„Sieh mich nicht so an“, grollte er und küsste sie auf den Mund. „Ich werde nicht lange weg sein.“
„Nein, das war es nicht ...“
„Ehe du dich versiehst, bin ich wieder zurück. Und dann, Miss Grace Merridew ...“ Er schenkte ihr ein Lächeln, das schwach an das bei ihrer ersten Begegnung erinnerte, als Grace ihn noch für einen ungepflegten und durchtriebenen Zigeuner gehalten und sich dennoch in ihn verliebt hatte. Er legte ihr die Hand an die Wange, und seine goldbraunen Augen leuchteten. „Dann, Miss Grace Merridew, komme ich, um dich zu holen. Wir Wolves binden uns fürs Leben, musst du wissen, und ich habe meinen Traum, meine wahre große Liebe gefunden.“ Der Kuss, den er ihr jetzt gab, war fordernd und besitzergreifend, und Grace erwiderte ihn mit aller Leidenschaft. Sie wollte und konnte ihn nicht abweisen, sie hatte nicht die Kraft, ihm zu widerstehen. Sie wollte ihn mehr als alles andere in ihrem Leben.
Doch das Wissen, was er ihretwegen aufgab, zerriss ihr das Herz.
Kurz nachdem sie sich von Dominic verabschiedet hatte, betrat Grace das Speisezimmer. Der Tisch war festlich gedeckt, wie sie feststellte. „Bitte entschuldigt die Verspätung“, sagte sie und schlüpfte an ihren Platz.
Alle waren da: Prudence und Gideon, Charity und Edward, Faith und Nicholas, Hope und Sebastian, Cassie und Dorie. Alle lächelten sie so glücklich an, dass Grace es kaum ertragen konnte. „Wo sind die Kinder?“, wollte sie wissen.
„Oben im Kinderzimmer“, erklärte Charity. „Nach dem Essen gehen wir hinauf und sehen nach ihnen.“
„Genug geschwätzt über die Kinder“, bemerkte Großonkel Oswald und sah Grace strahlend an. „Schließlich gebe ich jetzt den letzten Merridew-Diamanten aus meinen Händen! Ich habe hier meinen besten Holunderwein, und Gussie besteht darauf, jedem auch noch Champagner anzubieten. Also darfst du entscheiden, kleine Grace - womit sollen wir auf dein Glück anstoßen?“
Grace sah auf den Holunderwein und den Champagner, dann in die geliebten, lächelnden Gesichter. Sie brach in Tränen aus - und verließ fluchtartig das Zimmer.
„Geh ihr nach, Prue“, sagte Tante Gussie, doch Prudence war längst fort.
Die anderen sahen sich schockiert an, und Charity sprach das aus, woran alle dachten. „Hat sie ihn abgewiesen?“
„Ich dachte - ich war mir ganz sicher, dass sie Lord D Acre liebt“, meinte Faith, und die anderen nickten.
„Und ich hätte mein bestes Gespann darauf verwettet, dass D Acre ebenfalls Hals über Kopf in sie verliebt ist“, fügte Gideon hinzu.
Als Prudence über eine Stunde später zurückkam, waren die weitgehend unberührt gebliebenen Teller längst abgeräumt. Nur noch die Männer befanden sich im Speisezimmer. Sie tranken Brandy.
„Gussie und die Mädchen sind gerade nach oben gegangen, um nach den Kindern zu sehen“, teilte Großonkel Oswald ihr mit. „Jetzt renn ihnen nicht gleich hinterher, sondern erzähl uns, was mit Grace los ist! “
„Also gut, sie lieben einander“, berichtete Prudence. „Und sie hat auch Ja gesagt, aber es gibt ein Problem.“ Sie erklärte die Situation, was eine ganze Weile in Anspruch nahm, da Großonkel Oswald, ihr Mann Gideon und ihre Schwäger sie immer wieder unterbrachen, um Fragen zu stellen. Sie erzählte ihnen alles, was Grace ihr auch erzählt hatte - von dem Testament, wie Dominic aufgewachsen war, wie sein Hass auf Wolfestone sich allmählich in Liebe verwandelt hatte und welche Pläne er und Grace für den Besitz geschmiedet hatten. Als sie mit ihrem Bericht fertig war, schnaubte Großonkel Oswald. „Sehr interessant! Jetzt lauf nach oben ins Kinderzimmer und sag Gussie und deinen Schwestern, dass das Mittagessen in einer halben Stunde noch einmal serviert wird. Grace soll auch kommen. Ich werde nicht zulassen, dass sich das Mädchen die Augen aus dem Kopf weint, während wir verhungern. Die ganze Familie ist hier versammelt, und entweder wir essen alle zusammen oder gar nicht - richte ihr das von mir aus.“
Dreißig Minuten später fand sich die Familie wieder im Speisezimmer ein, auch Grace, blass und mit verweinten Augen.
Großonkel Oswald wies den Butler an, alle Gläser mit Holunderwein oder Champagner zu füllen, dann hob er sein Glas. „Nun, wir haben bald eine Hochzeit in der Familie, deshalb hebt eure Gläser - auch die mit dem verdammten Champagner - und lasst uns anstoßen. Auf Grace und D Acre! Und noch etwas, Grace ...“
Sie hob den Kopf.
„Wir haben uns über euer Hochzeitsgeschenk geeinigt.“ Grace sah alle der Reihe nach an, sie strahlten über das ganze Gesicht. Sie konnte es nicht ertragen.
Großonkel Oswald schwenkte sein Glas. „Nun mach nicht so ein tragisches Gesicht. Sebastian ist sogar noch schneller auf die Lösung des Problems gekommen als ich. Du heiratest den Jungen, und wir kaufen den Besitz und schenken ihn euch zur Hochzeit! Wir sind uns alle einig.“
„Ihr wollt Wolfestone kaufen?“ Grace war wie vom Donner gerührt. „Aber ... es wird ein Vermögen kosten!“
„Pah! Glaubst du, wir sind eine von diesen knauserigen Familien, die um dein Glück feilschen würden, du dummes Mädchen?“
„Aber Dominic könnte es umsonst bekommen ... wenn er Melly Pettifer heiratet.“
Großonkel Oswald stellte sein Glas geräuschvoll auf den Tisch. „Der Himmel bewahre mich vor jungen, verliebten Frauen! Warum, zum Teufel, sollte er Melly Pettifer wollen, wenn er dich haben kann?“
„Außerdem hat Mama uns allen Liebe, Lachen, Sonnenschein und Glück versprochen, weißt du nicht mehr?“, erinnerte sie Prudence. Grace hatte ihr vorhin oben erzählt, was Großvater einst zu ihr gesagt hatte, und Prudence hatte ihre Bedenken gründlich widerlegt.
„Uns allen“, bestätigte Charity energisch. „Vor allem ihrer geliebten jüngsten Tochter.“ Prudence musste ihren Schwestern davon erzählt haben.
Grace brachte kein Wort heraus. Sie umklammerte ihr Glas mit beiden Händen, und die Tränen strömten ihr über die Wangen.
„Ich hätte den vermaledeiten Besitz auch gern ganz allein gekauft, aber davon wollten die anderen nichts wissen“, bemerkte Großonkel Oswald. „Ich wollte immer, dass jedes Einzelne von euch Mädchen glücklich wird, und ich will verdammt sein, wenn ich zulasse, dass unser letzter kleiner Schatz sich wegen ein bisschen Land opfert.“ Er zog ein großes Taschentuch hervor und schnäuzte sich geräuschvoll. „Es ist also abgemacht. Du heiratest den Jungen, und wir schenken euch den Besitz zur Hochzeit. Auf Grace und DAcre!“
„Auf Grace und DAcre!“ Sie tranken alle auf die beiden.
„Und wenn du den Jungen dazu bringen kannst, die Renovierung des Besitzes etwas langsamer anzugehen, bekommen wir ihn vielleicht sogar zu einem günstigeren Preis.“
„O Gott“, rief Grace entsetzt aus. Alle Blicke richteten sich auf sie. „Er ist gerade unterwegs, um Wolfestone zum Verkauf anzubieten!“
„Dann werden wir ihm wohl nachreisen und ihn daran hindern müssen, nicht wahr?“, schlug Gideon ruhig vor.
„Wer ,wir‘?“, fragte Großonkel Oswald.
„Jeder, der Grace begleiten möchte.“
„Da ist das Dorf!“ In der letzten halben Stunde hatte Grace unentwegt den Kopf zum Kutschenfenster hinausgestreckt, um sich den ersten Blick auf Wolfestone nicht entgehen zu lassen.
Der Tross der Reisekutschen der Merridews rollte ganz langsam durch das Dorf. Grace hatte an die Hühner gedacht -kein Huhn von Wolfestone sollte unter ihren Kutschenrädern den Tod finden. Vor dem Gasthaus stand Billy Finn und winkte ihr aufgeregt zu. „Sie sind spät dran, gute Dame. Die Trauung hat bereits angefangen!“
„Welche Trauung? Anhalten! “, rief Grace dem Kutscher zu. „Miss Mellys natürlich! Sie sieht wirklich hübsch aus.“ Großonkel Oswald streckte ebenfalls den Kopf aus dem Fenster. „Wo ist DAcre?“
„Natürlich auch in der Kirche“, gab Billy trocken zurück, als hielte er das für eine ganz dumme Frage. „Alle sind da. Nur ich nicht.“ Er verzog das Gesicht. „Ich mag keine Hochzeiten. Meine Mutter weint dann immer.“
„Wo ist die Kirche?“, wollte Großonkel Oswald wissen. Billy zeigte in die entsprechende Richtung.
„Alle zur Kirche!“, rief Großonkel Oswald den fünf Kutschern zu. „Da entlang!“
Fünf Reisekutschen holperten über die schmale Straße und hielten vor St. Stephen’s an. Fünf Kutschentüren flogen auf, und fünf Männer sprangen heraus, ohne abzuwarten, bis die Trittstufen ausgeklappt wurden. Und ohne auf die Damen Rücksicht zu nehmen, stürmten fünf Männer auf die Kirche zu.
Großonkel Oswald rannte allen voran. Lautstark riss er die Kirchentür auf. Da stand ein Bischof in seinem prunkvollen Ornat und mit einer hohen Mitra. Da stand die Braut in cremeweißer Spitze. Da stand ein riesiger Türke mit einem riesigen Turban und funkelte ihn aufgebracht an. Großonkel Oswald blinzelte, um zu prüfen, ob seine Augen ihm nicht einen Streich spielten. Es war tatsächlich ein Türke.
Der Türke trat zur Seite, und Großonkel Oswald schnaubte. Denn dort stand völlig schamlos Lord D’Acre in festlichem Hochzeitsanzug und hielt die Hand der Braut.
„Die Trauung findet nicht statt!“, brüllte Großonkel Oswald. „Lassen Sie sofort diese Frau los, D’Acre, Sie verabscheuungswürdiger Schuft!“
Man hätte eine Stecknadel auf den Boden fallen hören, so still wurde es in der Kirche.
„Ich muss doch sehr bitten“, protestierte der Bischof mit der salbungsvollen Stimme, die Bischöfe sich mit der Zeit so angewöhnten.
„Das sollten Sie allerdings, und zwar um Vergebung!“, polterte Großonkel Oswald. „Diesen ... diesen Schurken mit dieser Frau zu verheiraten, obwohl er bereits mit meiner Großnichte verlobt ist!“
Die Braut drehte sich um und sah ihn erschrocken an. Großonkel Oswald nickte ihr freundlich zu. „Guten Tag, Melly. Du siehst sehr hübsch aus, meine Liebe.“
Der Bischof lief dunkelrot an. „Wie können Sie es wagen, in meine Kirche zu stürmen und mit völlig haltlosen Anschuldigungen um sich zu werfen? Das ist meine Trauung und ... “ „Haltlose Anschuldigungen? Ich werde Ihnen ...“
Ein schlaksiger junger Mann trat vor und sah Großonkel Oswald an. „Ich denke, das ist ein Missverständnis ...“ „Erzählen Sie mir nicht, was was ist, junger Mann! Was haben Sie überhaupt damit zu schaffen?“
„Ich bin nicht mit Ihrer Großnichte verlobt. Ich glaube, ich kenne Ihre Großnichte nicht einmal.“
Großonkel Oswald starrte ihn an. „Das habe ich doch auch nie behauptet!“
„Ich meine, Sie hätten so etwas angedeutet.“
„Nein! Dieser Schuft da ist mit meiner Großnichte verlobt!“ Er zeigte mit dramatischer Geste auf Lord DAcre.
Alle Augen sahen auf Lord D’Acre. Er verneigte sich.
„Ja, und ich bin überglücklich, sie heiraten zu dürfen -wenn Sie wollen, sogar schon heute, sobald ich Miss Pettifer meinem guten Freund Humphrey Netterton vor dem Altar zugeführt habe.“ Seine Mundwinkel zuckten, als er auf den schlaksigen jungen Gentleman zeigte.
„Ach“, meinte Großonkel Oswald. „Sie führen ihm also die Braut zu?“ Er nickte. „Gut, gut, dann habe ich keinen Einwand gegen diese Hochzeit. Pfarrer, Sie können weitermachen.“
„Ich, Sir“, donnerte der Bischof, „bin Bischof! “
„Na ja, dann vergeuden Sie keine Zeit damit, uns zu beeindrucken, und fahren Sie fort, dieses Paar endlich zu trauen“, gab Großonkel Oswald ungerührt zurück. „Danach können Sie uns eine Sondergenehmigung ausstellen. Meine Großnichte heiratet nämlich Lord D’Acre, und dazu benötigen wir die Genehmigung.“ Er drehte sich zu Gideon um, der sich schüttelte vor unterdrücktem Gelächter. „Zu etwas anderem waren Bischöfe meiner Meinung nach noch nie nütze.“
Melly leuchtete förmlich. „Er liebt mich, Grace“, erklärte sie mit schüchternem Stolz. „Er liebt mich! Und ich liebe ihn.“ Draußen in der großen Halle von Wolfestone war der Hochzeitsempfang in vollem Gange. Melly und Grace hatten sich für einen Moment in die Bibliothek zurückgezogen, um sich gegenseitig auf den neuesten Stand der Entwicklungen zu bringen.
Grace umarmte ihre Freundin. „O Melly, ich freue mich so für euch beide. Aber wann ist das alles passiert?“
„Unmittelbar nachdem ihr, du und Lord DAcre, abgereist seid. Offensichtlich hatten Frey und er sich heftig darüber gestritten, was Lord DAcre nach der Hochzeit mit mir vorhatte. Frey meinte, er hätte an gar nichts anderes mehr denken können. Und dann, letzte Woche in der Kirche, ist ihm alles klar geworden.“
Grace lächelte. „Dass er dich liebt und dich selbst zur Frau wollte.“
„Ja. Ich kann es immer noch kaum glauben. Er will mich.'.“ Sie drückte Grace’ Hände und sagte staunend: „Grace, er sagt, er findet mich schön.“
Grace betrachtete Mellys leuchtendes Gesicht. Es war, als hätte jemand dahinter eine Kerze angezündet. „Und das bist du auch, liebste Melly.“ Trotzdem war sie immer noch verwirrt. „Ich muss allerdings sagen, es überrascht mich, dass dein Vater eingewilligt hat.“
Melly wurde wieder ernst. „An jenem Tag nach der Kirche war Frey immer noch wütend. Er ging geradewegs in Papas Zimmer und brüllte ihn an. Frey sagte ihm, es wäre bösartig, was er mir da antäte. Dann meinte er, dass er mich liebt und mich heiraten wolle, auch wenn er gar kein Geld hätte.“ Sie seufzte verträumt.
„Und was geschah danach?“, fragte Grace.
„Nun, zuerst einmal gar nichts. Papa sagte Nein. Drei Tage später jedoch erschien aus heiterem Himmel Freys Onkel, der Bischof. Frey hatte gar keine Ahnung, dass er kommen wollte. Der Bischof sprach lange mit Papa, und anschließend sagte er zu Frey, er würde seine Unterstützung großzügig erhöhen -und seiner Mutter unabhängig davon eine anständige Summe zur Verfügung stellen. Da hat Papa dann eingewilligt, dass ich Frey heirate. Kurz darauf traf auch noch Lord D’Acre ein, und Papa sagte ihm, er solle dich heiraten, und Lord D’Acre antwortete, dass er das auch tun würde.“
„Erstaunlich“, rief Grace aus. „Was glaubst du, worüber der Bischof und dein Vater sich wohl unterhalten haben?“
„Frey hat Papa hinterher gefragt, und da hat Papa nur an seinen Nasenflügel getippt und etwas von Jugendsünden angedeutet, die den Bischof eingeholt und einen plötzlichen Anfall von Großzügigkeit ausgelöst hätten.“ Sie rümpfte die Nase. „Für mich ergab das alles keinen Sinn, aber Frey fand das sehr komisch. “ Melly seufzte beglückt. „Also hat sich alles ganz wundervoll gefügt. Sogar Papas Zustand hat sich gebessert. Wir glauben, dass er schon bald das Bett verlassen kann. “
„Das ist ja fantastisch! Ich freue mich ja so für dich, Liebes.“ Grace stand auf und legte den Arm um ihre Freundin. „Und jetzt gehen wir zurück zu deiner Hochzeitsfeier.“