12. Januar 1959 - Kimberley

Es war später Nachmittag. Friedrich saß hinter seinem Schreibtisch, auf dem sich die Akten zu Bergen türmten. Seit Wochen schon arbeitete er sich durch Hermann von Settlers private Aufzeichnungen, die er ein gutes Jahr vor der offiziellen Gründung der Bruderschaft begonnen hatte. Es war erstaunlich, mit wem von Settler alles Kontakt gepflegt hatte. Mit einigen hatte Friedrich schon Verbindung aufgenommen, doch er war sicher, dass die Papiere noch viele Überraschungen für ihn bereithielten.

Motorengeräusch drang durch das gekippte Fenster zu ihm und riss ihn aus seinen Gedanken. Das musste dieser Gerald sein.

Gerald von Settler war ein Cousin von Hermann von Settler. Kurz vor seinem Tod hatte von Settler einen langen Brief nach Berlin geschrieben und seinem einzigen noch lebenden Verwandten von seiner Krankheit berichtet. Friedrich hatte er erzählt, dass der Kontakt zu seinem Cousin zwar schon vor vielen Jahren abgerissen sei, er aber trotzdem wolle, dass Gerald von seinem Tod erfahre, wenn es so weit sei. Er habe für Gerald in seinem Schreibtisch einen Umschlag deponiert, der eine kleine Summe enthalte. Friedrich musste ihm geloben, Gerald diesen Umschlag zu gegebener Zeit zukommen zu lassen. Friedrich hatte es damals als eine für von Settler zwar ungewöhnliche, aber in Anbetracht seines nahen Todes verständliche sentimentale Anwandlung gehalten und ihm das Versprechen gegeben. Nur drei Tage nachdem er Gerald vom Tod seines Cousins unterrichtet und gefragt hatte, wie er ihm die Hinterlassenschaft zukommen lassen solle, war Geralds Antwort telegrafisch bei ihm eingetroffen.

Werde voraussichtlich am 12. Januar in Kimberley eintreffen. Alles Weitere dann vor Ort.

Gerald von Settler

Alles Weitere dann vor Ort: Die letzten beiden Monate war Friedrich das Gefühl nicht losgeworden, dass ihm Gerald von Settler Schwierigkeiten machen würde.

In einem weiteren Telegramm vor wenigen Tagen hatte Gerald dann seine genaue Ankunftszeit mitgeteilt und darum gebeten, vom Bahnhof in Kimberley abgeholt zu werden. Nun schien er angekommen zu sein. Friedrich erhob sich mit einer Mischung aus Spannung und Neugierde und trat ans Fenster.

Der Fahrer hatte den offenen Jeep in einer Staubwolke direkt vor der Veranda zum Stehen gebracht. Neben ihm saß ein älterer Mann, der Gerald sein musste. Er trug ein khakifarbenes Hemd und einen Tropenhelm, als wäre er zu einer Safari unterwegs. Das blasse, verkniffene Gesicht stand in geradezu lächerlichem Gegensatz dazu. Soweit Friedrich es vom Fenster aus beurteilen konnte, schien Gerald von Settler recht klein und stark übergewichtig zu sein. Friedrichs Blick wanderte darauf zur Rücksitzbank des Wagens, auf der ein deutlich jüngerer Mann saß. Er mochte ein wenig älter als Friedrich sein und hatte ein sehr markantes Gesicht. Gelangweilt blickte er sich um. Friedrich fragte sich, wer dieser junge Mann sein mochte und warum Gerald ihm nicht mitgeteilt hatte, dass er in Begleitung kommen würde. Mit einem unguten Gefühl wandte er sich vom Fenster ab und verließ das Arbeitszimmer, um seine Gäste zu begrüßen.

Als er die Veranda betrat, waren die beiden Männer bereits aus dem Wagen gestiegen. Zwischen ihnen standen zwei kleine, vollkommen gleich aussehende Koffer im Staub. Die Vermutung lag nahe, dass sie extra für diese Reise gekauft worden waren.

»Willkommen in Kimberley«, sagte Friedrich mit einem Lächeln und stieg die Stufen zu ihnen hinunter. Hermanns Cousin war fast einen Kopf kleiner als Friedrich, wog aber mindestens das Anderthalbfache. Schweiß lief ihm in kleinen Rinnsalen über die fleischigen Wangen.

»Guten Tag. Herr von Keipen, nehme ich an? Ich bin Gerald von Settler.«

Der Dicke nahm dabei Haltung an und nickte kurz mit dem Kopf. Fehlt nur noch, dass er die Hacken zusammenschlägt, dachte Friedrich.

»Ich möchte Ihnen meinen Begleiter vorstellen.« Er wies mit dem Kopf zu dem Jüngeren, der Friedrich freundlich angrinste. »Kurt Scholler, einer der besten Rechtsanwälte Berlins.«

Ein Rechtsanwalt. Warum brachte von Settler einen Rechtsanwalt mit? Das ungute Gefühl in Friedrich verstärkte sich noch. Er schüttelte den Männern die Hand und lächelte Scholler zu. »Ich hoffe doch nicht, dass ich einen Rechtsanwalt brauchen werde.«

»Sie nicht«, sagte von Settler mit unbewegtem Gesicht.

Friedrich überging die Bemerkung und winkte einen Bediensteten herbei, der gerade die Treppe zur Veranda fegte. Er zeigte kurz auf die beiden Koffer und wandte sich dann wieder Gerald von Settler zu.

»Lassen Sie uns ins Haus gehen. Dort ist es etwas kühler als hier. Ich darf vorgehen?«

Er geleitete seinen Besuch in das große Wohnzimmer und bat sie, Platz zu nehmen. Kaum dass sie saßen, brachte Jasmine ein Tablett mit Gläsern voller Limonade. Ihr enormer Busen drohte bei jedem Schritt auf das Tablett zu plumpsen und die Getränke umzustoßen. Nachdem sie einen Schluck der kalten Limonade genommen hatten, erhob sich Gerald von Settler jedoch sofort wieder und wollte wissen, wo man seinen Koffer hingebracht habe. Er wirkte nervös und schwitzte auf einmal noch stärker als bei seiner Ankunft.

»Es ist an der Zeit, dass ich meine Medikamente nehme«, erklärte er.

Friedrich setzte eine besorgte Miene auf. »Ich hoffe, es ist nichts Ernstes, Herr von Settler. Ihr Zimmer ist in der ersten Etage. Gleich rechts neben der Treppe. Soll Sie jemand hinaufbegleiten?«

»Nein, danke«, antwortete von Settler knapp und verließ den Raum.

Friedrich sah Kurt Scholler an. »Ist er ernsthaft krank?«

Scholler grinste. »Alle fetten alten Männer sind ernsthaft krank, Herr von Keipen.«

Die Antwort überraschte Friedrich. »Das hört sich ja fast an, als täte er Ihnen gar nicht leid.«

Scholler antwortete ihm nicht gleich, sondern trank erst einmal genüsslich einen großen Schluck. Das Glas behielt er in der Hand, als er seinen Gastgeber ansah.

»Warten Sie ab, Herr von Keipen. Wenn Sie gehört haben, warum er hier ist, wird er Ihnen auch nicht mehr leidtun, dessen bin ich mir ganz sicher.«

Friedrichs Augen wurden zu Schlitzen. »Was meinen Sie damit?«

Schollers Grinsen wurde nun noch breiter. »Ich möchte nicht vorgreifen, das werden Sie verstehen; aber er hat mich nicht mitgenommen, um mir einen kostenlosen Urlaub zu bescheren. Sie werden es gleich selbst von ihm erfahren.«

Also doch. Sein Gefühl hatte ihn nicht getäuscht. Von Settlers Cousin war nach Kimberley gekommen, um ihm Ärger zu machen. Da er von Hermann von Settler wusste, dass Gerald von Settler von der Bruderschaft nichts ahnte, konnte es nur darum gehen, dass Friedrich als Alleinerbe eingesetzt worden war.

Als wolle er Friedrichs Gedanken bestätigen, kam Gerald im selben Moment wieder zur Tür herein und sagte, noch bevor er sich gesetzt hatte: »Herr von Keipen, ich bin kein Freund großer Reden. Ich möchte wissen, wie viel Hermann mir hinterlassen hat. Und dann will ich das Testament sehen. Es erscheint mir doch sehr seltsam, dass er Ihnen den gesamten Settler’schen Familienbesitz vermacht haben soll.«

Schwer ließ er sich in den Sessel fallen und blickte Friedrich in die Augen. Der lächelte bemüht freundlich.

»Herr von Settler, ich habe keine Ahnung, wie viel Hermann Ihnen hinterlassen hat. Das Geld liegt in einem versiegelten Umschlag für Sie bereit. Ich werde ihn gleich für Sie holen gehen. Selbstverständlich können Sie auch das Testament einsehen. Das ist Ihr gutes Recht. Dass Hermann mir den Familienbesitz vererbt hat, ist aber nicht so seltsam, wie es Ihnen erscheint. Ich lebe hier seit meinem vierzehnten Lebensjahr und war für Hermann so etwas wie der Sohn, den er nie hatte. Zudem verwalte ich seit einigen Jahren sein Anwesen und führe seine Unternehmen, und das recht erfolgreich. Es war Hermann wichtig, dass der Familienbesitz zusammengehalten wird. Und wenn Sie mir gestatten, noch etwas hinzuzufügen: Obwohl Sie ein Verwandter von ihm sind, war Ihr Verhältnis zueinander doch wohl eher lockerer Natur, um nicht zu sagen, es hat praktisch nicht bestanden. Vor diesem Hintergrund erscheint sein Entschluss, mich als Alleinerben einzusetzen, gar nicht mehr so seltsam, finden Sie nicht auch?«

Gerald von Settler schüttelte aufgebracht den Kopf, wobei seine fleischigen Wangen hin-und herschwabbelten.

»Nein, Herr von Keipen, das finde ich nicht. Und ich sage Ihnen gleich - ich glaube es auch nicht. Hermann hatte Sie in dem Brief, den er mir kurz vor seinem Tod geschickt hatte, als seinen Pflegesohn bezeichnet, das stimmt. Aber er hatte mir darin auch anvertraut, dass es ihm sehr schlecht gehe und er manches Mal das Gefühl habe, die Schmerzen würden ihn verrückt machen. Es war ein sehr persönlicher Brief, den er sicherlich nicht geschrieben hätte, wenn er sich von seiner Familie losgesagt hätte. Wer weiß, vielleicht haben Sie einen Moment geistiger Schwäche abgepasst, um ihm das Testament unterzuschieben, in dem Sie sich als Alleinerbe eingesetzt haben.« Friedrich wollte auffahren, doch Gerald von Settler winkte ab. »Immer mit der Ruhe, Herr von Keipen. Holen Sie mir zuerst einmal den Umschlag und das Testament. Zudem wäre es angebracht, wenn Sie mir auch gleich eine Auflistung des gesamten Vermögens geben würden. Bitte vollständig, mit Barvermögen und Immobilienbesitz sowie allen zum Settler’schen Familienunternehmen gehörenden Einzelfirmen. Danach sehen wir weiter.«

Friedrich spürte eine erneute Welle unbändigen Zorns durch seinen Körper jagen, die jedoch gleich darauf stoischer Ruhe Platz machte. Ohne sichtbare Regung sah er den Dicken nun an.

»Umschlag und Testament bekommen Sie, alles andere - nein. Ich bitte Sie um Verständnis dafür, dass ich einem Fremden keinen Einblick in meine Unternehmensführung gewähren kann.«

Von Settler fuhr mit einer für seine Leibesfülle überraschenden Geschwindigkeit wütend hoch. »Einem Fremden?« Seine Stimme überschlug sich. »Was maßen Sie sich an?! Wir reden hier über den Familienbesitz der von Settlers. Und ich bin ein von Settler! Ich habe ein Recht…«

»Nein, das haben Sie nicht, denn es handelt sich nicht mehr um den Familienbesitz der von Settlers, sondern um den von Friedrich von Keipen. Und der bin ich.«

Ohne ein weiteres Wort des dicken Mannes abzuwarten, verließ Friedrich den Raum und ging in sein Arbeitszimmer, um den Umschlag und das Testament zu holen. Nachdem er den Tresor wieder verschlossen hatte, hielt er einen Moment inne. Von Settler hatte keine rechtliche Handhabe gegen ihn und ein Rechtsanwalt würde ihm wenig nützen, zumal er hier in Kimberley klagen müsste. Hermann von Settlers Testament war unanfechtbar. Was Friedrich allerdings Sorgen machte, war die Tatsache, dass vielleicht in den Finanzen seiner Firmen herumgeschnüffelt wurde, sollte von Settler klagen. Dabei könnten Dinge ans Tageslicht kommen, die Friedrich lieber im Dunkeln lassen wollte. Wenn es ihm nicht gelang, von Settler davon zu überzeugen, dass er einen Prozess auf jeden Fall verlieren würde, würde er zu anderen Mitteln greifen müssen. Er ärgerte sich, dass er Hermanns sentimentaler Bitte nachgekommen war und diesen Gerald benachrichtigt hatte. Mit einem leisen Fluch verließ er sein Arbeitszimmer.

Als er das Wohnzimmer betrat, hatten die Männer die Köpfe zusammengesteckt und waren anscheinend in eine Diskussion vertieft, die sie jedoch sofort abbrachen, als sie Friedrich hereinkommen sahen.

»Hier sind Umschlag und Testament, Herr von Settler. Wenn Sie möchten, gehe ich eine Weile nach draußen, damit Sie beides mit Ihrem Rechtsanwalt in Ruhe begutachten können.«

Friedrich ignorierte von Settlers ausgestreckte Hand und ließ die beiden Umschläge auf das Tischchen neben dessen Sessel fallen. Gerald von Settler warf einen kurzen Blick darauf und nickte.

»Ja, es wäre gut, wenn ich einen Moment allein sein und meines Cousins gedenken könnte. Herr Scholler wird Sie hinausbegleiten. Das Testament kann er sich, falls nötig, später ansehen.«

Kurt Scholler zog die Augenbrauen hoch, erhob sich dann aber wortlos und ging an Friedrich vorbei aus dem Zimmer. Friedrich warf dem dicken Mann noch einen abschätzigen Blick zu und folgte dem Rechtsanwalt.

Scholler hatte im Schatten der Veranda bereits in einem der Korbsessel Platz genommen, als Friedrich aus der Tür trat.

»Wie sind Sie eigentlich nach Südafrika gekommen, Herr von Keipen?«, fragte der Rechtsanwalt rundheraus und deutete gönnerhaft auf den Sessel ihm gegenüber.

Friedrich sah Kurt Scholler in die Augen und stellte fest, dass er ihm sympathisch war, ohne dass er den Grund dafür hätte nennen können. Vielleicht war es sein offener Blick, der ihm dieses Gefühl vermittelte. Vielleicht war das aber auch der Grund, warum er als Rechtsanwalt so erfolgreich war. Friedrich beschloss, dass es besser war, sich vor dem Mann in Acht zu nehmen. Deshalb erzählte er ihm die Geschichte, die er sich noch zusammen mit von Settler ausgedacht hatte.

»Hermann von Settler und mein Vater kannten sich aus dem Krieg. Sie hatten zusammen als Offiziere gedient. Als der Krieg verloren war, hat mein Vater das nicht verkraftet. Er fand nicht mehr zurück ins normale Leben und erhängte sich kurz nach Kriegsende in seinem Keller, umgeben von Zinnsoldaten. Meine Mutter hatte sich schon Jahre vorher in ihre eigene Welt zurückgezogen. Eine Welt, in der mein älterer Bruder nicht gefallen war und die nur aus ihm und ihr bestand. Ich war damals gerade erst vierzehn Jahre alt. Zu jung, um alleine klarzukommen. Wahrscheinlich hätte ich meine Jugend in einem Internat verbracht, wenn nicht plötzlich Hermann vor der Tür gestanden hätte. Er wollte seinen Kriegskameraden besuchen und kam gerade rechtzeitig zu dessen Beerdigung. Hermann machte mir den Vorschlag, mit ihm nach Kimberley zu kommen, dort eine deutsche Schule zu besuchen und anschließend in seinem Unternehmen zu arbeiten. Ich sagte zu.«

Friedrich verstummte, scheinbar in seine Erinnerungen vertieft. Erst nach einer Weile sah er auf.

»Und wie ist es mit Ihnen, Herr Scholler? Woher kennen Sie Gerald von Settler? Und - wie gut kennen Sie ihn?«

Wieder das typische Scholler-Grinsen.

»Oh, wenn man einige Wochen als >gut< bezeichnen möchte, dann kenne ich ihn gut. Ich habe ihn zufällig bei einer Feier kennengelernt. Als er hörte, dass ich Rechtsanwalt bin, hat er mich gleich gefragt, ob ich gerade sehr viele Mandanten habe, was nicht der Fall war. Daraufhin hat er mich gebeten, in einer Nachlassangelegenheit mit ihm nach Südafrika zu reisen. Vor der Abreise haben wir uns noch drei-, viermal gesehen.«

Friedrich nickte. »Was ich allerdings nicht verstehe, Herr Scholler: Wie ist es möglich, dass einer der besten Rechtsanwälte Berlins gerade nicht viele Mandanten hat? Gibt es keine Verbrecher mehr in Berlin? Keine Rechtsstreitigkeiten?«

Scholler musterte Friedrich einen Moment, dann grinste er wieder. »Das, Herr von Keipen, liegt daran, dass einer der besten Rechtsanwälte Berlins ein wenig mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist, weil er einige Geldgeschäfte getätigt hat, die, sagen wir mal, nicht ganz astrein waren.«

Friedrich war verblüfft über die Offenheit, mit der Scholler ihm von seinen Machenschaften berichtete.

»Ihnen ist schon klar, dass Sie mir damit ein Ass in die Hand gegeben haben für den Fall, dass es zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung kommt, oder?«

»Ja, Herr von Keipen, das ist mir völlig klar. Und ich verrate Ihnen noch etwas. Ich mag diesen geldgierigen Fettsack nicht und habe ihn nur aus einem Grund begleitet: Weil es eine gute Möglichkeit für mich war, erst einmal aus Deutschland zu verschwinden.«

Sekundenlang taxierten sie sich. Nach einer Weile erhob Friedrich sich. Er hatte beschlossen, auf der Hut zu sein, ließ sich aber nichts anmerken.

»Nun, dann lassen Sie uns doch einmal sehen, ob Herr von Settler sein Erbe schon gezählt hat.«

Gerald von Settler blickte den Männern finster entgegen. Neben ihm auf dem Tisch lag ein Bündel Geldscheine, auf das er nun deutete.

»Zehntausend Mark, Herr von Keipen. Zehntausend! Von einem Millionenvermögen. Was denken Sie sich eigentlich?«

Friedrich hob überrascht die Augenbrauen. »Zehntausend? Das ist eine enorme Summe. Ich hätte nicht gedacht, dass Hermann jemandem so viel Geld schenkt, mit dem er praktisch nichts zu tun hatte.«

Von Settler sog tief die Luft ein, entgegnete aber nichts, sondern warf einen Blick auf seine Uhr. »Ich denke, ich werde mich heute Abend früh zurückziehen, um mit Herrn Scholler das weitere Vorgehen zu besprechen. Aber ich kann Ihnen schon jetzt versichern, dass ich mich nicht mit dieser lächerlichen Summe abspeisen lasse. Vielleicht nutzen auch Sie den heutigen Abend und überlegen, wie wir zu einer für alle zufriedenstellenden Einigung gelangen können.« Wieder ein Blick auf die Armbanduhr. »Ich werde mich nun frisch machen gehen. Es war eine lange und anstrengende Reise. Für wann ist das Abendessen geplant? «

Friedrich rang sich ein höfliches Lächeln ab. »Ich schlage vor, in einer Stunde, damit Ihnen anschließend genügend Zeit für Ihre Besprechung bleibt. Sollten Sie noch etwas benötigen, wenden Sie sich bitte vertrauensvoll an Jasmine.«

Damit verließ er den Raum. In seinem Arbeitszimmer schenkte er sich einen Cognac ein und setzte sich damit in einen der wuchtigen Ledersessel. Gerald von Settlers Worte gingen ihm wieder durch den Kopf. Vielleicht nutzen auch Sie den heutigen Abend und überlegen, wie wir zu einer für alle zufriedenstellenden Einigung gelangen können. Das würde er tun. Allerdings würden seine Überlegungen in eine andere Richtung gehen, als Gerald von Settler sich das dachte.

Am nächsten Morgen war Friedrich schon früh auf. Das Essen am Vorabend hatte in einer unterkühlten Atmosphäre stattgefunden, in der sie es vermieden, von Settlers Testament noch einmal zu erwähnen. Sie hatten sich über Belanglosigkeiten unterhalten, zu denen Gerald von Settler nur hier und da ein paar Worte beisteuerte. Der Einzige, der in dieser Situation eine geradezu provozierend gute Laune an den Tag gelegt hatte, war Kurt Scholler gewesen. Gleich nach dem Essen hatten sich die beiden dann zurückgezogen. Friedrich selbst war in der Nacht einige Male aufgewacht, und als schließlich das erste Tageslicht die Einzelheiten in seinem Zimmer erkennen ließ, war er aufgestanden.

Mit einer dampfenden Tasse Kaffee in der Hand ging er auf die Veranda und setzte sich in einen der Korbsessel. Er liebte diese frühen Morgenstunden, wenn alle anderen noch schliefen. Die Stille gab ihm das Gefühl, alleine auf der Welt zu sein. Welch herrliche Utopie. So in seine Gedanken versunken, schrak Friedrich deshalb auch zusammen, als die Tür jäh aufgestoßen wurde und Kurt Scholler auf die Veranda trat.

»Ah, guten Morgen, Herr von Keipen«, sagte er gut gelaunt. Im Gegensatz zu Friedrich schien er keineswegs überrascht zu sein, den anderen um diese Uhrzeit schon wach zu sehen.

»Guten Morgen, Herr Anwalt. Ihrer ungezwungenen Stimmung zufolge scheint die gestrige Besprechung mit Herrn von Settler erfolgreich gewesen zu sein. Sie sind früh auf den Beinen. Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«

Scholler schüttelte den Kopf und setzte sich neben Friedrich. »Nein, danke. Ich trinke nie Kaffee. Und was Ihre erste Bemerkung betrifft… ich möchte es mal so formulieren: Ich habe in der vergangenen Nacht das gefunden, was Herr von Settler sich gewünscht hat: eine Lösung, die mit absoluter Sicherheit von beiden Parteien akzeptiert werden wird. Ich brauche für die letzten Einzelheiten zwar noch Ihre Hilfe, aber das sollte kein Problem darstellen.«

Friedrich setzte seine Tasse ab. »So, so, >mit absoluter Sicherheit< also. Sie machen mich neugierig, Herr Anwalt. «

»Der arme Herr von Settler ist heute Nacht leider verstorben«, sagte Scholler in so ungezwungenem Plauderton, als würde er vom Wetter der nächsten Woche reden.

Friedrichs Muskeln spannten sich. Er sah Scholler mit großen Augen an.

»Was sagen Sie da? Von Settler ist tot? Wie ist das möglich? Was ist geschehen?«

Das Grinsen des Rechtsanwaltes wurde breiter. »Nun, der Bedauernswerte ist an einem Kissen erstickt, das auf sein Gesicht drückte. Vielleicht hat auch einfach sein Herz ausgesetzt, als er in Panik geriet. Sein Herz machte ihm schon länger Probleme, wissen Sie. Er musste regelmäßig Medikamente nehmen.« »Sie haben …«

»Ich habe das getan, wofür Herr von Settler mich engagiert hat: Ich habe die Nachlassangelegenheit geregelt.« Er stieß ein kurzes Lachen aus. »Dummerweise wird mein Klient mich nicht mehr für meine Dienste bezahlen können. Aber vielleicht sind ja Sie so freundlich, das für ihn zu übernehmen.«

Friedrichs Augen verengten sich. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Herr Scholler. Was veranlasst Sie zu glauben, ich würde einen Mord gutheißen und Sie dafür gar noch bezahlen?«

Scholler sah ihn gutgelaunt an. »Zwei Dinge, Herr von Keipen. Erstens meine Menschenkenntnis, die mir sagt, dass Sie solch innovativen Lösungen gegenüber aufgeschlossen sind. Und zweitens der Mut der Verzweiflung. Ich erwähnte schon, dass in Deutschland der Boden für mich zu heiß geworden ist. Ich würde gerne hierbleiben und für Sie arbeiten. Betrachten Sie meine schnelle >Lösung< Ihres Problems einfach als eine Bewerbung.«

Lange sahen sie sich in die Augen. Schließlich nickte Friedrich. »Ich schätze Menschen, die im richtigen Moment die richtigen Entscheidungen treffen. Ich denke, ich werde Verwendung für Sie haben. Aber ich warne Sie: Auch ich scheue vor nichts zurück, wenn es darum geht, eine >Lösung< für ein Problem zu finden. Und nun sagen Sie mir, was Sie mit den >letzten Einzelheiten< gemeint haben, für die Sie meine Hilfe benötigen.«

»Nun, wie schon erwähnt, hat sein Herz ausgesetzt. Vielleicht kennen Sie einen Arzt, der das bescheinigen könnte…«

Eine knappe Stunde später stand Dr. Fissler neben der Leiche und füllte den Totenschein aus, nachdem er sich von Settlers Medikamente angesehen hatte.

Gerald von Settler war offiziell an einem Herzinfarkt gestorben.

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