie im Zaum zu
halten, die Quelle seiner psychischen Kraft war.
»Ich muss sagen, dass Sie mich enttäuschen,
Sir.« Norcross klappte die Dose zu und steckte sie wieder in die
Tasche. »Von einem Mitglied der legendären Familie Jones hatte ich
mehr erwartet.«
»Was wollen Sie von mir?«, brachte Caleb
hervor.
»Sie haben also Ihre Sprache wiedergefunden?«
Norcross war erfreut. »Sehr gut. Jetzt bin ich ein wenig
beeindruckt.
Nur wenige Menschen bringen einen zusammenhängenden Satz heraus,
während ich mein Talent spielen lasse.«
Caleb sagte nichts.
»Ich werde Ihnen sagen, was ich von Ihnen will,
Caleb Jones.« Erregung färbte Norcross’ Ton. »Ich möchte zuschauen,
wenn Sie vor Angst verrückt werden, und dann möchte ich sehen, wie
Sie vor Angst sterben.«
»Warum?«
»Weil ich dieses Vergnügen liebe. Falls es Ihnen
ein Trost ist - Sie werden ein passendes Testobjekt für die neueste
Version der Rezeptur abgeben. Da Hulsey sie mir erst heute brachte,
war noch keine Gelegenheit, damit zu experimentieren. Ich werde das
einzige Publikum sein. Leider erkennt und würdigt nur ein ganz
kleiner Kreis, was meine Geisteskraft vermag.«
»Einer der Kreise innerhalb des Ordens der
Smaragdtafel.«
Sekundenlang ließ der Angstdruck nach. Caleb war
klar, dass diese Feststellung Norcross dermaßen erstaunt hatte,
dass er kurz aus dem Konzept gebracht war. Angst auf so hohem
Niveau zu erzeugen, erforderte sehr viel Energie und intensive
Konzentration.
Eine Sekunde später aber schlug die nächste
Panikwelle zu. Obschon darauf vorbereitet spürte Caleb, dass das
Chaos näher rückte.
»Sie haben also etwas über den Orden erfahren«,
sagte Norcross. »Wahrscheinlich mehr, als gewissen Leuten klar ist.
Sehr gut, Mr Jones. Um Ihre Frage zu beantworten, ich gehöre dem
Siebenten Kreis der Macht an. Aber das wird sich ändern. Die
Angehörigen dieses Kreises werden bald in einen viel höheren Kreis
aufsteigen.«
»Mein Tod ist der Preis für den Aufstieg?«
Norcross lachte. »Nein, Jones, Ihr Tod ist eine
Notwendigkeit, da Sie eine Bedrohung für meinen Kreis darstellen.
Wir haben keine andere Wahl und müssen Sie aus dem Weg räumen, da
sich zeigte, dass Sie Hulseys Spur aufgenommen haben. Ich kann
nicht zulassen, dass Sie ihn finden. Das würde alles ruinieren.
Wenn Sie weg sind, werde ich mich um Miss Bromley kümmern. Damit
wären alle störenden Kleinigkeiten bereinigt.«
Und damit leuchtete ein Dutzend weiterer Gänge
in verschiedenen Dimensionen innerhalb des Irrgartens auf. Eine
neue Art Angst ließ ihn erschauern. Es ging nun nicht mehr darum,
bis zum letzten Atemzug den Wahnsinn abzuwehren. Er musste diese
Begegnung überleben, um Lucinda zu schützen, eine Erkenntnis, die
es ihm gestattete, sich mit erneuter Intensität zu
konzentrieren.
»Miss Bromley ist für Sie keine Bedrohung«,
sagte er.
»Mag ja sein, aber wir können kein weiteres
Risiko eingehen. Öffentlichkeit und Presse werden nicht weiter
überrascht sein, wenn durchsickert, dass sie auch Sie vergiftete -
wie schon ihren Verlobten. Dann wird sie Selbstmord begehen wie ihr
Vater. Alles ganz sauber, meinen Sie nicht auch?«
»Lucinda weiß gar nichts über Ihren verdammten
Kreis.«
»Sie vor allem müssten doch die Notwendigkeit
einer gründlichen Vorgehensweise verstehen. Also, es war ein
amüsantes Gespräch. Jetzt ist es beendet. Leben Sie wohl, Mr
Jones.«
Chaos stieg aus dem Abgrund hoch, eine dunkle
Welle unkontrollierter Kraft. Caleb suchte in dem am hellsten
erleuchteten Bereich des Irrgartens Zuflucht, in jener Dimension,
wo die einzige, die allerwichtigste Wahrheit mit Sonnenstärke
leuchtete. Er musste überleben, weil er das Einzige war, was
zwischen dem Dämon und Lucinda stand. Wenn man die Antworten einmal
sah, waren sie immer so erstaunlich einfach.
Die wirbelnde Dunkelheit toste über und um das
psychische Konstrukt in seinem Kopf. Caleb beobachtete die Szene
aus der Sicherheit der kristallinen Struktur heraus. Eine
merkwürdige Heiterkeit erfasste ihn. Es kam nicht oft vor, dass man
die Chance bekam, die rohe Kraft des Chaos zu beobachten. Er war
gefesselt.
Er glaubte einen Mann irgendwo in der Nacht
schreien zu hören, achtete aber nicht weiter darauf, da seine
Aufmerksamkeit auf die wild zirkulierenden Strömungen fixiert war.
Er steigerte seine Konzentration, überzeugt, ein ganz schwaches
Aufglimmen eines Musters im Herzen des Energiesturmes zu
erkennen.
Da wusste er, dass alle Antworten vorhanden
waren und auf ihn warteten. Er erfasste auch mit absoluter
Gewissheit, dass kein Mensch so große Wahrheiten begreifen und
dennoch bei Verstand bleiben konnte. Ein kurzer Blick oder zwei
würden ausreichen, um in ihm bis ans Ende seiner Tage Angst zu
hinterlassen.
»Aufhören,
verdammt.«
Das Geschrei, das die Worte begleitete, lenkte
ihn ab. Caleb versuchte, sie zu ignorieren. Wer hätte es sich
träumen lassen, dass Chaos so blendende Schönheit barg? Er würde es
nie analysieren, geschweige denn beherrschen können. Aber gewiss
stand es ihm zu, die tobende Kraft der feurigen Energie
auszukosten, die seine Gabe nährte.
»Mein Herz. Mein Herz.
Das können Sie nicht tun. Aufhören.«
Das letzte Wort endete wieder mit einem
Schreckensschrei.
Er konnte die Ablenkung nicht mehr ignorieren.
Mit Norcross musste etwas geschehen. Caleb wendete den Blick von
den hypnotischen Chaosströmungen ab.
Norcross hatte eine Waffe gezogen, die wild
wackelte, obwohl er sie mit beiden Händen festhielt. Sein Gesicht
war eine verzerrte Maske der Angst.
»Was machen Sie mit mir?«, keuchte er. »Ich
explodiere. Sie bringen mich um.« Er versuchte mit der Pistole auf
Calebs Brust zu zielen. »Sie sollten sterben, Sie Schweinehund,
nicht ich.«
Norcross wollte Lucinda etwas antun. Es gab nur
eines.
Caleb packte eine Hand voll Chaos und zermalmte
Norcross, als würde er ein lästiges Insekt zerdrücken.
Allister Norcross öffnete den Mund ein letztes
Mal, doch kein Schrei kam heraus. Er brach auf dem Pflaster
zusammen und blieb reglos liegen.