4. Juni 1968 - Kimberley

Friedrich hatte gerade ein Telefongespräch mit Kurt Scholler beendet, als die Tür aufgerissen wurde. Mit einem Satz schoss Joss unter dem Schreibtisch hervor und stieß ein wütendes Knurren aus. Wild gestikulierend stürmte Evelyn ins Zimmer. Dem Tier schenkte sie dabei keinerlei Beachtung.

»Das kannst du nicht tun, Friedrich! Ich werde das nicht zulassen. Der Junge ist erst neun Jahre alt!«

Mit einer Handbewegung schickte Friedrich den Schäferhund wieder unter den Schreibtisch. Dann sah er ihr gelassen ins gerötete Gesicht. Einen Moment dachte er, sie wolle ihn schlagen.

»Was kann ich nicht tun, Evelyn?«, fragte er mit unschuldiger Miene, obwohl er genau wusste, was sie meinte.

»Vor fünf Minuten kam Hans, um Hermann zu seiner ersten >Übungsstunde< abzuholen. Der Junge solle lernen, mit einem Gewehr umzugehen. Das kann nicht dein Ernst sein.«

Friedrich lachte laut auf. Nicht, weil er die Situation komisch fand, sondern weil er wusste, dass Evelyn sich durch sein herablassendes Lachen gedemütigt fühlen würde.

»Liebste Evelyn, wie du schon treffend bemerkt hast, ist mein Sohn mittlerweile neun Jahre alt. Höchste Zeit, dass er lernt, sich zu verteidigen.«

Jetzt trat sie dicht an seinen schweren Schreibtisch heran. Ihre Brust hob und senkte sich schnell. Er konnte ihren Atem riechen und für einen kurzen Moment empfand er die Situation erregend.

»Er ist doch noch ein kleines Kind. Er kann sich verletzen, sich vielleicht sogar selbst töten. Willst du deinen eigenen Sohn derart gefährden? Ich jedenfalls werde das nicht zulassen!«

Erneut lachte er aus vollem Halse. Dann lehnte er sich entspannt zurück und verschränkte die Hände hinterm Kopf.

»Deine Meinung ist hier nicht gefragt, Evelyn. Hermann ist kein kleines Kind mehr, sondern bereits auf dem Weg zum Mann. Es ist an der Zeit, mit diesem Teil seiner Ausbildung zu beginnen. Das ist meine Aufgabe bei seiner Erziehung, und es wäre mir lieb, wenn du dich ausschließlich auf deine konzentrieren würdest. Ende der Diskussion!«

Wahllos griff er sich einen der auf dem Schreibtisch liegenden Aktenordner und begann interessiert darin zu lesen.

»Ich werde das nicht zulassen«, wiederholte Evelyn hartnäckig.

»Dir wird nichts anderes übrigbleiben«, sagte Friedrich, ohne den Blick zu heben. »Und jetzt geh und kümmere dich wieder um Franz. Ich zweifle noch sehr, dass mein Jüngster mit neun Jahren schon so weit sein wird. Er kommt zu sehr nach seiner Mutter.«

Evelyn starrte ihren Mann an, als könne sie nicht glauben, was da gerade geschah. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und verließ wütend das Zimmer.

Friedrich griff zum Telefon. Als kurze Zeit später in einiger Entfernung gedämpfte Schüsse zu hören waren, streckte er seine Hand unter dem Schreibtisch aus und kraulte Joss’ Fell.

Evelyn stand unterdessen am Fenster ihres Zimmers in der ersten Etage und starrte auf den sandigen Vorplatz. Als Hans zum zweiten Mal gekommen war, um ihren Sohn zu holen, hatte sie sich vor ihr Kind gestellt. Hans hatte sie nur traurig angesehen.

»Frau von Keipen, machen Sie es sich doch nicht unnötig schwer. Hermann wird nichts geschehen, ich passe schon auf ihn auf. Er wird seine Freude daran haben, glauben Sie mir.«

Sie wollte ihn anschreien, sich auf ihn stürzen, ihren Sohn mit Zähnen und Klauen verteidigen - und hatte doch nur mit hängenden Schultern vor ihm gestanden und geflüstert: »Aber er ist doch noch ein Kind, Hans. Und er ist doch mein Kind.«

Als die beiden das Zimmer verlassen hatten, Hans mit steinerner Miene und Hermann in Vorfreude auf die Schießübungen, war sie zusammengebrochen. Sie hätte gerne geweint, aber alle Tränen, die es zu weinen gab, hatte sie in den letzten Jahren schon vergossen. Stattdessen umschloss eine kalte, eiserne Faust ihr Herz und drückte es mit unerbittlicher Kraft zusammen.

»Ich hasse dich«, flüsterte sie gegen die Fensterscheibe, »wenn du wüsstest, wie sehr ich dich hasse!«