12. Oktober 1958 - Kimberley

»Ein Junge, Herr, es ist ein Junge! Ein Junge, und er sieht genauso aus wie Sie.«

Jasmine, von Settlers korpulente, schwarze Hausangestellte, kam so aufgeregt die Treppe vom ersten Stock heruntergelaufen, dass sie von der untersten Stufe abrutschte und fast auf den Hausherrn gefallen wäre, wenn er sie nicht aufgefangen hätte. Von der Wucht, mit der der massige Frauenkörper gegen ihn prallte, wurde Friedrich beinahe selbst zu Boden gerissen. Er stieß einen Fluch aus. Entsetzt riss Jasmine die Augen auf, wich hastig zwei Schritte zurück und hielt sich die Hand vor den Mund.

»O Gott, verzeihen Sie bitte, junger Herr. Es tut mir leid, ich bin vor Freude ganz aufgelöst. Bitte verzeihen Sie, es kommt bestimmt nicht wieder vor.«

»Schon gut, Jasmine.« Friedrichs Zorn war schon verflogen. »Ein Junge, sagst du? Ich habe es ja gewusst. Und? Ist er gesund? Nun rede schon!« Ungeduldig packte er sie an den Schultern; er musste sich beherrschen, um sie nicht zu schütteln.

»Ja, Herr, er ist so gesund und munter, wie so ein kleiner, kräftiger Stammhalter es nur sein kann. Er hat…«

Doch Friedrich hörte ihr schon nicht mehr zu. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte er die Treppe hinauf.

»Und Ihrer Frau geht es auch gut«, fügte Jasmine hinzu, als der junge Herr schon nicht mehr zu sehen war.

Die zugezogenen schweren Samtvorhänge ließen nur durch einen schmalen Spalt über dem Fußboden die Nachmittagssonne herein. Gerade genug, um das Zimmer in ein schummriges Dämmerlicht zu tauchen, an das sich Friedrichs Augen erst einige Sekunden gewöhnen mussten. Alsdann streifte sein Blick kurz das große Bett, in dem Evelyn lag und ihm schweißüberströmt entgegensah. Auf dem Boden entdeckte er einen Haufen blutverschmierter Tücher. Direkt daneben stand das neue Dienstmädchen, dessen Namen Friedrich sich nicht merken konnte, und wiegte ein weißes Bündel in ihren Armen, wie zu einer Musik, die nur sie hören konnte.

Andächtig ging Friedrich auf das Mädchen zu, das sich etwas nach vorn beugte, sodass er das kleine, faltige Gesicht seines Sohnes sehen konnte.

»Ein prachtvoller Junge, Friedrich. Gratuliere!« Friedrich zuckte zusammen, als er Dr. Fisslers Stimme hinter sich hörte. Ohne den Blick von seinem Sohn abzuwenden, antwortete er: »Danke. Ist er gesund?«

»Es ist alles so, wie es sein soll. Wie soll der Prachtbursche denn heißen?«

Der weißhaarige Arzt und enge Vertraute Hermann von Settlers war neben Friedrich getreten und betrachtete nun ebenfalls den Säugling, während er sich Hände und Unterarme mit einem Tuch abtrocknete.

»Hermann. Er soll Hermann heißen. Wie der Mann, dem ich so viel zu verdanken habe.«

»Da wird er sich bestimmt sehr freuen. Wann kommt er denn aus Deutschland zurück?«

»Nächste Woche«, antwortete Friedrich, während er seinem Sohn zärtlich über das Köpfchen strich.

Dr. Fissler nickte. »Deine Frau war übrigens sehr tapfer. Es war eine Steißlage. Sie hat viel Blut verloren, aber kräftig bis zum Ende mitgeholfen. Du kannst stolz auf sie sein.«

Friedrich riss den Blick endlich von seinem Sohn los und sah den Arzt an.

»Steißlage? Was heißt das?«

»Nun, dein Sohn hat es vorgezogen, erhobenen Hauptes auf die Welt zu kommen.«

Als Friedrich ihn noch immer verständnislos ansah, lächelte der Arzt nachsichtig. »Er hat falsch herum gelegen, Friedrich. Er kam mit den Füßen zuerst heraus. So etwas kann für Mutter und Kind schlimm ausgehen.«

Friedrich wandte sich von Dr. Fissler ab und trat endlich an das Bett. Er strich seiner Frau eine schweißverklebte Haarsträhne aus dem Gesicht und küsste sie flüchtig auf die Stirn, was sie ohne sichtbare Regung hinnahm.

»Ich danke dir, dass du mir einen gesunden Sohn geschenkt hast.«

Unter großer Anstrengung bewegte Evelyn die Lippen, doch er konnte kein Wort davon verstehen. Er beugte sich zu ihr hinunter, bis sein Ohr nur noch Zentimeter von ihrem Mund entfernt war.

»Was wolltest du mir sagen?«

»Ich habe ihn dir nicht geschenkt. Du hast ihn dir genommen.«

Fünf Tage nach der Geburt des kleinen Hermann von Keipen kehrte von Settler aus Deutschland zurück. Niemand wusste, was der Grund für seine Reise gewesen war. Nicht einmal Friedrich.

Eine knappe Stunde nach seiner Ankunft, die Sonne war gerade hinter dem Horizont verschwunden, ließ er Friedrich durch Jasmine ausrichten, dass er ihn sofort in seinem Arbeitszimmer zu sprechen wünsche.

Als Friedrich den mit dunklem Mahagoniholz vertäfelten Raum betrat, saß von Settler mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem der drei schweren Ledersessel, die um einen kleinen Tisch gruppiert waren. In der Hand hielt von Settler einen Cognacschwenker. Er hob das Glas und deutete damit zu der Eckvitrine, die manch edlen Tropfen enthielt.

»Guten Abend, Friedrich. Ich gratuliere dir zu deinem strammen Jungen. Und ich freue mich über deine Namenswahl. Nimm dir etwas zu trinken und setz dich zu mir. Ich habe einige wichtige Dinge mit dir zu besprechen.«

Eine für von Settler durchaus nicht untypische Begrüßung, selbst nach längerer Abwesenheit. Er kam immer ohne große Umschweife zum Punkt, ob man sich nun fünf Minuten oder zwei Wochen nicht gesehen hatte.

Und doch war etwas anders. Ein seltsames Gefühl beschlich Friedrich, während er sich ebenfalls einen Cognac einschenkte, eine Art Vorahnung, dass an diesem Abend eine entscheidende Wende in seinem Leben eintreten würde. Er setzte sich in den Sessel rechts vom Magus und prostete von Settler zu, während er in dessen von Falten durchzogenem Gesicht nach einem Anzeichen suchte, nach irgendetwas, das sein Gefühl begründet hätte. Aber von Settlers Miene war undurchdringlich.

Nachdem sie einen Schluck des wunderbar weichen Cognacs genommen hatten, kam von Settler zur Sache.

»Der Grund meiner Deutschlandreise war neben Besuchen bei einigen wichtigen Geldgebern auch ein Termin bei einem alten Schulfreund von mir. Er ist Chefarzt eines großen Krankenhauses in Düsseldorf. Ich wollte mich von ihm untersuchen lassen, weil ich in letzter Zeit unter starken Schmerzen litt, für die ich keine Erklärung hatte.«

Friedrich beugte sich etwas nach vorn. »Warst du damit vorher bei Dr. Fissler?«

»Nein. Ich dachte mir gleich, dass es etwas Ernstes sein muss. Ich wollte nicht, dass in der Bruderschaft jemand auf den Gedanken kommt, ich wäre aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage, die Simoner zu leiten. Aber jetzt unterbrich mich nicht weiter, ich bin mit meinen Ausführungen noch nicht fertig.«

Friedrich nickte stumm und lehnte sich wieder in seinem Sessel zurück.

»Um es kurz zu machen: Ich habe Krebs. Nicht operabel. Endstadium sozusagen. Professor Diedler meinte, es blieben mir noch ein, zwei Monate, bis die Schmerzen unerträglich würden. Und dann vielleicht noch ein Monat, wobei ich keine große Lust habe, diese Zeit bis zum Schluss auszukosten, was du sicherlich verstehen kannst.«

Friedrich hatte bei dem Wort »Krebs« unwillkürlich die Luft angehalten und sagte nun leise: »Das tut mir sehr leid.«

Von Settler lachte auf. »Da ich weiß, dass eine solche Eröffnung dir bei jedem anderen höchstens ein gnädiges Lächeln entlockt hätte, bin ich eitel genug zu glauben, dass es dir in meinem Falle sogar wirklich leidtut. Aber das ist jetzt unerheblich. Konzentrieren wir uns auf das Wesentliche. Du wirst meine Nachfolge nun schneller antreten müssen, als wir gedacht haben. Uns bleiben mit etwas Glück knapp acht Wochen, um dich auf all das vorzubereiten, was als Magus der Simonischen Bruderschaft auf dich zukommen wird. Es gibt einige Dinge, die du schon weißt, aber du wirst sehen, dass dies nur die Spitze des Eisbergs ist. Wir beide werden von jetzt an Tag und Nacht miteinander verbringen. Du wirst mit mir essen und im gleichen Raum schlafen, maximal vier Stunden pro Nacht; mehr Zeit haben wir dafür nicht. Sobald ich nicht mehr aufstehen kann, wirst du mich pflegen und mir meine Schmerzmittel verabreichen, bis ich dir sage, dass es nicht mehr geht. Dann wirst du mir meine Pistole holen, dich von mir verabschieden und mich allein lassen. Das ist ein Befehl und ich erwarte von dir unbedingten Gehorsam. Ist das klar?«

Friedrich sah seinem Mentor lange in die Augen. Dann nickte er zögernd. Er wusste, es hatte keinen Zweck, mit diesem Mann zu diskutieren.

»Gut! Morgen früh fangen wir an. Ich erwarte dich um halb sieben in meinem Büro.«

Friedrich trank seinen Cognac in einem Zug aus und erhob sich. Als er den Raum gerade verlassen wollte, sagte von Settler: »Friedrich! Eins noch: Sorge dafür, dass du einen zweiten Sohn bekommst. Falls dem kleinen Hermann irgendwann einmal etwas zustoßen sollte. Du kannst dich nicht darauf verlassen, solches Glück zu haben wie ich.« Friedrich wollte schon etwas erwidern, doch von Settler winkte ab. »Geh jetzt und vergiss nicht, was ich dir gesagt habe. Gute Nacht.«

Schon vom ersten Tag ihrer Ehe an schliefen sie in getrennten Zimmern. Evelyn hatte darauf bestanden und er hatte keine Einwände erhoben, im Gegenteil, ihr Wunsch kam ihm sogar sehr entgegen. Abends im Bett mit den banalen Problemen einer Ehefrau belästigt zu werden, hätte ihm ganz und gar nicht gefallen. Es gab genügend wirklich wichtige Dinge, die man sich vor dem Einschlafen noch einmal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen musste. Nur ab und zu, wenn er dieses Kribbeln in seiner Lendengegend spürte, klopfte er an ihre Tür. Er hatte noch nie so etwas wie Freude in ihrem Gesicht erkennen können, wenn er ihr Schlafzimmer betrat, aber sie hatte sich ihm auch noch nie verweigert. Im Grunde genommen war sie eine mustergültige Ehefrau. Sie war zurückhaltend und redete nicht viel. Wenn er etwas von ihr wollte, bekam er es kommentarlos. Seinen kleinen Sohn liebte sie voller Hingabe; sie schenkte dem Kleinen all die Liebe, die sie ihm versagte, was ihn hätte eifersüchtig machen können, wenn ihm ihre Liebe denn wichtig gewesen wäre. Doch das war sie nicht.

Als er sich nach dem Gespräch mit Hermann von Settler in seinem karg eingerichteten Schlafzimmer auf die Bettkante setzte, rasten die Gedanken mit einer Geschwindigkeit durch seinen Kopf, die ihn immer nur Bruchstücke davon bewusst erfassen ließ.

Die Eröffnung seines Förderers hatte ihn überrascht. Er durchforschte sein Inneres und suchte nach etwas, das sich wie Trauer anfühlte. Doch er konnte nichts dergleichen finden. Stattdessen hatte ihn eine innere Unruhe gepackt. Bald, viel eher als er es zu träumen gewagt hätte, würde er der mächtigste Mann der Simonischen Bruderschaft sein, die, über die ganze Welt verteilt, inzwischen fast eintausend Mitglieder hatte. Einfache Arbeiter genauso wie hochrangige Politiker und einflussreiche Wirtschaftsbosse. Sie alle waren bereit, sich für die große Sache einzusetzen, wann immer man es von ihnen verlangte. Von Settlers letzter Satz ging Friedrich nochmals durch den Kopf: Sorge dafür, dass du einen zweiten Sohn bekommst. Der Gedanke an Evelyn bereitete ihm ein wohliges Gefühl und er bedauerte, dass er so kurz nach der Geburt nicht zu ihr ins Bett schlüpfen konnte.

Das nächste Mal, Evelyn, schon in ein paar Wochen, wird dich der Magus aufsuchen. Du wirst dir dann hoffentlich der Ehre bewusst sein.

Er zog sich aus und legte sich hin. In dieser Nacht träumte er, dass ihm im Petersdom ein Papst ohne Gesicht eine goldene Krone auf den Kopf setzte.

Die Zeit arbeitete gegen sie. Schon nach vier Wochen konnte Hermann von Settler das Bett nicht mehr verlassen. Die Dosis der schmerzstillenden Mittel musste täglich erhöht werden.

Von Settler war mit Friedrich die Liste aller »Aktiven« durchgegangen. Ein »Aktiver« der Bruderschaft war man ab dem Moment, an dem man mit dem Theologiestudium begann. Danach hatte Friedrich die Namen aller wichtigen Mitglieder der Bruderschaft erfahren. Es überraschte ihn, wie viele bekannte Persönlichkeiten darunter waren. Noch mehr überraschte ihn aber, dass von Settler zwei Jahre zuvor einen großen Teil seines Vermögens in den Kauf einer kleinen Privatbank in Vaduz gesteckt hatte. Wie ihm von Settler erklärte, hatten Nazi-Größen während des Krieges bei der besagten Bank ihr illegales Vermögen deponiert; sie würde den Belangen der Bruderschaft sicherlich noch von Nutzen sein. Er erzählte ihm auch von der »Simonischen Steuer«, einer beträchtlichen Summe, die von den überwiegend deutschen Geldgebern jeden Monat auf ein Konto der Bank eingezahlt wurde. Auf diese Weise hofften sich die betuchten Herren einen Platz in der künftigen Riege der »globalen Führung« zu erkaufen.

Fünf Wochen und drei Tage nachdem er von der tödlichen Erkrankung seines Förderers erfahren hatte, saß Friedrich um die Mittagszeit an Hermann von Settlers Bett. Der todkranke Mann hatte die Augen geschlossen. Das Gesicht war grau und eingefallen und er atmete röchelnd. Plötzlich hob er jedoch die Lider und sah Friedrich mit erstaunlich klarem Blick in die Augen. Seine Stimme war zwar schwach, doch deutlich zu verstehen: »Im Keller gibt es einen Safe, in dem du alles finden wirst, was du bis dato noch nicht weißt. Unter anderem auch mein Tagebuch, das ich führe, seit ihr hier angekommen seid. Darin sind auch alle >Aktiven< der Bruderschaft aufgelistet und mit Zahlen zwischen eins und fünf versehen; diese Zahlen stehen für ihre Bedeutung für die Bruderschaft. Hier und da wirst du auf Namen stoßen, die mit einem X gekennzeichnet sind. Das sind die Mitglieder, die einen entscheidenden Fehler gemacht hatten. Du kannst dir denken, dass diese Männer keine Möglichkeit mehr haben, weitere Fehler zu machen … Ich will, dass du dieses Tagebuch nach meinem Tod gewissenhaft weiterführst, Friedrich. Du wirst darin auch viele Einträge zu deiner Person entdecken. Vielleicht wirst du dich dadurch sogar selbst ein wenig besser kennenlernen.«

Mühsam befeuchtete von Settler mit der Zunge die trockenen, aufgesprungenen Lippen. Dann legte er mit schmerzverzerrtem Gesicht eine Hand auf Friedrichs Arm, der dem ersten Reflex widerstand und stillhielt.

»Ich bin fest davon überzeugt, dass du die Simonische Bruderschaft zum Ziel führen wirst. An der Unterseite der Schublade meines Schreibtisches findest du die Kombination für den Safe. In der Schublade liegt meine Pistole. Hol sie mir jetzt.«

Als Friedrich sich nicht rührte, bekam die Stimme noch einmal ihren alten, befehlsgewohnten Klang und von Settlers Finger krallten sich in seinen Arm.

»Tu es! Jetzt!«

Friedrich erhob sich widerwillig und verließ den Raum. Auf dem Weg zum Arbeitszimmer, das nun schon bald sein eigenes sein würde, horchte er zum wiederholten Male in sich hinein. Er war im Begriff, dem Menschen zu helfen, seinem Leben ein Ende zu setzen, der aus ihm den Mann gemacht hatte, der irgendwann die Geschicke der Welt lenken würde. War es nicht seine Pflicht, von Settlers Freitod zu verhindern? War er es dem Magus nicht schuldig, ihn so lange wie möglich am Leben zu erhalten? Nein, ich bin ihm nichts schuldig. Er glaubt, dass er mich zu dem gemacht hat, der ich jetzt bin. Soll er in diesem Glauben doch sterben, das ist mir egal. Ich weiß, dass es einzig und allein mein Wille war, der mich so weit gebracht hat. Ich wollte an die Spitze der Bruderschaft - und habe es geschafft. Ich werde sein Nachfolger. Er möchte es sofort -nun, den Wunsch kann ich ihm erfüllen.

In von Settlers Büro sah er als Erstes nach, ob die Kombination für den Safe auch tatsächlich an der Unterseite der Schublade klebte. Als er den kleinen Zettel gefunden hatte, richtete er sich auf und steckte ihn in die Hosentasche. Dann zog er die Schublade auf. Darin lagen eine Menge Dokumente, aber keine Pistole. Erst als er sämtliche Papiere auf den Schreibtisch gelegt hatte, entdeckte er die P38. Die Verheißung unendlicher Macht, dachte er, als er sie herausholte. Dabei fiel sein Blick auf einen handgeschriebenen Brief, der daruntergelegen hatte. Absender war ein Rechtsanwalt aus Nürnberg, seiner Heimatstadt. Den Blick nicht von dem Brief abwendend, legte er die Pistole auf den Schreibtisch und griff nach dem Schriftstück. Es war an ihn adressiert, das Datum rechts oben in der Ecke war der 8. April 1954.

Sehr geehrter Herr von Keipen,

ich habe die traurige Pflicht, Sie davon in Kenntnis zu setzen, dass am gestrigen Tag Ihr Herr Vater, Oberst a. D. Peter von Keipen, nach einem Schlaganfall verstorben ist.

Ich möchte Ihnen mein tief empfundenes Mitgefühl und mein herzlichstes Beileid ausdrücken. Ihre verehrte Frau Mutter ist leider nicht mehr in der geistigen Verfassung, sich um die Nachlassangelegenheiten zu kümmern, sodass ich mich als langjähriger Freund der Familie der Sache angenommen habe.

Ich möchte Sie bitten, sich schnellstmöglich mit mir in Verbindung zu setzen, damit wir die notwendigen Formalitäten besprechen können.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Dr. Julius Hoher

Rechtsanwalt

Friedrich ließ das Blatt langsam sinken. Sein Vater war tot. Gestorben vor nunmehr vier Jahren. Und er hatte es nicht erfahren. Eine unbändige Wut stieg in Friedrich hoch.

Wie kam von Settler dazu, ihm den Tod des Obersts zu verheimlichen? Wie selbstherrlich musste man sein, um darüber zu befinden, ob ein Mensch den Tod des Vaters betrauern durfte oder nicht! Er packte die Pistole, während das Schreiben lautlos zu Boden schwebte wie ein Blatt, das im Herbst vom Baum fällt.

Hermann von Settler hatte die Augen geschlossen, als Friedrich ins Zimmer stürmte. Für einen Moment hatte er den Eindruck, ein Toter liege vor ihm in dem großen Bett. Dann jedoch hoben sich die Lider des Kranken.

»Warum hast du mir verschwiegen, dass mein Vater gestorben ist?«, schrie Friedrich mit bebender Stimme. »Was fällt dir ein, einen Brief zu öffnen, der an mich gerichtet ist, und ihn mir dann auch noch zu unterschlagen?« Mit zitternder Hand richtete er die Pistole auf von Settler.

»Du möchtest mich also erschießen, mein junger, jähzorniger Freund«, sagte von Settler ruhig. »Tu es! Du würdest mir einen großen Gefallen damit tun. Es ist ganz leicht. Du musst nur abdrücken.«

Einige Sekunden lang stand Friedrich regungslos da. »Sag mir, warum du mir den Tod meines Vaters verheimlicht hast, Hermann.«

Wieder fuhr die Zunge langsam über die aufgesprungenen Lippen.

»Weil der Zeitpunkt ungünstig war, Friedrich. Du standest kurz vor dem Abitur und ich wollte dich in der Zeit nicht mit derlei Dingen belasten. Dein Vater hat dir ein beträchtliches Vermögen hinterlassen. Das hätte dich damals vielleicht aus der Bahn geworfen. Dich dazu verleitet, alles hinzuwerfen. Wie du weißt, hätte ich dich dann töten müssen. Und das wollte ich unter allen Umständen vermeiden.«

»Du hättest mich wirklich umbringen lassen, wenn ich nach Deutschland zurückgekehrt wäre?«

»Sicher. Erinnerst du dich an unser erstes Gespräch? Du hast es schon mit vierzehn Jahren gewusst. Wie kannst du als erwachsener Mann daran zweifeln? Ja, ich hätte dich töten lassen, genauso, wie du ab jetzt jeden töten musst, der eine Gefahr für die Bruderschaft darstellt. Wenn du dazu nicht bereit bist, habe ich bei der Wahl meines Nachfolgers einen schweren Fehler begangen.«

»Egal, wie ich mich entschieden hätte, es hätte meine Entscheidung sein müssen und nicht deine. Du hast mich behandelt wie einen Schwachkopf. Was ist mit meiner Mutter? Lebt sie wenigstens noch? Oder gibt es noch mehr Briefe, die du in deiner maßlosen Selbstherrlichkeit unterschlagen hast?«

Friedrichs Worte waren wie spitze Pfeile, mit denen er dem kranken Mann tiefe Wunden beibrachte.

»Nein, Friedrich, deine Mutter lebt noch. Auch wenn sie wahrscheinlich nicht mehr weiß, was das ist: leben. Ich habe persönlich dafür gesorgt, dass sie in einem guten Heim untergebracht ist, wo sie erstklassig versorgt wird. Bezahlt wird es aus deinem Vermögen. Ich habe das Geld gut für dich angelegt. Die Unterlagen dazu findest du ebenfalls im Safe. Egal, wie du darüber denkst, Friedrich: Ich bin überzeugt, dass ich richtig gehandelt habe. Und noch etwas, Friedrich: Geisteskrankheiten scheinen bei euch in der Familie häufig vorzukommen. Du solltest bei den ersten Anzeichen einen Schlussstrich ziehen, bevor du wie dein Vater als sabbernder Fleischberg endest, der in seiner Schwachsinnigkeit nur noch eine Belastung für alle war. Und jetzt drück ab oder gib mir die Pistole und verschwinde aus meinem Zimmer. Ich halte diese Schmerzen nicht mehr länger aus.«

Friedrich starrte auf die P38, die er noch immer auf von Settler gerichtet hielt. Im gleichen Moment, in dem er den Zeigefinger krümmte, glaubte er Triumph in den Zügen des Kranken zu erkennen. Mit dem überlauten Knall spritzten eine Sekunde später Blut und Gehirnmasse nach allen Seiten. Fasziniert von dem Schauspiel konnte Friedrich sich erst nach einigen ihm endlos erscheinenden Sekunden von dem Anblick des Toten losreißen.

»Den Gefallen habe ich dir gerne getan«, murmelte er, während er von Settler die Waffe in die erkaltende Hand drückte. Dann ging er mit ruhigen Schritten aus dem Zimmer und fühlte dabei so etwas wie Genugtuung.

In Hermann von Settlers Nachttisch fand Dr. Fissler später einen Brief, in dem von Settler erklärte, er hätte den Freitod gewählt, weil er die Schmerzen nicht mehr ertragen habe. Des weiteren befand sich in der Schublade ein versiegelter Umschlag, der das Testament des Magus enthielt. Friedrich von Keipen erbte den gesamten Besitz und wurde in einem zweiten Schreiben zum Oberhaupt der Simonischen Bruderschaft ernannt. Dieser »geheime« Teil des Testaments war auf einem gesonderten Blatt festgehalten, damit von Settlers letzter Wille gegebenenfalls auch offiziellen Stellen vorgelegt werden konnte.

In der folgenden Nacht lag Friedrich lange schlaflos im Bett und starrte durch das Fenster hinauf in den endlosen Sternenhimmel. Er hatte an einem einzigen Tag die beiden Männer verloren, die glaubten, sein Leben geprägt zu haben. Denn jetzt, ohne sie, war er überzeugter denn je, dass es, seit er in der Lage war, einen intelligenten Gedanken zu fassen, einzig und allein von ihm selbst bestimmt worden war.

Sein Vater war tot. Auch wenn es schon über vier Jahre her war, so war er für Friedrich doch erst heute gestorben. Oberst a.D. Peter von Keipen, der die Wehrmacht mehr geliebt hatte als seine Familie, war in die ewigen Jagdgründe eingegangen. Er war nicht ehrenvoll gefallen in einer ruhmreichen Schlacht und in Verteidigung des deutsehen Vaterlandes. Nein, wahrscheinlich war er im Keller krepiert, während er mit seinen lächerlichen Zinnsoldaten spielte. In der Uniform einer Armee, die es längst nicht mehr gab. Welch ein Held! Und auch Hermann war tot. Er, Friedrich von Keipen, hatte ihm sogar über die Schwelle des Todes geholfen. Er hatte ihn von seinem Leiden erlöst, wie man einem Pferd den Gnadenschuss gab, das sich während eines Rennens auf halber Strecke ein Bein brach.

War es ein Verlust? Gab es irgendeinen zwingenden Grund, warum einer dieser beiden Männer noch am Leben sein sollte? Nein! Die Knöchel traten weiß hervor, als Friedrich die Hand zur Faust ballte. Nein, es gab keinen Grund dafür! Also gab es auch keinen Grund zur Trauer. Trauer, dieses ausgeprägteste aller egoistischen Gefühle, mit denen der Mensch gestraft war, hätte er empfunden, wenn das Weiterleben von einem der Männer für ihn noch von Nutzen gewesen wäre.

Friedrich drehte sich auf die andere Seite. Die beiden nutzlos gewordenen Männer hatten sich zur rechten Zeit zurückgezogen und ihm das Feld überlassen. Ihm, Friedrich von Keipen, dem neuen Magus der Simonischen Bruderschaft, dem Führer in eine neue Weltordnung, dem zukünftigen Lenker der Geschicke der katholischen Kirche.

Magus - Die Bruderschaft
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