5. August 1969 - Vatikan
Leonardo Corsetti betrachtete die bunte Briefmarke in der oberen rechten Ecke des weißen Kuverts, das ihm der Botendienst soeben vorbeigebracht hatte. Es war eine südafrikanische Marke, abgestempelt zwei Wochen zuvor in Kimberley.
Zwei Wochen! Corsetti schüttelte den Kopf. Es war ihm unverständlich, wie es in der heutigen Zeit mit ihren modernen Verkehrsmitteln möglich war, dass ein Brief aus Südafrika zwei Wochen benötigte, bis er in Rom eintraf, wo doch ein Flugzeug diese Strecke in wenigen Stunden zurücklegen konnte.
Er drehte den Brief zum wiederholten Male um, aber die Rückseite war leer. Ein Brief ohne Absender an die Kongregation für die Glaubenslehre.
Corsetti dachte daran, wie viele Briefe auch jetzt noch, über vier Jahre nach Beendigung des zweiten Vatikanischen Konzils, an das Heilige Offizium adressiert wurden. Es war unglaublich, wie viele Menschen noch nicht mitbekommen hatten, dass es das Offizium nicht mehr gab.
Corsetti lehnte sich zurück und ließ seine Gedanken noch einmal zu dem denkwürdigen Abend vor der Beendigung des Konzils zurückwandern.
Als Papst Klemens XV. das Ende der 400 Jahre alten römischen Inquisition in ihrer veralteten Form verkündete, waren die Reaktionen der Kurienmitglieder darauf sehr unterschiedlich gewesen.
Die meisten Kardinäle und Bischöfe zeigten offen ihre Zufriedenheit über diesen Schritt, doch einige Konservative, allen voran Corsettis Vorgesetzter und Präfekt eben jenes Offiziums, Kardinal Benino Campisi, waren entsetzt.
Das Offizium war nicht mehr die »Suprema Congregatio«, vor der selbst die Päpste Angst hatten. Es wurde auf eine ganz normale Kongregation herabgestuft und bekam einen neuen Namen: Kongregation für die Glaubenslehre.
Für Kardinal Campisi war es das Ende seiner kirchlichen Laufbahn. Er wurde zwar noch immer als Präfekt der Kongregation eingesetzt, aber er konnte oder wollte sich in die neue Zeit nicht einfügen. Nach nur einem halben Jahr bat er den Papst um den Ruhestand, den dieser ihm auch gewährte.
Seitdem hatte Corsetti einen neuen Chef, der ihn schließlich im vergangenen Jahr zum Sekretär der Kongregation gemacht hatte.
Kardinal Jan de Riemer war ein noch recht junger, dynamischer Niederländer, der neue Prioritäten für die Nachfolgeorganisation der Inquisition gesetzt hatte. Oberstes Ziel war zwar immer noch, den Kommunismus zu bekämpfen, wo immer und so gründlich es möglich war, aber de Riemer war davon nicht so besessen, wie es sein Vorgänger gewesen war. Er schaffte Raum für andere Belange.
Corsetti nahm den Brieföffner und schlitzte das Kuvert auf. Das schlichte weiße Blatt, das er herauszog, war nur einseitig beschrieben. Sein erster Blick galt der Unterschrift, aber die machte das Schreiben eher noch geheimnisvoller.
Jemand, der es gut meint, stand am unteren Ende. Die Handschrift war etwas zittrig, aber trotzdem gut zu entziffern und so begann er, den Brief zu lesen.
Wer immer diese Zeilen auch lesen mag, möge sie sehr ernst nehmen, denn es handelt sich um eine Angelegenheit, die über die Zukunft der katholischen Kirche und das Leben vieler ihrer Mitglieder entscheiden wird.
In die Reihen der Kirche hat sich eine Bruderschaft eingeschlichen, deren Ziel eine Reformation ist, die die katholische Kirche bis in ihre Grundmauern erschüttern wird. Sie wollen selbst die Mitglieder der Kurie durch ihre eigenen Männer ersetzen. Sie breiten sich mit rasch wachsender Geschwindigkeit aus und werden auch vor Rom nicht haltmachen. Einige befinden sich bereits im Zentrum des Vatikans.
Sie haben eine Truppe aus Söldnern zusammengestellt, die den Auftrag haben, jeden umzubringen, der sich der Organisation in den Weg stellt.
Seien Sie auf der Hut und denken Sie an diesen Brief, wenn Sie in Ihren Reihen von mysteriösen Todesfällen hören.
Mehr kann ich Ihnen nicht mitteilen, denn ich verrate schon hiermit fünfundzwanzig Jahre meines Lebens.
Jemand, der es gut meint.
Corsetti ließ das Blatt sinken und blickte nachdenklich auf das grobe Holzkreuz, das über der Tür hing.
Während des Lesens hatte ihn ein eigenartiges Gefühl beschlichen. Eine Art Dejá-vu. An irgendetwas erinnerten ihn diese Zeilen, aber es wollte ihm nicht einfallen, was es war.
Es war nicht das erste Mal, dass er ein solches Schreiben in Händen hielt. Meist stellte es sich als Verschwörungstheorie eines geistig verwirrten Menschen heraus, aber eine innere Stimme sagte ihm, dass dieser Brief anders war. Wenn ihm nur einfiele, was ihm daran so bekannt vorkam.
Corsetti faltete das Blatt zusammen und stand auf. Er musste es Kardinal de Riemer zeigen. Danach würde man weitersehen.
In diesem Moment wurde die Tür ohne vorheriges Anklopfen geöffnet und Pater Simone Allessino, der neue Untersekretär der Glaubenskongregation, betrat mit aschfahlem Gesicht den Raum.
Corsetti spürte sofort, dass etwas Bedeutendes geschehen sein musste. So hatte er den jungen, lebhaften Italiener noch nie gesehen. Er stand einfach nur da mit hängenden Schultern und glasigem Blick, als hätte er geweint.
Corsetti ging auf ihn zu und fasste ihn an der Schulter. »Was ist mit Ihnen? Ist etwas geschehen? So reden Sie doch.« Allessino senkte den Kopf und sagte mit leiser Stimme: »Der Heilige Vater. Er hatte einen Herzinfarkt. Er… er ist tot.«
Der Brief fiel zu Boden und blieb vor dem Schreibtisch liegen. Corsetti fasste sich an die Stirn und tastete mit der anderen Hand nach der Lehne des Sessels, der neben ihm an der Wand stand. Als er sie zu fassen bekam, stützte er sich daran ab und ließ sich unendlich langsam nieder.
»Aber wann … wie ist das möglich … wie kann …«, stammelte er. Er hatte das Gefühl, ein glühender Pfeil bohre sich in sein Herz. Er merkte nicht, dass Allessino den Raum wieder verlassen hatte.
Papst Klemens XV. Tot.
Zwei Tage zuvor war er noch mit Kardinal de Riemer bei ihm gewesen. Sie hatten sich mit ihm über Professor Krull unterhalten, einen deutschen Theologen, der sich zur so genannten »Befreiungstheologie« bekannt hatte. Der Heilige Vater hatte seinen Unmut über Krull ausgedrückt und de Riemer gebeten, eine Untersuchung einzuleiten, was noch fünf Jahre zuvor einen »Inquisitionsprozess« nach sich gezogen hätte.
Klemens XV. hatte viele Neuerungen eingeführt, war aber in Glaubensfragen konservativ geblieben und hatte keine Ausreißer in den eigenen Reihen geduldet. Seine größte Sorge galt stets dem Zusammenhalt und geschlossenen Auftreten der Kirche.
Nun war er tot. Wer würde folgen? Was würde folgen? Leonardo Corsetti barg das Gesicht in beide Hände. Den Brief aus Südafrika hatte er erst einmal vergessen.