28 Tage vor dem Ende
Es war nicht einfach gewesen, einen derart kurzfristigen Termin bei dem Heiligen Vater zu bekommen und Strenzler verdankte es nur der Tatsache, dass er dem Papst sehr nahestand, dass der ihm über seinen Sekretär dennoch für den Nachmittag zusagen ließ.
Nun saß Kardinal Strenzler dem Oberhaupt der katholischen Kirche gegenüber und begann das schwierige Gespräch gleich mit einer ungewöhnlichen Bitte. »Eure Heiligkeit, wäre es wohl möglich, dass wir unsere Unterhaltung in einem nicht-offiziellen Raum führen?«
Pius XIII. sah ihn überrascht an. »Aber Kardinal Strenzler, was spricht gegen ein Gespräch hier in meinem Arbeitszimmer?«
»Was ich Ihnen zu erzählen habe, ist von solcher Brisanz, dass ich absolut sichergehen möchte, keinen anderen Zuhörer als Jesus Christus und seinen irdischen Vertreter zu haben. Mir ist bewusst, dass diese Räumlichkeiten regelmäßig auf jegliche Art von versteckten Abhöreinrichtungen untersucht werden, aber ich möchte jedes noch so geringe Risiko ausschließen. Es könnte verheerende Folgen für die ganze Kirche haben, wenn das, was ich zu sagen habe, Dritten zu Ohren kommt.«
Pius XIII. sah ihn mit einer Mischung aus Überraschung und Interesse an. Schließlich nickte er und erhob sich. »Kommen Sie mit mir, Kardinal Strenzler.«
Sie verließen das Arbeitszimmer und gingen durch mehrere Flure, bis sie schließlich in einem kleinen, schlichten Raum angekommen waren, der keinerlei Möbel enthielt. Auf der gegenüberliegenden Seite befand sich eine massive Holztür, die der Papst mit einem Schlüssel öffnete, den er aus seiner Soutane zog. Dahinter tat sich eine kleine Kapelle auf. »Dies ist mein privater Zufluchtsort, Kardinal. Es gibt nur ganz wenige Menschen, die von dieser Kapelle wissen, und nur ich habe den Schlüssel dazu. Hierher komme ich, wenn mich Dinge beschäftigen, bei denen nur der Herr mir helfen kann. Treten Sie ein, bitte.«
Als der Papst das Licht angeschaltet hatte, sah Strenzler sich in dem Raum um, der von einem großen Kreuz an der Stirnseite beherrscht wurde. Etwa zwei Meter davor stand eine schmale Holzbank. Die Wände auf der linken und rechten Seite waren mit mehreren Bildern geschmückt, die Stationen im Leben Christi darstellten. Alles in allem wirkte der Raum spartanisch und ungemütlich. Kein Ort, an dem Kardinal Strenzler sich hätte wohlfühlen können.
Der Papst trat vor das Kreuz und kniete nieder. Mit gefalteten Händen sprach er ein kurzes Gebet, dann setzte er sich auf die Bank und sah seinen Begleiter auffordernd an.
Strenzler tat es ihm gleich und nahm neben ihm Platz. Die Bank war gerade breit genug, dass sie dicht nebeneinandersitzen konnten.
»Nun Kardinal, berichten Sie. Der einzige Zeuge hier wie überall ist Gott unser Herr.«
Strenzler dachte kurz nach. Er war dieses Gespräch und seinen möglichen Verlauf in der vergangenen Nacht immer und immer wieder durchgegangen. Es spielte letztendlich kaum eine Rolle, mit welchen Worten er begann. Was er Papst Pius XIII. sagen wollte, sagen musste, war eine Ungeheuerlichkeit, wie sie an einen Papst der Neuzeit sicher noch nie herangetragen worden war.
»Heiliger Vater, es ist der Moment gekommen, den ich seit Jahrzehnten gefürchtet, auf den ich aber auch gewartet habe. Es ist eine lange Geschichte, die ich erzählen muss, aber keine Einzelheit davon kann weggelassen werden. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, es ist wichtig für den Fortbestand der katholischen Kirche.«
Der Mann in der weißen Soutane sah ihm interessiert in die Augen und sagte ruhig: »Der Herr hat gewollt, dass Sie den Weg nach Rom finden. Er hat unsere Lebenswege so angelegt, dass sie sich treffen. Und niemand anderes als Christus selbst hat Sie heute zu mir geführt. Ich werde Ihnen zuhören.«
Kardinal Strenzler atmete tief durch.
»Eure Heiligkeit, die ganze katholische Kirche, selbst die Römische Kurie, ist infiltriert mit Mitgliedern einer Bruderschaft, die es sich vor rund fünfzig Jahren zum Ziel gemacht hat, die Kirche zu übernehmen. Ich bin ein ranghohes Mitglied dieser Bruderschaft und habe gestern Abend den Befehl erhalten, den Heiligen Vater zu töten.«
Es war gesagt! Und Kardinal Kurt Strenzler erlebte einen der wenigen Momente, in denen im Gesicht von Pius XIII. Überraschung zu lesen war.
Sekundenlang sahen sie sich stumm an, bis der Papst langsam den Kopf senkte und die Hände faltete. Strenzler wartete geduldig. Eine Minute verging und eine weitere. Dann richtete Pius XIII. den Blick wieder auf seinen Gesprächspartner. Seine Augen wirkten müde.
»Kardinal, ich kenne Sie lange, und wie ich denke auch gut. Ich glaube nicht, dass Sie ein Mensch sind, der zu übertriebenen Reaktionen neigt. Ich muss gestehen, zum jetzigen Zeitpunkt verstehe ich das, was Sie gerade gesagt haben, noch nicht. Darum bitte ich Sie, erzählen Sie mir Ihre Geschichte.«
Damit ließ er sich gegen die hölzerne Rückenlehne sinken und schloss die Augen. Und Strenzler erzählte.
Von dem Erlebnis mit seinem Vater im Alter von drei Jahren und dem Opfer seiner Mutter, die ihr Kind hergab, um es in Sicherheit zu wissen. Hier unterschied sich die Geschichte von der falschen Version, die Strenzler Bischof Corsetti erzählt hatte.
Der Bekannte seiner Mutter lebte nicht in Südafrika, sondern im süddeutschen Raum. Sein Name war Gerhard Gröllich und er war tatsächlich ein sehr gottesfürchtiger Mann gewesen.
Aber auch das erwähnte der Kardinal. »Ich habe Bischof Corsetti eine etwas abgewandelte Version dieses Teils meiner Lebensgeschichte erzählt, Heiliger Vater, aber das war unumgänglich, denn es war eine Forderung des Obersten der Bruderschaft, um den Bischof kennenzulernen. Ich konnte mich nicht widersetzen, ohne seinen Verdacht zu erregen.«
Dann fuhr er fort: »Eure Heiligkeit, ich habe meinen Vater gehasst für das, was er getan hat. Aber dieser Hass bezog sich lange Jahre ausschließlich auf ihn. Erst als ich langsam erwachsen wurde, änderte sich das. Ich begann irgendwann zu begreifen, dass mein Vater nur eine Marionette war. Die eigentlichen Täter waren andere. Das waren diejenigen, die den Hass unentwegt schürten und die Menschen verblendeten mit götzenhafter Symbolik und Gerede von Herrenmenschen und Untermenschen. Die den Rassenhass predigten. Damals habe ich mir geschworen, diese Unmenschen zu bekämpfen. Ich habe es mir zum Lebensziel gemacht. Dann, ich war noch ein junger Priester, wurde ich von einem anderen Geistlichen angesprochen, ob ich mit der Kirche zufrieden sei, so wie sie war. Ich tat interessiert und ließ mich auf ein Gespräch ein. Im Verlauf dieser Unterhaltung stellte sich heraus, dass es eine Gruppierung innerhalb der katholischen Kirche gab, die für eine Reformation eintrat.
Er erzählte mir vom Recht der Frau, selbst zu entscheiden, ob ein Kind geboren wird oder nicht, vom Recht eines katholischen Priesters, zu heiraten, und Ähnlichem. Dies alles wäre für mich höchstens ein Grund gewesen, meinen Bischof zu informieren, dann aber sagte dieser junge Mann etwas, das mich hellhörig werden ließ. Er sagte: >Es kann doch auch unmöglich die Aufgabe der Kirche sein, diese Schwarzen in Afrika zu ernähren, die nichts tun, als Kinder zu zeugen und sich dann in den Schatten zu legen, um dort abzuwarten, bis ein Geistlicher ihnen die Trauben servierte Ich war überrascht, solche Worte aus dem Mund eines Priesters zu hören, und fragte ihn, was genau diese Gruppe tat und was ihre Ziele waren. Er hielt sich jedoch bedeckt und lud mich zu einem Treffen ein.
Dort erfuhr ich dann schon etwas mehr über die Vorstellungen dieser Männer, wobei noch immer keine Rede von einer Bruderschaft war. Trotz der Plumpheit, mit der ich angesprochen worden war, gingen sie sehr behutsam vor. Es dauerte fast ein halbes Jahr, bis zum ersten Mal der Begriff der >Simonischen Bruderschaft < fiel.
Ich zeigte mich begeistert und verschrieb mich der Bruderschaft. Es dauerte ein weiteres ganzes Jahr, bis ich es geschafft hatte, den Obersten der Bruderschaft, den Magus, Friedrich von Keipen, persönlich zu treffen. Mir fiel gleich auf, dass er äußerst intelligent war, aber auch am Rande des Größenwahns stand. Nach diesem sehr entscheidenden Gespräch standen zwei Dinge für mich fest: Ich hatte Friedrich von Keipen von mir überzeugen können und - ich hatte meine Lebensaufgabe gefunden. Die Bruderschaft verkörperte all das, was ich so abgrundtief verabscheute.«
Der Papst hatte die Augen wieder geöffnet und hob die Hand ein Stück. »Ich kann mich noch gut an die >Reformer< erinnern, wie wir sie intern nannten. Und ich erinnere mich auch, dass Sie damals maßgeblich daran beteiligt waren, sehr viele dieser Männer zu identifizieren. Warum erzählten Sie uns damals nichts von der Bruderschaft? Es wäre Ihre christliche Pflicht gewesen.«
Schuldbewusst senkte Kardinal Strenzler den Blick. »Ich bekam während einem seiner Besuche in Deutschland einen Anruf von Friedrich von Keipen. Wir trafen uns in Aachen und er erzählte mir von seiner Idee, ich solle einige der Simoner an die Kongregation verraten, um so mit Bischof Corsetti und Ihnen in Ihrer damaligen Funktion in Kontakt zu kommen.
Es hätte nichts gebracht, damals die Bruderschaft zu erwähnen, Eure Heiligkeit. Friedrich von Keipen wäre nichts nachzuweisen gewesen. Die Bruderschaft war sehr gut organisiert. Sie hatten ein eigenes Internat, in dem sie ihren Nachwuchs heranzogen, allesamt spätere Theologiestudenten und Priester. Sie mussten zu diesem Zeitpunkt schon Hunderte, wenn nicht Tausende von ihren Schattenpriestern in den Reihen der Kirche untergebracht haben, ganz zu schweigen von denen, die sie >bekehrt< hatten. Doch die meisten von ihnen hielten sich zurück und waren nicht identifizierbar.«
Strenzler hielt einen Moment inne und rutschte von der Bank auf die Knie. Mit demütig gesenktem Kopf sagte er: »Ich weiß, ich habe viele Fehler gemacht, Heiliger Vater, und ich bitte Gott um Vergebung dafür. Es war selbstsüchtig von mir zu denken, nur ich alleine könnte diese Gefahr bannen. Aber ich wollte mein ganzes Leben lang nichts anderes, als die Kirche vor dieser Bruderschaft zu bewahren. «
Pius XIII. deutete ihm mit einer Handbewegung an, er solle sich wieder setzen. Dann sagte er nachdenklich: »Warum erzählen Sie mir das alles zum jetzigen Zeitpunkt, Kardinal Strenzler? Ist denn nun der Bruderschaft und diesem Magus etwas nachzuweisen außer mit Ihrer Aussage, die Sie auch schon damals hätten machen können?«
»Nein, Heiliger Vater. Das macht mich so verzweifelt. Aber die Situation ist durch den Befehl, den ich gestern Abend erhalten habe, eine völlig andere.«
Wieder schloss der Papst die Augen. Dieses Mal musste Strenzler fast zehn Minuten warten, bis er aufgefordert wurde: »Erzählen Sie mir alles, was Sie über die Bruderschaft und ihre Organisation wissen.«
Und Strenzler erzählte. Als er sich nach einer halben Stunde erschöpft zurücklehnte, kannte Pius XIII. die Organisation und die Ziele der Simonischen Bruderschaft. Er wusste, dass sogar große Teile der Kurie aus Simonern bestand.
»Kardinal, gibt es eine Auflistung mit den Namen all derer, die im Dienste der Kirche stehen und der Organisation angehören?«
Strenzler schüttelte den Kopf. »Nein, Heiliger Vater. Diese Information besitzt nur ein einziger Mensch, und das ist Friedrich von Keipen. Und ich bin mir sicher, er hat sie so aufbewahrt, dass wir sie niemals finden können.«
Der Papst nickte verstehend, dann erhob er sich.
»Kardinal, dies ist eine sehr schwierige Situation, und ich muss gestehen, dass ich noch nicht weiß, wie zu verfahren ist. Sie haben sich schuldig gemacht gegenüber Gott und der Kirche. Aber ich weiß auch, dass Sie ein gläubiger Christ sind und ein sehr guter Geistlicher. Ihre Aufgaben innerhalb der Kurie haben Sie sehr gewissenhaft und zum Wohle unseres Herrn und der Kirche erfüllt. Ich werde über Ihre Person nachdenken müssen.
Das, was Sie mir hier eröffnet haben, lastet schwer auf meinen Schultern. Ich werde in mich gehen und den Herrn bitten, mir in dieser schweren Stunde zur Seite zu stehen. Ich bitte Sie, nun zu gehen, damit ich zum Gebet alleine sein kann.«
Kardinal Strenzler nahm seine Hand und küsste den Ring. »Danke, Eure Heiligkeit.«
Dann wandte er sich ab und ging auf die Tür zu. Kurz, bevor er sie erreicht hatte, fragte der Papst: »Wann und wie möchte man, dass ich getötet werde, Kardinal?«
Strenzler drehte sich um und ging zurück.
»Innerhalb einer Woche. Wie, ist mir überlassen.«
Pius XIII. nickte, als hätte er genau diese Antwort erwartet. »Ich denke, Sie hätten gute Chancen, nach meinem Tod zu meinem Nachfolger gewählt zu werden. Ist es das, worauf dieser Mensch spekuliert?«
Strenzlers Blick heftete sich auf das große Kreuz vor ihm. Mit leiser Stimme sagte er: »Herr, vergib mir.« Dann senkte er zum wiederholten Mal den Kopf und sagte leise: »Ja, Heiliger Vater. Damit hätte er die katholische Kirche in der Hand.«
Das Kirchenoberhaupt setzte sich nachdenklich wieder auf die Holzbank.
»Was genau würde geschehen, wenn Sie Papst wären?«
»Friedrich von Keipen käme nach Rom, um hinter mir die Fäden in die Hand zu nehmen. Meine erste Aufgabe würde es sein, offiziell die Reform der Kirche im Sinne der Bruderschaft einzuläuten. Die Kurie und die Bischöfe auf der ganzen Welt würden durch Simoner und ihre Helfer ersetzt.« Er machte einen Moment Pause, bevor er leise weitersprach. »Eine dunkle Zeit würde für die Menschheit beginnen.«
Pius XIII. kniete wieder nieder. Den Blick auf das Kreuz geheftet, sagte er: »Kommen Sie morgen Abend um zwanzig Uhr wieder hierher. Nun gehen Sie bitte.«
Aufgewühlt verließ der Kardinal die Kapelle.
In seiner Wohnung angekommen, setzte sich Kardinal Strenzler auf einen Stuhl und atmete tief durch.
Was würde der Papst nun unternehmen? Das Kirchenoberhaupt war ein sehr intelligenter Mann und die Kirche hatte weltweit die einflussreichsten Verbindungen. Strenzler war sicher, Pius XIII. würde noch an diesem Nachmittag eine Maschinerie in Gang setzen, die es mit jedem Geheimdienst dieser Welt aufnehmen konnte. Er wusste erst seit Kurzem, dass es diese geheime Organisation gab, die dem Papst direkt unterstellt war. Erst in seiner Funktion als Präfekt der Glaubenskongregation hatte er unter dem Eid der Geheimhaltung davon erfahren.
Ebenfalls war er sicher, dass der Papst bis zum nächsten Abend einiges von dem, was er von ihm erfahren hatte, bestätigt bekam. Die Frage war, wie er darauf reagieren würde.
Kardinal Strenzler hoffte inständig, dass Friedrich von Keipen nichts von dem erfuhr, was vor sich ging.