1. März 1970 - Kimberley
Drei Wochen war der seltsame Tag nun fast her. Dieses Gespräch mit Kurt Scholler, das so tiefe Spuren in Evelyn hinterlassen hatte. Die Hände, die sie berührt hatten und deren sanften Druck sie jedes Mal an ihren Armen zu spüren glaubte, wenn sie daran dachte. Jeden Tag.
Sie waren sich seitdem nur ein paar Mal begegnet, und immer in Friedrichs Beisein. Evelyn hatte den Anwalt verstohlen beobachtet, seinen Blick gesucht, um darin vielleicht etwas zu erkennen. Dabei wusste sie selbst nicht, was sie darin finden wollte. Scholler hatte sich ihr gegenüber verhalten, als hätte es diesen Tag nie gegeben.
Die Begrüßungen zwischen ihnen waren höflich, doch danach galt seine Aufmerksamkeit ausnahmslos Friedrich.
Einmal - es war erst wenige Tage her - war sie nahe daran gewesen, ihn anzurufen. Sie wollte ihn fragen, was er mit seinem Besuch bei ihr wirklich bezweckt hatte. Warum er ihr Freundschaft und Interesse vorgeheuchelt hatte, wenn er gleich danach wieder so tat, als wäre sie nicht existent.
Sie hatte ihn nicht angerufen, obwohl alles in ihr danach drängte. Eine verheiratete Frau telefonierte keinem Mann hinterher, weil der sie einmal an den Armen berührt und ihr ein angebliches Geheimnis verraten hatte, an das sie mittlerweile sowieso nicht mehr glaubte. Erst recht nicht, wenn sie die Frau Friedrich von Keipens war.
An diesem Morgen war Friedrich überraschend zu einer zweitägigen Reise nach Deutschland aufgebrochen, über deren Zweck er sich in Schweigen hüllte. Eine Sitzung des Rates konnte es nicht sein, denn Hans war genau wie Krämer und auch Kurt Scholler in Kimberley geblieben.
Dr. Fissler nahm nicht mehr an den Ratssitzungen teil. Er hatte sich nach der letzten Auseinandersetzung mit Friedrich völlig zurückgezogen und wollte von den Belangen der Bruderschaft nichts mehr hören. Friedrich hatte als Ersatz für ihn einen ehemaligen »Begleiter« eingesetzt, der sich wie Hans von der ersten Stunde an der Bruderschaft verschrieben hatte und Friedrich bedingungslos folgte. Der Name des Arztes durfte in Friedrichs Gegenwart nicht mehr erwähnt werden. Es war, als hätte es nie einen Dr. Werner Fissler in der Bruderschaft gegeben. Nur den Kontakt zu Evelyn hatte der alte Mann aufrechterhalten. Sie trafen sich regelmäßig, und bei jedem dieser heimlichen Treffen redete Werner auf sie ein, sie solle mit ihren Söhnen zusammen diesen Mann und Südafrika verlassen. Bei ihrem letzten Treffen - es war erst drei Tage her - hatte sie selbst ihm auch noch zusätzliche Argumente geliefert, indem sie ihm von dem Nachmittag mit Kurt Scholler erzählte. Sie musste einfach mit jemandem darüber reden und der Arzt war der Einzige, dem sie vertraute.
Werner hatte ihr zugehört, ohne sie zu unterbrechen, und nur mit dem Kopf genickt, um sie zum Weiterreden zu ermuntern, wenn sie stockte. Am Ende ihres Berichtes hatte Fissler nur gesagt: »Evelyn, ich freue mich für dich.« Dann war er aufgestanden und gegangen, bevor sie ihn hätte fragen können, was er damit meinte. Er war seltsam geworden in den letzten Wochen. Seltsam und alt.
Friedrich war noch keine Stunde aus dem Haus, als Schollers Anruf kam. Er müsse unbedingt mit ihr reden, hatte er gesagt und sich nicht abwimmeln lassen. Evelyn hatte ihm - schärfer, als sie es eigentlich wollte - geraten, er solle sie in Ruhe lassen. Ihn gefragt, was er sich dabei denke, sie erst mit intimsten Fragen zu quälen und anschließend wochenlang so zu tun, als kenne er sie nicht.
Vergebens! Nach einer kurz in den Hörer gerufenen Uhrzeit war die Leitung tot gewesen. Kurt Scholler hatte aufgelegt!
Nun saß sie auf der Veranda und wartete auf ihn. Sie bemerkte, dass ihr Herz schneller schlug als sonst und ärgerte sich darüber. Gerade wollte sie ihre Gedanken auf etwas anderes konzentrieren, als sein Wagen auf den Vorplatz fuhr und in einer Staubwolke nur wenige Meter vor ihr zum Stehen kam.
Er stieg aus und kam grußlos die Stufen hoch. Stand dann vor ihr und zog sie aus dem Korbsessel zu sich hoch. Sah ihr lange ernst in die Augen und sagte schließlich mit sanfter Stimme: »Weil ich dich liebe.«
Sie brauchte einige Sekunden, bis ihr Verstand begriff, was sie gerade gehört hatte.
»Was?«, flüsterte sie. Zu mehr war sie nicht fähig.
»Deine Frage, Evelyn. Du hast mich gefragt, warum ich dir helfen möchte, und das ist die Antwort. Weil ich dich liebe.«
Mit einem Ruck stieß sie sich von ihm ab und machte einen Schritt zur Seite. Mit beiden Händen stützte sie sich auf dem Holzgeländer ab und blickte über den sandigen Vorplatz. »Sie sind ja völlig verrückt!«
Wieder spürte sie seine Hände an ihren Oberarmen, genau wie drei Wochen zuvor. Und wieder drehte er sie sanft zu sich um.
Plötzlich berührten sich ihre Lippen. Evelyn ließ es geschehen. Erst passiv, ohne den Kuss zu erwidern, doch dann schlangen sich ihre Arme um seinen Nacken, als hätten sie ein Eigenleben entwickelt. Ihr Körper drängte ihm entgegen und eine nie gekannte Sehnsucht öffnete ihren Mund. Evelyn von Keipen spürte dieses brennende Verlangen zum ersten Mal in ihrem Leben und ließ sich völlig fallen. Sekundenlang. Dann stieß sie Kurt plötzlich wieder von sich und fuhr sich instinktiv mit der Hand durch das Haar, als wäre es durch den Kuss durcheinander geraten. Ihr Atem ging keuchend, als sie sich umdrehte. »Wenn uns jemand sieht… Das wäre das Ende.«
»Nein, Evelyn. Das ist nicht das Ende. Im Gegenteil, es ist ein Anfang.«