7. KAPITEL
Caleb betrat die Eingangshalle des dunklen Hauses
und stieg die Treppe hinauf. Oben angelangt, ging er den Gang
entlang und sperrte die Tür zur Bibliothek auf, die ihm auch als
Labor diente. Drinnen drehte er die Gaslampen auf und ließ den
Blick durch den großen Raum wandern, der ihm Zuflucht oder private
Hölle war, je nach Umständen und Stimmung. Neuerdings trat die
Ähnlichkeit mit der Unterwelt immer stärker hervor.
Die Society bewahrte den Großteil ihrer Sammlung
paranormaler Relikte und Artefakten in Arcane House, einem
entlegenen Landsitz, auf, doch waren viele der alten Unterlagen der
Organisation, einige aus dem späten siebzehnten Jahrhundert, hier
untergebracht, und sein Zweig der Familie war seit Generationen mit
der Verantwortung für ihre Sicherheit betraut.
Die wertvollsten Stücke seiner Sammlung,
darunter private Aufzeichnungen Sylvester Jones’, ruhten sicher im
großen, in die Steinmauer des alten Hauses eingefügten
Gewölbe.
Das an die Bibliothek anschließende Labor war
mit modernsten Apparaturen ausgestattet. Er war kein psychisch
begabter Wissenschaftler; seine wahren Talente lagen in einer
anderen Richtung, doch er war sehr wohl imstande, eine Vielzahl von
Experimenten durchzuführen und die verschiedenen
Instrumente und Geräte auf dem Arbeitstisch zu benutzen.
Immer schon hatten ihn die Geheimnisse des
Paranormalen angezogen. In letzter Zeit aber war aus seinem
einstmals rein intellektuellen Interesse etwas geworden, das seine
engen Angehörigen und Freunde als krankhafte Besessenheit
ansahen.
Es läge ihm im Blut, wurde gemunkelt; in dieser
Jones-Generation wäre er der wahre Erbe des brillanten, aber
düster-exzentrischen Sylvester. Man zeigte sich besorgt, dass das
Verlangen des Gründers nach verbotenem Wissen an Calebs Zweig des
Familienstammbaums übergegangen wäre, eine dunkle Saat, die nur
darauf wartete, in fruchtbarem Boden Wurzel zu schlagen.
Die gefährliche Pflanze gedieh nicht in jeder
Generation, hieß es. Laut Familienlegende hatte sie sich nach
Sylvester nur einmal gezeigt, nämlich bei Calebs Urgoßvater Erasmus
Jones. Erasmus war mit einem Talent wie Caleb geboren worden. Keine
zwei Jahre nachdem er geheiratet und einen Sohn gezeugt hatte,
zeigte er plötzlich exzentrische Neigungen. Bald war er dem
Wahnsinn verfallen, bis er sich schließlich das Leben nahm.
Caleb wusste, dass man im Jones-Clan glaubte,
die Veränderungen, die an ihm wahrzunehmen waren, hätten mit der
Entdeckung von Sylvesters Gruft und den darin enthaltenen
Aufzeichnungen alchemistischer Geheimnisse eingesetzt. Nur er und
sein Vater kannten jedoch die Wahrheit. Es war in der ausgedehnten
und psychisch starken Familie Jones noch immer möglich, ein
Geheimnis zu bewahren, wenn man es nur fest genug hütete.
Er durchschritt das Regallabyrinth mit den alten
Lederfolianten und blieb vor dem kalten Kamin stehen. In der Nähe
der Feuerstelle befanden sich eine Liege und zwei Sessel. Meist
schlief er hier und nahm seine Mahlzeiten ein. Und hier empfing er
auch seine spärlichen Besucher. Die anderen Räume benutzte er kaum.
Die meisten Möbelstücke im Haus steckten unter Staubhüllen.
Auf einem kleinen Tisch standen eine Karaffe und
zwei Gläser. Er goss sich einen Schluck Brandy ein und trat ans
Fenster, um in die dunkelste Nachtstunde hinauszustarren.
Seine Gedanken führten ihn zurück in eine andere
stockdunkle Nacht und an das Bett seines Vaters, von dem alle
geglaubt hatten, es wäre sein Totenbett. Fergus Jones hatte alle
fortgeschickt, die bei ihm wachten - Pflegerin, Angehörige,
Dienerschaft - alle bis auf Caleb.
»Komm näher, mein Sohn«, sagte Fergus damals
matt und heiser.
Caleb, der am Fußende des Bettes gestanden
hatte, trat nun an die Seite seines Vaters, noch immer wie betäubt
von der Plötzlichkeit, mit der die Krise gekommen war. Bis vor drei
Tagen war sein Vater ein rüstiger und gesunder Mann von
sechsundsechzig gewesen, dem nur seine Gelenke ein wenig zu
schaffen machten, ein Leiden, dem er mit Salicin zu Leibe rückte.
Wie so viele Jones war er Jäger und hatte sich immer einer
kräftigen Konstitution erfreut, so dass er wie sein eigener Vater
auch ein hohes Alter erwarten durfte.
Caleb hatte Gabe geholfen, den Diebstahl der
Formel des Gründers aufzuklären, als ihn die Nachricht ereilte,
dass sein Vater von einer plötzlichen Lungenentzündung aufs
Krankenlager
geworfen worden war. Er hatte es seinem Vetter überlassen, die
Ermittlungen allein fortzuführen, und war auf das Familiengut
geeilt.
Trotz seiner Beunruhigung hatte er in Wahrheit
erwartet, sein Vater würde sich erholen. Erst als er das ernste,
verdunkelte Haus betreten hatte und die hoffnungslose Prognose des
Arztes gehört hatte, ging ihm auf, wie ernst die Situation
tatsächlich war.
Die immer schon enge Beziehung zu seinem Vater
war nach dem vorzeitigen Tod seiner Mutter Alice, die bei einem
Reitunfall ums Leben gekommen war, als er einundzwanzig gewesen
war, noch enger geworden. Fergus Jones hatte nicht wieder
geheiratet. Caleb war der einzige Nachkomme aus dieser
Beziehung.
Ein Feuer brannte im Kamin und schuf im
Krankenzimmer unerträgliche Hitze, da der Kranke geklagt hatte, er
fröre, wiewohl sein ganzer Körper förmlich glühte. Dieses
unnatürliche Kältegefühl, hatte die Pflegerin mit einer Miene
morbider Genugtuung erklärt, sei ein sicheres Anzeichen für den
nahenden Tod.
Fergus blickte mit fiebrig glänzenden Augen aus
dem Kissenberg zu ihm auf. Er war den ganzen Tag immer wieder ins
Delirium verfallen. Nun griff er nach Calebs Hand.
»Ich muss dir etwas sagen«, flüsterte er.
»Was denn?« Caleb umfasste die heiße Hand seines
Vaters fester.
»Ich sterbe.«
»Nein.«
»Ich gestehe, dass ich beabsichtigte, diese Welt
als Feigling zu verlassen. Nie hätte ich gedacht, ich würde es über
mich
bringen, dir die Wahrheit zu sagen. Aber ich kann dich nun doch
nicht in Unkenntnis lassen, zumal es vielleicht eine kleine Chance
gibt …«
Ein Hustenanfall hinderte ihn am Weitersprechen.
Als der Anfall vorüber war, lag er still da und rang nach
Atem.
»Bitte, du sollst dich nicht anstrengen«, bat
Caleb. »Du musst deine Kräfte schonen.«
»Verdammt, das ist mein
Sterbebett, und mit dem bisschen Energie, das mir blieb, mache ich,
was ich will.«
Caleb lächelte trotz seiner niedergeschlagenen
Stimmung. Es tat gut, die vertraute barsche Entschlossenheit im Ton
seines Vaters zu hören. Die Jones’, Männer wie Frauen, waren
Kämpfernaturen.
»Ja, Sir«, sagte er.
Fergus kniff die Augen zusammen. »Du und Alice
wart das größte Glück, das mir in meinem Leben zuteilwurde. Du
sollst wissen, dass ich dem lieben Gott immer dankbar für die Zeit
war, die er mir mit euch gönnte.«
»Ich bin glücklich, dich als Vater zu
haben.«
»Leider wirst du mir nicht mehr danken, dass ich
dich in die Welt setzte, wenn du die Wahrheit über dich erfährst.«
Fergus schloss unter Schmerzen die Augen. »Deiner Mutter verriet
ich nichts. Es war mein Geschenk an sie. Alice starb, ohne etwas
von der Gefahr zu ahnen, die dich erwartet.«
»Wovon sprichst du?« Caleb befürchtete, sein
Vater wäre wieder ins Delirium verfallen.
»Noch immer zögere ich, dir die Wahrheit zu
sagen«, flüsterte Fergus. »Aber du bist mein Sohn, und ich kenne
dich gut. Du würdest mich bis zu deinem letzten Atemzug verfluchen,
wenn ich eine Wahrheit von so eminenter Wichtigkeit
zurückhielte. Angesichts dessen, was ich dir sagen werde, wirst du
mich zweifellos ohnehin verwünschen.«
»Was immer du mir glaubst anvertrauen zu müssen,
Vater, es könnte mich nie dazu bringen, dich zu hassen.«
»Warte, bis du gehört hast, was ich dir sagen
werde, ehe du urteilst.« Wieder wurde Fergus von heftigem Husten
geschüttelt. Er keuchte einige Male, bis er schließlich wieder bei
Atem war. »Es betrifft deinen Urgroßvater Erasmus Jones.«
»Was ist mit ihm?« Ein kalter Schauer
vorausahnenden Wissens glitt über Calebs Wirbelsäule.
»Du besitzt ein Talent, das seinem ähnlich
ist.«
»Das ist mir bewusst.«
»Du weißt auch, dass er verrückt wurde, seine
Bibliothek und sein Labor in Brand setzte und in den Tod
sprang.«
»Du glaubst, dass auch mich dieses Schicksal
erwartet«, sagte er leise. »Ist es das, was du mir sagen
möchtest?«
»Dein Urgroßvater war überzeugt, dass es sein
Talent war, das ihn in den Wahnsinn trieb. In seinem letzten
Tagebuch schrieb er darüber.«
»Dass Erasmus Jones Tagebücher schrieb, höre ich
zum ersten Mal.«
»Weil er alle bis auf eines verbrannte. Er war
überzeugt, dass die vielen Forschungsarbeiten, die er mit Hilfe
seines Talents machen konnte, bedeutungslos seien. Ein Journal aber
behielt er zurück, weil er schließlich immer noch Erasmus Jones
war. Er ertrug es nicht, seine eigenen Geheimnisse zu
vernichten.«
»Wo ist dieses Exemplar?«
Fergus drehte den Kopf und blickte durch den
Raum.
»Du findest es mit noch einem Bändchen, einem Notizbuch, das er
mit dem Journal aufbewahrte, im Geheimfach meines Safes. Sein Sohn,
dein Großvater, übergab sie mir auf seinem Totenbett, und nun
vermache ich sie dir.«
»Hast du sie gelesen?«
»Nein. Dein Großvater auch nicht. Wir konnten es
nicht.«
»Warum nicht?«
Fergus brachte ein Schnauben hervor. »Erasmus
war durch und durch Sylvesters Erbe. So erfand er wie der alte
Halunke einen privaten Code für seine Tagebücher. Sein Notizbuch
ist verschlüsselt. Dein Großvater und ich wagten es nicht, die
Aufzeichnungen jemandem in der Familie zu zeigen, der vielleicht
imstande gewesen wäre, das Zeug zu entziffern, weil wir die
Geheimnisse fürchteten, die in den Büchern enthalten sein
mochten.«
»Warum habt ihr Tagebuch und Notizbuch
behalten?«
Als Fergus zu ihm aufblickte, waren seine
fiebrigen Augen bemerkenswert gelassen. »Weil die erste Seite des
Tagebuchs in schlichtem Englisch geschrieben ist. Erasmus richtete
eine Botschaft an seinen Sohn und dessen Nachfahren, in der er die
Anweisung gab, die Bände so lange aufzubewahren, bis aus der
Familie wieder jemand mit Sylvesters Talent hervorgegangen
wäre.«
»Jemand wie ich.«
»Ja, das fürchte ich. Erasmus glaubte, das
Notizbuch enthielte das Geheimnis, seine geistige Gesundheit
wiederzuerlangen. Er schaffte es nicht, das Geheimnis rechtzeitig
zu lüften und sich zu retten. Er war überzeugt, dass irgendwann in
der Zukunft jemand aus seiner Familie sich der gleichen
Krise gegenübersehen würde. Er hoffte, sein Nachfahre wäre dann
imstande, sein Schicksal zu ändern, indem er die Rätsel in diesem
verdammten Büchlein löst.«
»Was ist der zweite Band?«, fragte Caleb.
»Laut Erasmus ist es Sylvesters letztes
Notizbuch.«
Er blieb an der Seite seines Vaters, bis es
dämmerte. Fergus schlug mit dem ersten Licht des Tages die Augen
auf.
»Zum Teufel, warum ist es hier drinnen so
heiß?«, knurrte er und warf einen finsteren Blick zum Kaminfeuer.
»Was soll das? Willst du das Haus in Brand setzen?«
Verdutzt stemmte Caleb sich aus dem unbequemen
Sessel hoch, in dem er die Nacht verbracht hatte. Er blickte in die
Augen seines Vaters und sah sofort, dass sie nicht mehr vor Fieber
glänzten. Die Krise war überstanden. Sein Vater war noch am Leben.
Erleichterung, wie er sie noch nie empfunden hatte, durchströmte
ihn.
»Guten Morgen, Sir«, sagte er. »Du hast uns in
den letzten Tagen Grund für große Besorgnis geliefert. Wie fühlst
du dich?«
»Müde.« Fergus strich mit einer Hand über sein
Stoppelkinn. »Aber ich werde weiterleben. Das weiß ich
sicher.«
Caleb lächelte. »Sieht so aus. Bist du hungrig?
Ich lasse dir Tee und Toast bringen.«
»Vielleicht auch Eier und Speck«, sagte
Fergus.
»Jawohl, Sir.« Caleb griff nach dem samtenen
Glockenzug neben dem Bett. »Du wirst deiner Pflegerin schonend
beibringen müssen, dass du einem anständigen Frühstück gewachsen
bist. Unter uns gesagt, sie scheint mir ein wenig tyrannisch zu
sein.«
Fergus verzog das Gesicht. »Sie wird enttäuscht
sein, weil
ich ihre Erwartungen nicht erfülle. Sie war so sicher, dass ich
bei Tagesanbruch schon das Zeitliche gesegnet haben würde. Bezahl
sie und schick sie zum nächsten armen Teufel auf dem
Totenbett.«
»Wird gemacht«, gab Caleb zur Antwort.