19. KAPITEL

Mrs Shute öffnete die Tür des Stadthauses, ehe die Kutsche ganz angehalten hatte. Mit Nachthaube und Umschlagtuch angetan lief sie in einer Hand Lucindas schwarze Ledertasche haltend die Stufen hinunter. Im Schein der nahen Gaslaterne konnte Lucinda die Angst in ihrer Miene sehen.
»Ach, endlich, Miss Bromley«, sagte Mrs Shute. »Ich dachte, Sie würden viel früher nach Hause kommen. Ich hätte Ihnen Nachricht geschickt, doch es war niemand da, der sie zu so später Stunde überbracht hätte.«
»Um was geht es denn?«, fragte Lucinda rasch.
»Um meine Nichte in der Guppy Lane«, sagte Mrs Shute. »Vor einer Stunde verständigte sie mich, dass Harry, der kleine Nachbarsjunge, hohes Fieber hat und kaum Luft bekommt. Seine Mutter ist außer sich vor Angst.«
»Ich fahre sofort hin«, sagte Lucinda beruhigend. »Geben Sie mir die Tasche.«
»Danke, Ma’am.« Die sehr erleichterte Mrs Shute übergab ihr die Tasche und trat zurück. Dann hielt sie mit leichtem Stirnrunzeln inne. »Ihr Haar, Ma’am. Was ist damit passiert?«
»Ein Unfall«, sagte Lucinda spröde.
Shute ließ die Zügel schnalzen, und der Wagen schoss in die neblige Nacht. Lucinda machte Licht, öffnete die Tasche und nahm eine rasche Bestandsaufnahme des Inhalts vor. Alle üblichen Fläschchen und Päckchen waren vorhanden, auch die Zutaten für den Dampf, den sie für Lungenstauungen bei Kindern anwendete. Wurde etwas Ausgefalleneres benötigt, konnte Shute es rasch holen.
Befriedigt, dass sie alles bei sich hatte, lehnte sie sich zurück und betrachtete die gespenstische Szenerie, die an ihr vorüberzog. Gebäude und andere Fahrzeuge tauchten kurz im Nebel auf, ehe sie wieder verschwanden. Treibende Nebelschwaden dämpften Hufgeklapper und Räderrollen.
Der Ruf aus der Guppy Lane hatte das Gefühl der Unwirklichkeit durchbrochen, das sich auf der Rückfahrt vom Ball auf sie gesenkt hatte. Sie konnte kaum glauben, dass sie sich Caleb Jones in einem Akt höchst erstaunlicher Leidenschaft hingegeben hatte. Zumal in einem Trockenschuppen. Sie hatte viele Sensationsromane gelesen, konnte sich aber an keine Szene erinnern, in der Held und Heldin eine Lokalität dieser Art für ihr verbotenes Stelldichein benutzt hätten.
Verbotenes Stelldichein. Sie hatte eines gehabt. Ihr schwindelte ein wenig bei dem Gedanken.
Sie wusste aber, dass es nicht die körperliche Begegnung zwischen getrockneten Kräutern und Blumen war, so erregend und aufregend sie auch gewesen sein mochte, die ihren Sinnen dermaßen zugesetzt hatte. Ihr Körper hatte sich vom köstlichen Schock der ersten sexuellen Erfahrung erholt, doch sie fühlte sich noch immer desorientiert und merkwürdig benommen. Ihre Sinne summten vor Anspannung - und zwar in viel zu hohen Tönen. Ihr war, als wären einige Strömungen aus dem Sturm psychischer Energie, die sie und Caleb entfesselt hatten, noch immer in ihr wirksam. Intuitiv spürte sie, dass sie sich nicht verflüchtigen würden, ja, dass sie sie sogar irgendwie an Caleb binden würden. Sie fragte sich, ob er jetzt denselben merkwürdigen Widerhall ihrer Verbindung spürte.
Shute hielt den Wagen vor einem kleinen Haus an. Es war das einzige an der Straße, in dem ein Fenster erhellt war. Alle anderen Häuser waren dunkel, die Bewohner längst im Bett. In ein, zwei Stunden, wenn die feinen Herrschaften sich nach Verlassen der Partys und Klubs auf den Heimweg begaben, mussten die Menschen in diesem Teil der Stadt aus den Federn. Nach einem einfachen Frühstück würden sie sich sodann auf den Weg zu den Läden, Fabriken und großen, vornehmen Haushalten machen, in denen sie arbeiteten. Diejenigen, die Glück hatten, dachte Lucinda. Arbeit, von der man seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte, war rar.
Shute öffnete den Wagenschlag. »Ich warte hier wie immer mit dem Pferd, Miss Bromley.«
»Danke.« Sie nahm die Tasche und sah ihn mit mattem Lächeln an. »Das sieht nach einer schlaflosen Nacht für uns beide aus.«
»Es wäre nicht das erste Mal, oder?«
Die Tür des kleinen Hauses flog auf. Alice Ross stand in Nachthaube und verblichenem Umschlagtuch angstvoll im Eingang.
»Gott sei Dank, Sie sind es, Miss Bromley«, sagte sie. »Es tut mir ja so leid, dass ich Sie um diese Zeit holen ließ, aber solche Angst hatte ich nicht mehr, seit Annie an Weihnachten erkrankte.«
»Machen Sie sich keine Sorgen wegen der späten Stunde, Mrs Ross. Leider war ich außer Haus, als Ihre Nachricht kam, deshalb die Verspätung.«
»Ja, Ma’am, das sehe ich.« Alice bedachte das kobaltblaue Kleid mit einem scheuen bewundernden Blick. »Sie sehen wunderschön aus, Ma’am.«
»Danke«, sagte Lucinda zerstreut. Sie trat an Alice vorüber ein und ging auf die kleine Gestalt im Kinderbettchen vor dem Feuer zu. »Na, Harry, wie fühlst du dich?«
Der Kleine sah mit fieberglühendem Gesichtchen zu ihr auf. »War schon besser dran, Miss Bromley.«
Sein Atem kam röchelnd und mühsam, so wie sie es bei Kindern bereits oft erlebt hatte.
»Das wird schon wieder«, sagte sie. Sie stellte die Tasche auf den Kamin, öffnete sie und entnahm ihr ein Päckchen. »Also, Mrs Ross, wenn Sie mir kochendes Wasser bringen, wird Harry bald leichter atmen.«
Harry sah blinzelnd zu ihr auf. »Sie sehen aber hübsch aus, Miss Bromley.«
»Danke, Harry.«
»Was ist mit Ihrem Haar los?«

 

Nachdem Caleb sich seines Jacketts, seiner Weste und Krawatte entledigt hatte, hielt er inne und blickte zu dem großen Bett mit den vier Pfosten. Nach der Liebe fühlte er sich aufgeräumter und entspannter als seit Monaten, so dass er sich vorgenommen hatte, dieses seltene Gefühl zu nutzen und in dem Schlafzimmer, in dem er nur selten schlief, sofort zu Bett zu gehen.
Jetzt zögerte er. Er wollte und brauchte Schlaf, doch die Nachwirkungen der körperlichen Erleichterung und das damit verbundene ungewohnte psychische Hochgefühl ließen bereits nach.
Noch eine Empfindung meldete sich heimlich, um ihm die allzu kurze Erholung vom allgegenwärtigen Gefühl der Dringlichkeit zu rauben, das ihn neuerdings fest im Griff hatte. Es war noch schwach und unterschied sich stark von seinen üblichen nächtlichen Anfällen von Schwermut, doch er wusste, dass er keinen Schlaf finden würde, wenn er jetzt zu Bett ginge.
Er verließ das Schlafzimmer und ging den Gang entlang zu seiner Bibliothek und dem Labor. Dort machte er Licht und ging durch das Labyrinth von Buchregalen zum Saferaum. Er stellte die komplizierte Kombination ein, öffnete die Tür und griff in die dunkle Öffnung, der er das Tagebuch und Notizbuch von Erasmus Jones entnahm.
Er setzte sich vor den kalten Kamin, zog die onyxgoldenen Manschettenknöpfe heraus und rollte die Hemdsärmel auf. Eine Weile saß er da und betrachtete die zwei Bände. Er hatte beide einige Male vom Anfang bis zum Ende durchgelesen. Kleine Papierstreifen markierten die Stellen, die er für wichtig hielt.
Zunächst hatte er sich der Aufgabe mit einem Gefühl erwartungsvoller Vorfreude genähert wie immer, wenn er es mit einem komplexen Problem oder einem Rätsel zu tun hatte. Es musste ein Schema geben. Immer gab es ein Schema.
Er hatte einen Monat benötigt, um den komplexen Code zu entschlüsseln, den sein Urgroßvater für das Tagebuch entworfen hatte. Fast ebenso lange hatte er gebraucht, um hinter die Verschlüsselung von Sylvesters Notizbuch zu kommen. Der Code dieses Buches unterschied sich von allen anderen, die der alte Fuchs in seinen Tagebüchern und Aufzeichnungen verwendet hatte.
Im Gefolge dieser hoffnungsvollen Durchbrüche hatte er jedoch wenig gefunden, das ihn ermutigt hätte. Erasmus’ Tagebuch lieferte die Schilderung eines stetigen Absinkens in Exzentrizität, Besessenheit und Wahnsinn. Und was Sylvesters Notizbuch betraf, war es zunehmend unverständlich geworden. Es schien aus verworrenen Geheimnissen zu bestehen, ein endloser Irrgarten ohne Ausgang. Bis zu seinem Todestag aber hatte Erasmus an der Überzeugung festgehalten, dass es das Geheimnis der Heilung seines Wahns enthielt.
Er wählte willkürlich eine Seite des Notizbuches und übersetzte im Kopf eine kurze Passage.
… Die Transmutation der vier physikalischen Elemente wird nur erreicht, wenn die Geheimnisse des fünften, das den Alten als Äther bekannt war, gelöst werden. Nur Feuer kann die Mysterien enthüllen
Typischer alchemistischer Humbug, dachte er. Das Notizbuch war voll davon, doch er wurde das Gefühl nicht los, dass ihm etwas entging. Was hatte Erasmus an dem verdammten Buch dermaßen fasziniert?
Die unangenehme Ruhelosigkeit wuchs rasch in ihm und ging in ein bezwingendes Gefühl der Dringlichkeit über. Unfähig, sich zu konzentrieren, klappte er das Notizbuch zu und stand auf.
Einen Moment stand er da und versuchte seinen Verstand auf die Hulsey-Ermittlung zu fokussieren. Als dies seine Gedanken nicht zu beruhigen vermochte, ging er zur Brandykaraffe, einer Ablenkung, die die letzte Rettung bedeutete. Zu ihr hatte er in letzter Zeit des Öfteren Zuflucht genommen.
Auf halbem Weg durch den Raum blieb er stehen. Vielleicht sollte er sich eines der Mittel zusammenbrauen, die Lucinda ihm gegen die Spannung in seiner Aura gegeben hatte, denn heute war er wirklich sehr angespannt. Er war nicht sicher, ob sie mit ihrer Diagnose recht hatte, doch nachdem er das Zeug getrunken hatte, fühlte er sich nach einiger Zeit tatsächlich besser.
Lucinda. Die Erinnerung an die Episode im Trockenschuppen vermochte sein Blut nicht mehr in Wallung zu bringen. Im Gegenteil, er hatte das Gefühl, in seinen Adern flösse Eis.
Lucinda.
Sie schwebte in ernster Gefahr. Diese Gewissheit überkam ihn ganz plötzlich und auf eine Weise, die seine psychische Natur nie in Frage stellte.
Suesses Gift Der Liebe
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