29. KAPITEL
Jähes Begreifen erhellte Lucindas Miene. Hinter
ihren Brillengläsern blitzten ihre blauen Augen. »Du glaubst, das
kleine Notizbuch kann töten?«
»Ich glaube, dass es dies schon getan hat. Das
Opfer war mein Urgroßvater Erasmus Jones.«
Er legte das Buch in die Stahlkassette zurück
und griff zur Brandykaraffe. »Du willst die Wahrheit wissen, sagst
du?« Er ließ Brandy in ein Glas rinnen. »Setze dich. Du sollst sie
hören.«
Sie sank langsam in einen der Sessel und sah
voller Unbehagen zu, als er das Glas mit einem Schluck zur Hälfe
leerte. Dann setzte er sich und nahm das Notizbuch wieder aus der
Stahlkassette.
»Zunächst die Details unseres raffinierten
kleinen Mordfalles«, sagte er. Er hielt das Büchlein mit beiden
Händen und betrachtete den Ledereinband. »Das Motiv wurde mir klar,
als ich den Code entziffert hatte, den Erasmus in diesem Büchlein
gebrauchte. Es beginnt mit einem Liebesdreieck.« Er sah sie mit
höhnischem Lächeln an. »Ich sagte bereits, dass ich kein Romantiker
bin.«
»Ja, das sagtest du ein-oder zweimal.«
»Ich bin auch nicht sicher, ob Erasmus Jones an
die Liebe glaubte, doch er kannte Leidenschaft und wollte eine
junge
Frau vor einer Ehehölle retten. Sie hieß Isabel Harkin und wurde
von ihrem Vater in eine Ehe mit dem Schurken in unserem Drama
gezwungen.«
»Du meinst Barnabus Selbourne?«
»Ja. Selbourne war für seine Anlage zur
Gewalttätigkeit bekannt. Er war bereits dreifacher Witwer, ehe er
Isabels Vater einen fürstlichen Betrag für ihre Hand bot. Jede
seiner drei Frauen war unerwartet nach sehr kurzer und angeblich
sehr unglücklicher Ehe verstorben.«
»Selbourne brachte sie um?«, fragte sie
leise.
»Erasmus war dieser Meinung. Er war wie gesagt
entschlossen, Isabel vor diesem Schicksal zu bewahren. Sie brannten
durch, und als sie wieder auftauchten, war Isabels Vater außer
sich, doch sein Zorn war nichts im Vergleich mit jenem Selbournes.
Mein Urgroßvater formulierte in seinem Tagebuch, Selbourne hätte
sich um seine ihm zustehende Beute betrogen gefühlt.«
»Was für eine grässliche Ausdrucksweise.«
»Erasmus fiel auf, dass Selbournes verstorbene
Gattinnen äußerlich frappierende Ähnlichkeit miteinander und mit
Isabel aufwiesen. Dieselbe Haar-und Augenfarbe, Figur, Alter und so
weiter.«
»Mit anderen Worten, Selbourne war besessen von
Frauen, die aussahen wie Isabel.«
»Im Jahr nach der Hochzeit gab es zwei
Mordversuche an meinem Urgroßvater. Er argwöhnte, dass Selbourne
dahintersteckte, konnte es aber nicht beweisen. Dann versuchte
Selbourne, Isabel zu töten. An diesem Punkt entschied Erasmus, dass
er keine andere Wahl hatte, als Selbourne umzubringen.«
»Und welche Vorgangsweise plante er?«, fragte
Lucinda fasziniert.
»Die althergebrachte. Pistolen im Morgengrauen.
Selbourne wurde ernsthaft verwundet und starb zwei Tage darauf,
doch er hatte bereits für den Fall, dass er die Begegnung nicht
überleben würde, für Vergeltung gesorgt.«
»Was geschah?«
»Wenige Wochen nach dem Duell fiel meinem
Urgroßvater dieses Bändchen in die Hände. Gerüchte wollten wissen,
dass es sich um ein verlorenes Notizbuch von niemand anderem als
Sylvester Jones handelte. Natürlich erwachte in Erasmus die
Neugierde. Er machte sich unverzüglich daran, den Code zu
knacken.«
»Schaffte er es?«
Caleb legte das Buch auf den Tisch. »Nach
wochenlanger Arbeit konnte er gewisse Teile übertragen, doch
ergaben sie keinen Sinn. Daraus schloss er, dass sich im ersten
Code ein zweiter verbergen müsse, und machte sich daran, das Schema
zu finden. In den folgenden Monaten steigerte sich das
Entschlüsseln des Notizbuches zur Besessenheit. Es dauerte nicht
lange, und er verlor den Verstand und kam sodann ums Leben.«
»Was stieß ihm zu?«
»Er setzte sein eigenes Labor in Brand, sprang
aus dem Fenster und brach sich das Genick.« Caleb lehnte den Kopf
an die Sessellehne und schloss die Augen. »Aber nicht, ehe er dafür
gesorgt hatte, dass sein Tagebuch und das Notizbuch für jene
erhalten blieben, die nach ihm kommen und seine Gabe besitzen
würden.«
Lucinda fröstelte. »Was für eine
Tragödie.«
Caleb öffnete die Augen und trank von seinem
Brandy. Dann stellte er sein Glas mit übertriebener Genauigkeit
hin. »Das war die Geburt einer Familienlegende.«
»Die Männer der Familie Jones, die mit deinem
Talent geboren werden, sind dazu verdammt, von ihren psychischen
Fähigkeiten in den Wahnsinn getrieben zu werden? Besagt dies die
Legende?«
»Ja.«
»Glaubst du wirklich, dass etwas an dem
Notizbuch dran ist, das deinem Urgroßvater den Verstand
raubte?«
»Ja.«
»Glaubst du, dass das Notizbuch von Sylvester
stammt?«
»Nein. Es ist ganz sicher eine von Barnabus
Selbourne angefertigte Fälschung.«
»Wie kann ein Buch einen Menschen verrückt
machen?«
»Ich glaube, es hängt mit dem Code zusammen.«
Caleb drehte das Brandyglas in seiner Hand. »Das Entziffern wurde
bei ihm zwanghaft, bis er immer tiefer in dem Wirrwarr versank, auf
der Suche nach einem Schlüssel, den er nie finden sollte. Er
wusste, dass er verrückt wurde, aber irgendwann setzte sich in ihm
die Überzeugung fest, dass das Geheimnis, seinem Los zu entgehen,
in dem verdammten Buch zu finden wäre. Am Ende war er
verloren.«
Sie beugte sich vor und legte eine Hand auf
seinen Schenkel. Die warme Berührung übte eine wundersam
beruhigende Wirkung auf seine Sinne aus.
»Du schilderst es so, als hätte das Buch auf
deinen Urgroßvater eine Art von Zauber ausgeübt«, sagte sie leise.
»Du glaubst doch nicht an Zauberei, Caleb.«
»Nein, doch ich glaube an die Macht der
Besessenheit.
Gott stehe mir bei, Lucinda, ich spüre seit Monaten, dass ich in
das Chaos im Inneren dieses abscheulichen Buches gesogen
werde.«
»Verbrenn es«, sagte sie mit Nachdruck.
»Wenn ich es nur könnte. Tag und Nacht steht mir
diese Möglichkeit vor Augen. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich
Feuer im Kamin machte und versuchte, das Notizbuch in die Flammen
zu werfen. Ich war nicht fähig, es zu tun.«
»Was hält dich davon ab?«, fragte sie.
Er sah sie an. »Das, was auch Erasmus davon
abhielt. Ich weiß, dass es bizarr und irrational klingt, doch meine
Gabe sagte mir, dass ich das Buch nicht vernichten darf, ehe ich
seine Geheimnisse nicht entschlüsselt habe.«
»Warum nicht?«
»Aus einem unerklärlichen Grund bin ich sicher,
dass das Notizbuch, das mein Tod sein kann, auch meine einzige
Hoffnung ist, dem Fluch zu entrinnen.«
»Hmm.«
Er leerte sein Glas und stellte es auf den
Tisch. »Ich weiß nicht recht, welche Reaktion ich von dir
erwartete, aber Hmm ganz sicher
nicht.«
Er fühlte sich sonderbar zerknirscht. Auf
Mitleid konnte er gern verzichten, aber ein wenig mehr Mitgefühl
hätte sie zeigen können. Ehe er seine Reaktion mit ihrem kleinen
Hmm in Einklang bringen konnte, griff sie
nach dem Notizbuch und schlug es auf.
»Sehr schön, sehr schön«, sagte sie, langsam
umblätternd. »Wie interessant.«
Er umfasste die Armlehnen seines Sessels und
stand auf. Jetzt brauchte er noch einen Brandy.
»Nun, es freut mich, dass du das verdammte Ding
interessant findest«, sagte er. Er griff
nach der Karaffe und schenkte sich noch ein Glas voll. »Zumal ich
bezweifle, ob du auch nur die Titelseite lesen kannst. Sie ist in
dem gleichen verdammten Code abgefasst, den Selbourne im ganzen
Notizbuch verwendet hat.«
»Lesen kann ich es nicht.« Sie blätterte ruhig
um. »Aber ich kann dir sagen, dass es dich ganz gewiss nicht in den
Wahnsinn treiben wird.«
Fast hätte er die Karaffe fallen lassen und
konnte sie nur reglos anstarren.
»Woher willst du das wissen?«
Sie blätterte flüchtig weiter. »Du hast mit dem
Notizbuch recht. Es trieb deinen Urgroßvater in den Tod, aber
nicht, indem es ihn in ein chaotisches, von einem nicht
entzifferbaren Code geschaffenes Universum lockte.«
Der Brandy war vergessen. Caleb stand nur da und
starrte sie gebannt an.
»Wie sonst?«, fragte er mit einer Stimme, die
sich für ihn selbst misstönend und rau anhörte.
»Durch Gift, natürlich.«
»Gift?«
Sie rümpfte die Nase. »Die Buchseiten sind damit
durchtränkt. Das Papier wurde in die giftige Substanz getaucht und
dann getrocknet, ehe der Autor zur Feder griff. Immer wenn dein
Urgroßvater eine Seite umblätterte, nahm er ein wenig von dem Gift
auf. Ich vermute, dass Selbourne sich mit Handschuhen schützte, als
er den Unsinn schrieb. Zum Glück für dich ist das Zeug nun fast
hundert Jahre alt.«
Nun erst ging ihm auf, dass sie das Buch in den
bloßen Händen hielt. »Verdammt, Lucinda, tu es weg.«
Sie sah ihn fragend an. »Warum?«
»Eben sagtest du, es wäre vergiftet.« Er entriss
ihr das Buch und schleuderte es in den kalten Kamin. »Du darfst es
nicht berühren.«
»Ach, mir und den meisten anderen Menschen
schadet es nicht. Das Gift hat psychische Wirkungen, doch es ist so
raffiniert abgestimmt, dass es nur bei Individuen mit deinem
besonderen Talent wirkt. Ich kann es zwar spüren, schaden kann es
mir jedoch nicht.«
»Bist du sicher?«
»Ganz sicher.« Sie warf einen Blick auf das
Buch. »Selbourne muss ein genialer Giftmischer gewesen sein, wenn
er eine so elegant tötende Substanz mixte. Sein Talent muss meinem
sehr ähnlich gewesen sein.«
»Er war ganz anders. Selbourne war ein
Alchemist, der mit Okkultismus herumpfuschte.«
»Ich halte es für wahrscheinlicher, dass er mit
sehr exotischen halluzinatorischen Substanzen experimentierte.
Einige Zutaten des Giftes erkenne ich, aber nicht alle. Ich schlage
vor, dass du das Ding verbrennst.«
»Ausgezeichnete Idee.« Er ging zum Kamin und
machte sich daran, Feuer zu machen. »Sonderbar, aber auch jetzt, da
ich weiß, dass es vergiftet wurde, wehrt sich etwas in mir, das
Notizbuch zu vernichten.«
»Dein unnatürliches Interesse daran ist völlig
verständlich. Das Zeug hat seine Wirkung fast verloren, doch es
wirkt immerhin noch so stark, dass es deine Sinne angreift und die
krankhafte Faszination schafft, die du für das Buch empfindest.
Gegen die frische, unverbrauchte Kraft des Giftes hatte dein
Urgroßvater keine Chance.«
Er sah zu, wie das Feuer an dem Büchlein leckte.
»In einem Punkt hatte ich recht, das verdammte Notizbuch war die
Mordwaffe.«
»Ja.«
Er stand auf, fasste mit einer Hand nach dem
Kaminsims und benutzte den Feuerhaken, um den Ledereinband zu
öffnen und den Flammen leichter Zutritt zu den Seiten zu
verschaffen. Dabei musste er gegen das Verlangen ankämpfen, das
verdammte Ding wieder aus dem Feuer zu ziehen.
»Ich möchte dir raten, Abstand zu den Flammen zu
halten«, sagte Lucinda. »Es ist gut möglich, dass der Rauch
Giftspuren enthält.«
»Ach, daran hätte ich selbst denken können.« Er
ging zum Sessel zurück, setzte sich und sah zu, wie das Buch ein
Raub der Flammen wurde. »Lucinda, ich verdanke dir mein Leben und
meinen gesunden Verstand.«
»Unsinn. Du hättest zweifellos auch weiterhin
den Wirkungen des Giftes widerstanden.«
Er sah sie an. »Da bin ich nicht so sicher. Auch
wenn es mich nicht in den Wahnsinn getrieben hätte, so hätte es mir
sicher das Leben zu Hölle gemacht.«
»Nun gut, ich gebe ja zu, dass deine
Willensstärke ein wahres Glück ist. Ein Mensch von schwächerer
psychischer Verfassung würde längst eine Zwangsjacke tragen.«
Er zwang sich, den Blick von dem brennenden Buch
loszureißen. »Werde ich die verdammte hypnotische Faszination für
dieses Ding den Rest meines Lebens empfinden, auch wenn es zu Asche
zerfallen ist?«
»Nein, die Wirkung wird rasch nachlassen. Aber
ein paar zusätzliche Tassen des Trankes, den ich für dich
zubereitete, werden den Erholungsprozess beschleunigen, zumal du
jetzt dem Gift nicht mehr ausgesetzt bist.« Sie sah ihn argwöhnisch
an. »Du hast meine Mischung doch getrunken?«
»Ja.« Er warf einen Blick auf die Teekanne und
die Päckchen auf einem nahen Regal. »Ich merkte, dass ich mich nach
einer oder zwei Tassen besser fühle. Aber kaum griff ich wieder
nach dem Buch, verfiel ich von Neuem der Besessenheit.«
»Immer wenn du das Buch geöffnet hast, hast du
dir selbst eine Giftdosis verabreicht.« Lucinda lächelte. »Meinen
Glückwunsch zur Lösung des Falles, Mr Jones.«
»Nein«, sagte er. »Du warst es, die ihn
aufgeklärt hat. Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll, Lucinda.
Ich schulde dir mehr, als ich dir jemals zurückgeben kann.«
»Mach dich nicht lächerlich.« Plötzlich war ihr
Ton brüsk. Sie verschränkte die Hände fest im Schoß und richtete
den Blick unverwandt auf das brennende Buch. »Du schuldest mir gar
nichts.«
»Lucinda …«
Sie drehte den Kopf und fixierte ihn mit kühler,
undeutbarer Miene. »Ich tat für dich nicht mehr als du für mich,
als du den Fall Fairburn aufgeklärt hast. Ich glaube, wir sind
punktgleich.«
»Ich wusste nicht, dass es um Punkte geht.« Er
wurde wieder ärgerlich. »Es geht darum, dass ich uns für ein gutes
Team halte.«
»Richtig. Wir beide finden Befriedigung bei der
Aufklärung von Verbrechen. Wenn die Farn-Affäre vorüber ist,
wäre ich glücklich, der Agentur Jones bei künftigen Fällen
beratend zur Seite zu stehen.«
Er stützte die Fingerspitzen gegeneinander.
»Eigentlich dachte ich an eine förmlichere Verbindung.«
»Ach?« Sie zog die Brauen hoch. »Nun ja, wir
könnten einen Vertrag aufsetzen, doch scheint es mir unnötig,
Anwälte zu bemühen. Ich denke, die Zusammenarbeit wird auch
klappen, wenn wir die Sache eher zwanglos angehen, meinst du nicht
auch?«
»Verdammt, Lucinda. Ich spreche von uns.Von dir
und mir. Wir waren uns eben einig, dass wir ein sehr gutes Team
abgeben.«
Ihre Augen wurden groß. »Ja.«
Er entspannte sich. »Warum dann nicht der
Schritt in die Legalität?«
Erregung färbte ihre Miene sehr zu seiner
Zufriedenheit.
»Ein wundervoller Gedanke.« Sie schien
begeistert. »Natürlich werde ich es mir durch den Kopf gehen
lassen.«
»Ich hielt dich immer für
entscheidungsfreudig.«
»Ja, aber diese Entscheidung ist so bindend. So
förmlich, So legal.«
»Aber darum geht es ja.«
»Ich kann dir eine positive Antwort so gut wie
versprechen.«
Er entspannte sich noch mehr. »Gut.«
»Schließlich kann ich mir die aufregende Chance
einer Partnerschaft in deiner Agentur nicht entgehen lassen.«
»Was?«
»Ich sehe es vor mir.« Sie hob beide Hände und
rahmte ein unsichtbares Bild ein. »Bromley
& Jones.«
Er wollte seinen Ohren nicht trauen und rutschte
vor. »Was meinst du?«
»Ach, ich verstehe, dir wäre Jones & Bromley lieber. Immerhin bist du der
Firmengründer. Aber man muss auch an die Marketing-Aspekte denken.
Bromley & Jones klingt besser,
irgendwie rhythmischer.«
»Wenn du auch nur einen Moment glaubst, ich
würde diese Firma Bromley & Jones
nennen, dann denk noch mal nach. Davon kann keine Rede sein, und du
weißt das genau.«
»Na ja, wenn du Probleme damit hast, dann eben
Jones & Bromley. Aber das ist mein
letztes Angebot.«
»Verdammt …«
»Ach Gott, ich fürchte, wir müssen diese
Verhandlungen ein andermal fortsetzten.« Sie stand rasch auf. »Es
ist schon spät. Ich muss nach Hause.«
»Verdammt, Lucinda …«
»Heute findet der Ball bei den Wrothmeres statt,
und es ist noch so viel zu tun. Ich glaube, Victoria sagte, die
Friseuse käme um zwei Uhr.« Sie lächelte ihm liebreizend zu. »Keine
Angst, wenn du dich erst an den Klang von Bromley & Jones gewöhnt hast, wird er dir
zusagen.«