7. Mai 1951 - Kimberley

Von Settler hatte ihn vom nachmittäglichen Sport befreit und zu sich rufen lassen. Friedrich war gleich nach dem Mittagessen aufgebrochen.

Während er durch die karge Landschaft zu von Settlers Landgut wanderte, mit jedem Schritt den Staub aufwirbelnd, dachte er zum ersten Mal seit langer Zeit wieder an Deutschland und seine Familie. Er stieß ein kurzes, bitteres Lachen aus. Familie!

Es gab da eine Frau, die er Mutter nannte. Er hätte sie auch Tante oder Großmutter nennen können, es wäre ihr nicht einmal aufgefallen. Nachdem Peter von Keipen, der ruhmreiche Oberst der Wehrmacht, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs seinen ältesten Sohn zu sich beordert hatte und dieser gleich in der ersten Kriegswoche in Polen gefallen war, hatte der Schnaps seine Mutter in einen Dauerzustand des gnädigen Vergessens versetzt.

Seinen Vater hatte Friedrich in seiner Kindheit nur als gelegentlichen Besucher auf Heimaturlaub erlebt. Während den wenigen Tagen, die sie dann zusammen verbrachten, setzte ihn der Oberst oft auf seine Knie und erklärte, wie ehrenwert es sei, fürs Vaterland zu kämpfen, und wenn Friedrich erst einmal erwachsen sei, könne auch er mit Stolz die Uniform der deutschen Wehrmacht tragen; dann würde Deutschland nämlich so unglaublich groß sein, wie sein kleiner Junge sich das nicht einmal im Traum vorstellen könne. Als mit der Niederlage jedoch nur ein aufgeteiltes, winziges Deutschland übrig blieb, hatte Oberst von Keipen nicht nur seinen Krieg, sondern auch den Bezug zur Realität verloren. Während seine Frau in einer schummerigen Welt, deren Horizont aus leeren Flaschen bestand, lallende Gespräche mit ihrem gefallenen Erstgeborenen führte, spielte sich das Leben von Friedrichs Vater vorrangig im Keller ihres Einfamilienhauses ab. Das eiserne Kreuz um den Hals und bekleidet mit seiner Wehrmachtsuniform, führte er dort fortan ganz allein ruhmreiche Schlachten im Namen des Dritten Reiches.

Familie … Was mochte dieses Wort für andere Jungen in seinem Alter bedeuten? Für Friedrich war es eine peinliche Sache, die er zwei Jahre zuvor hinter sich hatte lassen können. Seit er in Südafrika war, hatte er keinen einzigen Brief von seinen Eltern bekommen und auch seinerseits keinen Versuch unternommen, mit ihnen in Kontakt zu treten. Und dabei sollte es auch bleiben.

Mit solchen Gedanken beschäftigt, war Friedrich inzwischen zu einer hochgewachsenen Buschgruppe gekommen, durch die ein schmaler Pfad führte. Er befand sich in der Mitte des etwa hundert Meter langen Pfades, als er auf einmal vor sich ein vergnügtes Pfeifen und trampelnde Schritte vernahm. Er sah auf.

Breit grinsend kam Jürgen Dengelmann ihm entgegen. Als sie dicht voreinander standen, blieben beide stehen. Jürgen war einen halben Kopf größer als Friedrich und von weitaus stämmigerer Statur.

»Ach, von Keipen«, begrüßte er ihn und sein Grinsen wurde noch unverschämter. »So ein Zufall, ausgerechnet dich hier zu treffen. Hat Papa von Settler dich zu sich bestellt?«

Friedrich sah ihn ruhig an. »Ja, Herr von Settler hat mich rufen lassen. Es kann sich aber um nichts Wichtiges handeln, wenn du auch gerade bei ihm warst.«

Jürgens Körper spannte sich. »Von Keipen, du hast ein verdammt loses Mundwerk«, zischte er. »Du solltest aufpassen, dass dir das nicht irgendwann ein blaues Auge einbringt. «

»Wenn du das sagst…«, entgegnete Friedrich gleichgültig und wollte an Dengelmann vorbei. Der packte ihn jedoch grob am Oberarm.

»Ich überlege gerade, ob wir das nicht gleich hier erledigen sollten«, sagte er mit drohender Stimme.

Friedrich blickte zuerst auf die kräftige Hand, die ihn festhielt, dann sah er Dengelmann in die Augen.

»Wenn du auch nur halb so viel im Kopf hättest wie in den Armen, würde dir vieles erspart bleiben. Was, denkst du, wird man mit uns machen, wenn wir uns prügeln? Du hast doch schon mehrfach deine Erfahrungen mit Gilmeier gemacht. Hast du noch immer nichts daraus gelernt? Und jetzt lass mich los.«

Den letzten Satz hatte Friedrich ganz leise gesprochen. In Dengelmanns Gesicht zuckte es kurz. Dann grinste er jedoch gleich wieder.

»Hast du etwa die Hosen voll, von Keipen? Falls du es immer noch nicht weißt: Gilmeier kann mir den Buckel runterrutschen, von dem lasse ich mich nicht kleinkriegen. Ich denke, ich werde dir jetzt endlich eine kleine Abreibung verpassen. Die ist schon längst überfällig.« Er ließ Friedrichs Arm los, trat einen Schritt zurück und hob kampfbereit die Fäuste. »Na los, komm schon.«

Doch Friedrich machte keine Anstalten, auf Dengelmanns Drohgebärden einzugehen. Er sah Jürgen nur von oben herab an und sagte dann kühl: »Wenn du mich noch einmal anfasst, Dengelmann, wirst du es für den Rest deines Lebens bereuen.«

Wieder zeichnete sich Unsicherheit in dem breiten Gesicht ab. Dieses Mal verschwand sie jedoch nicht mehr so schnell.

»Was willst du tun, von Keipen? Mich bei Papa von Settler verpetzen? Oder bei Gilmeier?«, höhnte er, doch seine Stimme hatte ihren überheblichen Klang eingebüßt.

»Nein«, antwortete Friedrich nur und blickte ihm weiter fest in die Augen. Er konnte den Kampf sehen, den Jürgen in seinem Inneren austrug. Nach einigen Sekunden ließ Dengelmann schließlich die Arme sinken und versuchte wieder überlegen zu grinsen, was ihm jedoch nicht so recht gelingen wollte und ihn noch wütender machte.

»Du bist es nicht wert, dass ich mir die Hände schmutzig mache, von Keipen«, zischte er und stürmte davon.

Friedrich drehte sich um und sah ihm nach, bis er hinter der Biegung des Pfads verschwunden war. Dengelmann blickte sich nicht mehr um.

Sobald Friedrich das Settler’sche Anwesen betreten hatte, dachte er nicht mehr an den Zwischenfall mit Jürgen Dengelmann. Bevor er die Schwelle des Haupthauses überschritt, klopfte er schnell noch seine vom Fußmarsch verstaubte Schuluniform ab. Die Uniform - kurze, khakifarbene Hosen und Hemden mit Schulterklappen und zwei aufgesetzten Brusttaschen - hatten sie gleich am Anfang bekommen. Mittlerweile trugen die meisten allerdings schon den zweiten Satz Hosen und Hemden, weil sie aus den ersten Garnituren herausgewachsen waren.

»Setz dich, Friedrich«, begrüßte ihn Hermann von Settler und wies auf den Stuhl ihm gegenüber. »Es ist langsam an der Zeit, dass wir beide ein ernsthaftes Gespräch führen«, begann er, kaum dass Friedrich saß. »Ich beobachte dich nun schon eine ganze Weile. Auch wenn wir uns nur selten sehen, weiß ich doch bis ins Detail über dich Bescheid. Du bist mit Abstand der beste Schüler deiner Klasse. In deinem Zeugnis reiht sich eine Eins an die andere. Du könntest der Primus der ganzen Schule sein - die mittlerweile immerhin fast zweihundert Schüler hat -, wenn die eine Vier nicht wäre. Dieser Dengelmann aus der S-I-c hat zwar in Mathematik und Physik eine Zwei, aber er hat keine einzige Drei und Vier im Zeugnis. Dadurch ist er der Beste. Woran liegt es, dass du ausgerechnet in Religion so schlecht dastehst? Du weißt, wie wichtig gerade dieses Fach ist!«

Friedrich sah ihm erhobenen Hauptes in die Augen. »Ich werde im nächsten Jahr auch in Religion eine Eins haben, Herr von Settler.«

»Ich zweifle keine Sekunde daran, dass es so sein wird, wenn du es nur willst. Aber warum erst im nächsten Jahr?«

»Weil mich das Fach nicht sonderlich interessiert«, antwortete Friedrich.

Von Settler ließ sich in seinem Sessel zurückfallen und schnaubte. In seinem Blick glaubte Friedrich Enttäuschung zu erkennen, doch er hatte sich gleich darauf wieder im Griff.

»Das ist in Anbetracht der Tatsache, dass du Theologie studieren wirst, keine günstige Voraussetzung«, stellte von Settler kühl fest.

»Ich weiß. Deshalb werde ich nächstes Jahr auch bessere Zensuren haben. Aber darf ich ganz offen zu Ihnen sprechen?«

Der Magus der Bruderschaft nickte stumm.

»Es ist nicht so, dass mich das ganze Fach >Praktische Religion< langweilt. Was Herr Künswald uns über den Vatikan erzählt, ist sehr spannend. Die politischen und wirtschaftlichen Schachzüge der Römischen Kurie sind unglaublich. Wenn ich mir vorstelle, dass einige von uns einmal ganz oben sein werden - die Möglichkeiten sind unfassbar. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Plan der Bruderschaft funktionieren wird. Nur… ich glaube nicht, dass ich einer von denen sein werde, die es bis ganz nach oben schaffen. Ich hasse diese weibische Beterei. Und die Leitgedanken der katholischen Kirche finde ich lachhaft. Ich kann mich damit einfach nicht identifizieren. Es tut mir sehr leid, aber ich fürchte, ich werde Sie enttäuschen.«

Von Settler betrachtete einige Sekunden lang das ernste Gesicht des jungen Mannes, in dem sich, je älter er wurde, immer mehr harte Züge zeigten. Mit einem Ruck richtete er sich auf.

»Ich freue mich, dass du so ehrlich zu mir bist, Friedrich. Nichts anderes habe ich von dir erwartet. Ich werde dir jetzt einen Vorschlag machen. Eins musst du mir jedoch vorher versprechen: Ganz egal, ob du ihn annimmst oder nicht, wirst du mit keinem Menschen darüber reden. Auch nicht mit Hans. Gibst du mir dein Ehrenwort darauf?«

Friedrich blickte das wettergegerbte, von Falten durchzogene Gesicht fragend an, nickte dann aber wortlos.

»Gut. Ich vertraue dir und weiß, dass du mich nicht enttäuschen wirst.«

Obwohl von Settler es in einem freundschaftlichen Tonfall sagte, schwang in seinen Worten doch eine Drohung mit.

»Ich würde dich gern aus dem Programm herausnehmen.«

Ein Ruck ging durch Friedrichs Körper, sein Gesichtsausdruck veränderte sich jedoch nicht.

»Sie glauben also nicht mehr an mich und meine Fähigkeiten. Gut. Und jetzt? Werde ich einen ähnlich bedauerlichen Unfall haben wie vor eineinhalb Jahren dieser Junge aus Köln oder vor einem halben Jahr die beiden Brüder aus München? Weil ich Ihnen gegenüber ehrlich war? Wäre es Ihnen lieber gewesen, ich hätte Ihnen erzählt, dass ich den Religionsunterricht liebe, mich aber bisher einfach mehr um die anderen Fächer gekümmert habe? Hätte ich Ihnen sagen sollen, ich sei mir sicher, dass ich einmal als römischer Kardinal oder gar als Papst die Geschicke der Kirche lenken würde? Hätte ich mit diesen Lügen unserer großen Sache genützt? Seit ich hier bin, habe ich viel über die Ideale und Ziele der Bruderschaft gelernt. Und ich kann Ihnen versichern, dass ich voll und ganz hinter der Sache stehe. Das ist der Grund, warum ich Ihnen auch ehrlich gesagt habe, was ich denke. Ich möchte meinen Teil dazu beitragen, die Welt unter der Führung der Simoner zu vereinen. Aber ich wollte Sie davor bewahren, falsche Hoffnungen in mich zu setzen. Das ist alles. Wann wird man mich abholen kommen?«

Friedrichs Ton war während der für seine Verhältnisse unglaublich langen Rede immer schärfer geworden. So hatte noch nie einer der Jungen mit von Settler geredet. Resolut schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch.

»Nun ist es aber genug, von Keipen! Du lässt es eindeutig am nötigen Respekt fehlen. Jetzt hörst du dir erst einmal an, was ich dir zu sagen habe. Wenn ich davon rede, dich aus dem Programm zu nehmen, so meine ich damit nur das Theologiestudium. Du wirst auf jeden Fall mit den anderen zusammen das Abitur machen. Danach wirst du von mir jedoch eine ganz private Ausbildung bekommen. Den endgültigen Erfolg unserer Sache erlebe ich wohl kaum mehr. Und einen Sohn, der die Rolle des Magus übernehmen könnte, habe ich nicht.« Er machte eine Pause, während der sein Blick Friedrich zu durchbohren schien. Dann beugte er sich etwas nach vorne und sagte: »Ich möchte dich zu meinem Nachfolger machen. Was sagst du dazu?«

Friedrich antwortete fast in der gleichen Sekunde.

»In Ordnung.«

Von Settler war perplex. Er hatte mit allen möglichen Reaktionen gerechnet. Überraschung, Euphorie, Skepsis, Schreck. Aber diese prompte Antwort bar jeder Gemütsregung verblüffte ihn doch. Nach einer endlos scheinenden Zeit des Schweigens, in der nur das Ticken der großen Uhr an der Wand hinter Friedrich die verrinnende Zeit markierte, verengten sich von Settlers Augen plötzlich zu Schlitzen.

»Du hast es geahnt, habe ich Recht? Mehr noch - du hast gezielt darauf hingearbeitet.« Von Settler bekam keine Antwort. »Das ist also der Grund, warum du ausgerechnet in Religion so schlecht bist. Du wolltest meinen Entscheidungsprozess beschleunigen, indem du mir klar machst, dass du zwar sehr gut bist, aber ein Theologiestudium für dich nicht in Frage kommt. Los, sag mir, ob ich Recht habe, Friedrich von Keipen!«

Friedrichs Mundwinkel zuckten, doch seine Miene blieb vollkommen ernst. »Ist Voraussicht nicht eines der wichtigsten Attribute, die für die Leitung der Bruderschaft unabdingbar sind?«

Mit leiser Stimme sagte von Settler: »Du bist ein gefährlicher junger Mann, Friedrich.« Dann brach er in lautes Lachen aus. »Aber deine Worte beweisen mir, dass ich die richtige Wahl getroffen habe!«

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