4. KAPITEL

Seine Aura wies eine beunruhigende Spannung auf. Sie hatte sie in dem Moment wahrgenommen, als er das Gewächshaus betrat. Bei einem Schwächeren hätte eine solche Unausgewogenheit der Energien zu einer ernsten Krankheit körperlicher Natur geführt. Sie vermutete, dass Caleb Jones diese Unausgewogenheit unbewusst allein durch seinen Willen beherrschte, und bezweifelte, ob er die merkwürdigen ungesunden Strömungen überhaupt spürte.
Sein Gesundheitszustand war nicht ihr Problem, ermahnte sie sich, solange er ihn nicht daran hinderte, eine gründliche Ermittlung durchzuführen. Ihre Intuition sagte ihr, dass dies nicht der Fall wäre. Resolute Entschlossenheit war in seiner Aura viel stärker spürbar als die unnatürlichen Strömungen. Caleb Jones war ein Mann, der um jeden Preis ausführen würde, was er sich vorgenommen hatte.
Diese Zusammenkunft war das Letzte, was sie gewollt hatte, doch ihr war keine Alternative eingefallen. Ihre Umstände waren traurig, und das Problem war psychischer Natur. Das bedeutete, dass sie eine Ermittlungsfirma brauchte, die mit paranormalen Erscheinungen umgehen konnte. Die einzige, die ihr einfallen wollte, war die unlängst gegründete Jones-Agentur.
Eine Beziehung zu dieser Firma bedeutete leider, dass man es mit einem Mitglied der Familie Jones zu tun bekam, einer in jeder Hinsicht exzentrischen und gefährlichen Sippe. Die Arcane Society war eine für ihre Geheimniskrämerei berüchtigte Organisation, und die mächtigen Angehörigen des Jones-Clans - Nachfahren des Gründers - nahmen darin stets eine zentrale Stellung ein. Gerüchtweise verlautete, dass sie sich sehr gut darauf verstanden, sowohl die dunklen Geheimnisse der Society als auch ihre eigenen zu hüten.
Wenn ihre Vermutung stimmte, musste Caleb Jones im Aufspüren einer Wahrheit äußerst geschickt sein. Es hieß, dass in der Familie jeder ein starkes Talent in dieser oder jener Richtung besaß, und sie hatte erwartet, Caleb würde eine Probe seines ungewöhnlichen Könnens liefern.
Was sie verblüfft hatte, war die starke Neugierde, um nicht zu sagen Faszination, die ein Schaudern in ihr auslöste, als sie seine Anwesenheit im Gewächshaus gespürt hatte. Die erregenden kleinen Funken der Wahrnehmung, die nun in ihr aufsprühten, konnten ihrer Natur nach nur als beunruhigend sinnlich bezeichnet werden. Die Empfindungen waren beunruhigend und desorientierend; bei einer achtzehnjährigen Unschuld verzeihliche Empfindungen, die aber bei einer Frau von siebenundzwanzig Jahren völlig ungehörig waren; bei einer erfahrenen Frau.
Um Himmels willen, ich gelte schon als sitzengeblieben. Als alte Jungfer. Und er ist ein Jones. Was ist nur mit mir los?
Von Caleb Jones ging bezwingende Kraft aus, zugleich aber auch Ernst und Melancholie, so als hätte er das Leben kraft seiner Intelligenz und Talente geprüft und wäre zu dem Schluss gelangt, dass es ihm wenig Freuden zu bieten hätte, er aber dennoch auszuharren gedachte. Auch wenn sie nicht gewusst hätte, dass er ein direkter Nachkomme von Sylvester Jones, dem Gründer der Society war, hätte sie Caleb als starkes Talent erkannt.
Es brannte aber noch etwas anderes in ihm, eine alles verzehrende Intensität, eine Zielstrebigkeit, die ein zweischneidiges Schwert sein konnte, wie sie wusste. Ihrer Erfahrung nach existierte oft nur ein ganz schmaler Grat zwischen intelligenter Konzentration auf ein Objekt und krankhafter Besessenheit. Sie argwöhnte, dass Caleb diesen Grat mehr als einmal überschritten hatte. Dieses Wissen und die Disharmonie in seiner Aura waren beunruhigend, doch ihr blieb jetzt keine andere Wahl. Jones war wahrscheinlich das Einzige, was zwischen ihr und einer Mordanklage stand.
Sie hüllte sich gemütlich in das unsichtbare Korsett ihrer Beherrschung und machte sich bereit, mit ihrem Plan fortzufahren.
»Jetzt verstehen Sie, warum ich Sie heute zu mir bat, Mr Jones«, sagte sie. »Sie sollen den Diebstahl meines Farns untersuchen. Wenn Sie den Dieb ausfindig machen, werden Sie auch entdecken, dass er das Gift zusammenbraute, das meiner Überzeugung nach Lord Fairburn tötete. Sie werden ihn finden und ihn Inspektor Spellar mit den Beweisen seiner Schuld übergeben.«
Calebs Brauen hoben sich. »Und das alles, ohne Ihren Namen in die Sache hineinzuziehen, vermute ich?«
Sie runzelte die Stirn. »Ja, natürlich. Das ist doch der entscheidende Punkt, wenn man jemanden wie Sie für private Ermittlungen engagiert. Man erwartet garantierte Vertraulichkeit in diesen Dingen.«
»So ist es.«
»Mr Jones
»Ich bin in dieser Branche noch ziemlich neu, habe aber festgestellt, dass Klienten der Meinung sind, es gäbe eine Anzahl von Regeln, die ich befolgen müsste. Ich finde diese Annahme langweilig und ärgerlich.«
Sie war entsetzt. »Mr Jones, falls Sie heute unter Vorspiegelung falscher Tatsachen kamen, werde ich nicht zögern, mich beim neuen Vorsitzenden der Society über Sie zu beschweren, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen.«
»Meinen Vetter Gabe lässt man im Moment besser in Frieden, da er alle Hände voll damit zu tun hat, den Obersten Rat neu zu organisieren. Er bildet sich ein, er könnte die alten senilen Tapergreise, die nicht von der Alchemie lassen können, endlich kaltstellen. Ich warnte ihn, dass einige gefährlich werden können, falls sie entdecken, dass ihnen Entmachtung droht, er aber beharrte darauf, dass ein wenig Demokratie genau das ist, was der Society den Weg ins neue Jahrhundert eröffnen wird.«
»Mr Jones«, sagte sie streng. »Ich versuche, meinen Fall mit Ihnen zu besprechen.«
»Richtig. Wo waren wir? Ach ja, Vertraulichkeit.«
»Also, was ist? Sind Sie bereit, mir zu garantieren, dass Sie alles, was diesen Fall betrifft, vertraulich behandeln werden?«
»Miss Bromley, es mag für Sie überraschend sein, doch ich behandle die meisten Dinge vertraulich. Ich bin ungesellig. Fragen Sie alle, die mich kennen. Ich hasse Salonkonversation und beteilige mich nie an Klatschereien, wiewohl ich sie mir immer anhöre, da sie oft Quelle nützlicher Informationen sind.«
Das glaubte sie gern. »Ich verstehe.«
»Sie haben mein Versprechen, dass ich Ihre Geheimnisse für mich behalten werde.«
Erleichterung erfasste sie. »Danke.«
»Mit einer Ausnahme.«
Sie erstarrte. »Und die wäre?«
»Während die Dienste meiner Firma allen Mitgliedern der Arcane Society offenstehen, steht außer Frage, dass meine erste Verpflichtung dem Schutz der Geheimnisse der Organisation gilt.«
Sie tat den Einwand ungeduldig ab. »Ja, ja, das machte schon Gabriel Jones klar, als er die Gründung Ihrer Firma ankündigte. Ich versichere Ihnen, dass mein Problem nichts mit den Geheimnissen der Arcane Society zu tun hat. Es geht hier um Pflanzendiebstahl und Mord. Mein einziges Ziel ist es, nicht hinter Gittern zu landen.«
Belustigung flackerte in einen Augen auf. »Ein vernünftiges Ziel.« Er griff in die Innentasche seines elegant geschnittenen Jacketts und holte ein kleines Notizbuch und einen Bleistift hervor. »Schildern Sie mir den Diebstahl.«
Sie stellte ihre Tasse ab. »Vor einem Monat bekam ich Besuch von einem gewissen Dr. Knox. Er berief sich auf eine angebliche Empfehlung eines alten Freundes meines Vaters. Wie Sie, Mr Jones, gehe ich nicht in Gesellschaft. Trotzdem freue ich mich, wenn ich ab und zu mit anderen Botanikern Kontakt habe.«
»Ich nehme an, Knox zeigte reges Interesse für seltene Pflanzen?«
»Ja. Er bat mich um eine Führung durch mein Gewächshaus. Er hätte alle Bücher und Aufsätze meines Vater gelesen, sagte er. Seine Begeisterung war groß, auch erwies er sich als profunder Experte. Ich sah keinen Grund, ihm seinen Wunsch abzuschlagen.«
Caleb blickte von seinen Notizen auf. »Machen Sie oft solche Führungen?«
»Nein, natürlich nicht. Das hier ist ja nicht Kew Gardens oder die Carstairs Botanical Society.«
Die alte Wut durchschoss sie. Sie schaffte es kaum, ihre Miene zu beherrschen, doch sie spürte, wie ihre Wangenmuskeln sich leicht strafften. Vermutlich war diese kleine Bewegung dem sehr aufmerksamen Mr Jones nicht entgangen.
»Ich verstehe«, sagte er.
»Seit dem Tod meines Vaters und meines Verlobten hat es nur wenig Anfragen nach Führungen gegeben.«
Sie glaubte, einen Anflug von Mitgefühl in seiner Miene zu erhaschen, doch der Ausdruck war einen Herzschlag später verschwunden. Sie musste sich geirrt haben. Es war unwahrscheinlich, dass Caleb Jones so viel Feingefühl hatte.
»Bitte, fahren Sie in Ihrem Bericht fort, Miss Bromley«, sagte er.
»Dr. Knox und ich verbrachten fast zwei Stunden im Gewächshaus. Es zeigte sich bald, dass er sich besonders für meine Heilpflanzen und Kräuter interessierte.«
Caleb hielt im Schreiben inne und sah sie scharf und durchdringend an. »Sie ziehen auch Arzneipflanzen?«
»Sie sind meine Spezialität, Mr Jones.«
»Das wusste ich nicht.«
»Meine Eltern waren große Botaniker, doch das hauptsächliche Interessengebiet meiner Mutter war das Studium der Heilkräfte von Kräutern und Pflanzen. Ich erbte ihre Liebe zu diesem Gebiet. Nach ihrem Tod begleitete ich meinen Vater weiterhin auf seinen Expeditionen, die der Jagd nach Pflanzen galten. Die Gattung, die Dr. Knox’ Aufmerksamkeit weckte, war ein seltener Farn, den ich auf unserer letzten Amazonasfahrt entdeckte. Ich nannte ihn Ameliopteri s amazonensis nach meiner Mutter. Sie hieß Amelia.«
»Sie haben diesen Farn entdeckt?«
»Eigentlich nicht. Die Ehre gebührt den Angehörigen eines kleines Stammes, der in jenem Teil der Welt lebt. Nach meiner Rückkehr konnte ich jedoch in Büchern und Fachzeitschriften nirgends einen Hinweis darauf finden. Und unsere Bibliothek ist sehr umfangreich.«
Calebs Blick glitt nachdenklich über die vollen Regale. »Das sehe ich.«
»Eine Heilkundige des Stammes hatte mir den Farn gezeigt und seine Eigenschaften beschrieben. Sie nannte ihn mit dem Namen, den ihr Volk der Pflanze gegeben hatte. Übersetzt bedeutet er ›Geheimes Auge‹.«
»Wie wird der Farn angewendet?«
»Der Stamm wendet ihn bei gewissen religiösen Zeremonien an. Aber ich bezweifle sehr, dass Dr. Knox religiös ist, ganz zu schweigen davon, dass er geheiligte Riten beachtet, die nur von einem kleinen Stamm in einem entlegenen Dorf Südamerikas praktiziert werden. Nein, Mr Jones, er verwendete meinen Farn, um dem Gift raschere Wirksamkeit zu verleihen und Geschmack und Geruch zu übertönen.«
»Wissen Sie, welche Wirkung der Farn hat, wenn er bei den Zeremonien der Dorfbewohner benutzt wird?«, fragte Caleb.
Eine erstaunliche Frage. Die meisten Menschen hätten den Glauben eines Volkes in einem fernen Land als Humbug glatt abgetan.
»Die Heilkundige behauptete, dass ein aus dem Farn gekochter Absud das zu öffnen vermag, was ihr Volk als das geheime Auge eines Menschen bezeichnet. Die Dorfbewohner glauben fest daran. Und auf den Glauben kommt es an … bei allen religiösen Bräuchen.«
»Haben Sie eine Ahnung, was die Heilerin mit dem Öffnen des geheimen Auges meinte?«
Sein unerwartetes großes Interesse, das plötzlich den Eigenschaften des Farns und nicht dem Diebstahl galt, war irgendwie beunruhigend. Gerüchtweise war ihr zu Ohren gekommen, dass die Bezeichnung Exzentriker Caleb Jones nicht ganz gerecht wurde.
Es war zu spät, um ihm die Tür zu weisen, da er nun ihre Geheimnisse kannte. Und er war für sie unersetzlich, obschon es in London von Typen wimmelte, die sich ihrer psychischen Fähigkeiten rühmten. Tatsächlich war alles Paranormale groß in Mode. Wie aber jeder vernünftige Mensch innerhalb der Arcane Society wusste, war die Mehrheit dieser Praktiker Betrüger und Scharlatane. Sie war auf Caleb Jones’ Gabe angewiesen.
»Ich behaupte nicht, dass ich viel vom Glauben der Heilkundigen weiß«, sagte sie behutsam. »Laut ihrer Aussage war geheimes Auge die Bezeichnung für etwas, das Sie und ich den Traumzustand eines Menschen nennen würden.«
Eine große und verstörende Ruhe überkam Caleb Jones.
»Dieser Halunke«, stieß er leise und in eisigem Ton hervor. »Basil Hulsey.«
Sie sah ihn tadelnd an. »Wieder ungehörige Ausdrücke, Mr Jones? Finden Sie es wirklich so erstaunlich, dass es auch außerhalb Englands Menschen mit paranormalen Fähigkeiten gibt? Wir sind nicht die Einzigen, die eine psychische Seite der Natur besitzen.«
Sie verstummte jäh, als Caleb plötzlich mit geradezu überwältigendem Elan aus seinem Sessel aufsprang. Ans Sofa tretend zog er sie auf die Beine und in seine Arme.
»Miss Bromley, Sie ahnen ja nicht, wie hilfreich Sie waren. Ich könnte Sie zum Dank küssen.«
Sie war so verblüfft, dass es nicht einmal zu damenhaftem Protest reichte. Ein erschrockener kleiner Quietschlaut war alles, was ihr über die Lippen kam, und im nächsten Moment nahm er ihren Mund so leidenschaftlich in Besitz, dass heiße Energie in der Atmosphäre aufflammte.
Suesses Gift Der Liebe
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