3. Kapitel

Eine süße Unordnung der Kleidung kann lüsterne Begehrlichkeiten wecken.

Robert Herrick

Wenige Minuten, nachdem Dominic in die Stallungen von Wolfestone zurückgekehrt war, legte sich der Wind, und der Regen hörte genauso schlagartig auf wie er angefangen hatte. Die plötzliche Stille war beinahe ohrenbetäubend.

„Sollte meine Pechsträhne ein Ende haben?“, murmelte er vor sich hin, während die Regentropfen von seinem Umhang rannen und kleine Pfützen auf den schmutzigen Pflastersteinen bildeten.

Vor dem Schloss hatte er einen schwarzen Einspänner gesehen. War der Arzt gekommen? Schon? Aber woher ..P.

Er nahm Hex den Sattel ab und fand seinen eigenen Sattel ordentlich aufgehängt an der Wand. Die graue Stute war ebenfalls wohlbehalten wieder da, sie hatte einen Eimer Wasser vor sich stehen und war gründlich abgerieben worden. Also hatte das Mädchen das Tier gefunden und befand sich wahrscheinlich selbst wieder im Trockenen.

Als er ins Schloss trat, eilte Miss Pettifer auf ihn zu. „Gott sei Dank, dass Sie zurück sind. Wo um alles in der Welt waren Sie bloß?“ Er öffnete den Mund, um eine Erklärung abzugeben, doch sie sprach bereits weiter. „Papa geht es etwas besser, aber Dr. Ferguson möchte trotzdem, dass er sich ins Bett legt. Er kann jedoch nicht laufen, und keiner von uns ist in der Lage, ihn nach oben zu tragen. Ob Sie wohl so freundlich wären?“ „Wie ist der Doktor so schnell hierhergekommen?“

Miss Pettifer warf ihm einen verwirrten Blick zu. „Grac... Greystoke, meine Gesellschaftsdame, hat ihn geholt. Wussten Sie das nicht?“

„Nein, das wusste ich allerdings nicht“,gab Dominic schroff zurück.

„Aber Sie haben ihr doch Ihren Umhang und das Pferd gegeben.“

„Nun ja“, gab Dominic kühl zu. Greystoke hat ihn geholt -als wäre es die normalste Sache der Welt, dass eine angestellte Gesellschaftsdame einfach auf einem fremden Pferd losritt, noch dazu nicht im Damensattel!

Miss Pettifer öffnete die Tür zum Salon, und ein großer grauhaariger Mann erhob sich von seinem Stuhl. „Ferguson, Mylord. Ich bin der Arzt aus dem Dorf.“ Er streckte die Hand aus, und Dominic schüttelte sie.

„Wie geht es Ihrem Patienten?“

Der Doktor warf Miss Pettifer einen verstohlenen Blick zu und erwiderte dann leichthin: „Er ist nicht verletzt, nur ziemlich mitgenommen, nehme ich an. Genaueres kann ich erst sagen, sobald wir ihn ins Bett bekommen und ausgezogen haben.“ Er sah Dominic fest in die Augen und schien ihm damit eine stumme Botschaft zu übermitteln. Sir Johns Zustand war doch ernster, als der Tonfall des Arztes es vermuten ließ.

Dominic nickte. „Dann trage ich ihn wohl besser nach oben, nicht wahr?“ Er zögerte. „Hm, ich weiß nicht genau, wohin ich ... “

„Greystoke richtet oben gerade ein Zimmer für meinen Vater her.“

Er zog die Augenbrauen hoch. „Tatsächlich? Wie schön für sie“, erwiderte er gereizt. Er hatte sich ausgemalt, wie sie allein, verängstigt und frierend durch den Sturm irrte - aber sie hatte nicht nur den Arzt geholt und war wohlbehalten ins Haus zurückgekehrt, sondern erwies sich jetzt auch noch als erstaunlich tüchtig! Warum ihn das so wütend machte, konnte er allerdings nicht sagen. Er bückte sich, um Sir John hochzuheben.

„Noch nicht! “, protestierte Miss Pettifer, und fügte errötend hinzu: „Sie sind ganz nass!“

Dominic sagte kein Wort. Sie errötete noch stärker und wandte den Blick ab, als er den Umhang ablegte und sich das Hemd auszog, ehe er einen der Stuhlüberwürfe benutzte, um sich abzutrocknen. „So, jetzt bin ich einigermaßen trocken -oder soll ich meine Reithose auch noch ausziehen?“ Sowohl der Arzt als auch Miss Pettifer gaben einen erstickten Schreckenslaut von sich, daher hob er Sir John auf seine Arme. „Dann zeigen Sie mir mal den Weg, Miss Pettifer“, meinte er spöttisch schmunzelnd.

Die kleine Gesellschaftsdame wartete oben an der Treppe. Sie sah nicht mehr aus wie eine gebadete Katze, aber ihre nassen Sachen hatte sie immer noch an. Und ihre Augen leuchteten so blau wie eh und je.

„Lord D’Acre. “ Sie betonte bissig seinen Namen und knickste halbherzig.

Also war sie ihm deswegen immer noch böse. Die Tatsache, dass sie von einem Lord und nicht von einem vermeintlichen Zigeuner geküsst worden war, schien sie sogar mehr zu ärgern. Dominics Laune besserte sich schlagartig.

„Gebiet... Miss Greystoke.“ Er verneigte sich betont höflich vor ihr.

Ihre Augen wurden ganz schmal. „Hier hinein, bitte“, sagte sie kurz angebunden. Sie zeigte auf eine offene Tür, durch die er ein frisch gemachtes Bett, den Schein vieler Kerzen und ein knisterndes Kaminfeuer sehen konnte. Es war bei Weitem der am meisten einladende Raum im Schloss.

Sie ging voraus und schlug die Bettdecke zurück. Er legte Sir John vorsichtig auf das Bett und richtete sich dann auf. Ihre Augen weiteten sich, als sie Dominics nackten Oberkörper wahrnahm. Allerdings wandte sie den Blick nicht ab wie Miss Pettifer, die rot geworden war und missbilligend die Lippen geschürzt hatte.

Greystoke starrte ihn an. Mit großen Augen und leicht geöffneten Lippen, als hätte sie noch nie eine Männerbrust gesehen.

Wahrscheinlich hatte sie das auch nicht. Der Gedanke gefiel ihm.

„Dr. Ferguson und ich werden uns jetzt um Sir John kümmern. Sie beide gehen hinaus und machen sich nützlich. “

Seine Worte holten Grace aus ihrer Trance, und sie riss den Blick von seiner Brust. „Aber ...“

„Wir rufen Sie schon, wenn wir Sie brauchen. Und, Greystoke ..." Er sah sie aus seinen seltsamen goldenen Augen durchdringend an. „Ziehen Sie die nassen Sachen aus.“

Und ohne zu wissen, wie ihnen geschah, standen Melly und Grace plötzlich auf der anderen Seite einer energisch geschlossenen Tür. Ehe sie etwas sagen konnten, hörten sie, wie der Schlüssel von innen im Schloss herumgedreht wurde.

„Also wirklich“, rief Grace verärgert aus. Sie so einfach wie ein kleines Kind wegzuscheuchen, nach allem, was sie getan hatte!

„Aber ich bin seine Tochter“, jammerte Melly. „Papa braucht mich!“

Sie tauschten aufgebrachte Blicke. „Er mag ja ein ungehobelter Teufel sein, aber er hat recht“, gab Grace schließlich zu. „Dein Papa würde es nicht wollen, dass ihm zwei junge Frauen das Nachthemd anziehen. Komm, wir suchen uns selbst ein Schlafzimmer und beziehen unsere Betten.“

Sie wählten für Melly ein Zimmer auf demselben Flur gegenüber von Sir Johns, damit sie nachts notfalls schnell bei ihm sein konnte, wenn er sie brauchte. Es war ein hübsches, sehr feminines Zimmer mit verblichenen Brokatbettvorhängen in Rosa, Cremeweiß und Grün. Grace gefiel es auf Anhieb. Der Blick ging hinaus über die frühere Rasenfläche zu einem merkwürdigen Hügel aus Schutt, der völlig von roten Rosen überwuchert war. Dahinter erhoben sich die Berge von Wales.

Es gab ein breites Bett und ein schmales, und weil das Haus so groß, ungemütlich und leer war, gelangten sie zu der stummen Übereinstimmung, sich das Zimmer zu teilen. Melly begründete es damit, dass sie Angst hatte, in diesem seltsamen Schloss allein zu schlafen.

Grace hatte einen anderen Grund, den sie aber nicht laut äußerte - sie traute dem Hausherrn nicht über den Weg. Ihm, seinen durchtriebenen goldenen Augen und seinem nackten, sonnengebräunten Körper.

Melly musste ihre Gedanken gelesen haben, denn als sie anfingen, die Betten zu machen, sagte sie: „Weißt du, ich wäre beinahe in Ohnmacht gefallen, als er sich das Hemd ausgezogen hat. Er trug nicht einmal ein Unterhemd. So etwas Schockierendes habe ich noch nie im Leben gesehen. Ich wusste gar nicht, wo ich hinschauen sollte! “

„Ja, er hat überhaupt keine Manieren“, stimmte Grace zu. Sie hatte hingesehen. Sie hatte sich gar nicht satt sehen können an dieser sonnengebräunten Brust. So samtig, warm und kräftig. Am liebsten hätte sie mit den Fingern darüber gestrichen. Und er hatte das natürlich sofort gemerkt, dieser Teufel! Er hatte sie dabei ertappt, wie sie ihn angestarrt hatte, und sein Lächeln war träge, durchtrieben und voller männlicher Selbstzufriedenheit gewesen.

Sie schüttelte den Kopf. Er hatte nicht das Recht, halb nackt herumzulaufen. Er war wirklich ein grauenhafter Mensch! Mit grauenhaften Manieren.

„Dieses Haus ist in einem entsetzlichen Zustand!“ Grace schüttelte gekonnt und energisch die Laken aus. Allen Merridew-Mädchen waren die grundlegenden Hausarbeiten von klein auf eingebläut worden. „Wie konnte er hierher nur Gäste einladen? Er hätte wenigstens vorher die Zimmer reinigen lassen können!“ Sie zeigte entrüstet um sich.

Melly machte ein verlegenes Gesicht. „Eigentlich hat uns Lord D Acre gar nicht eingeladen. Es war Papas Idee, hierher zu fahren.“

„Wie bitte? Ohne Einladung?“ Grace setzte sich auf das Bett, das sie gerade hatte machen wollen, und starrte ihre Freundin verblüfft an. „Melly Pettifer, dein Vater ist einer der korrektesten Männer, die ich kenne. Was ist ihm bloß eingefallen, sich selbst unaufgefordert in ein heruntergekommenes, verlassenes Schloss einzuladen?“

Melly schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich glaube ..." Sie verstummte.

„Du glaubst was?“

Melly wurde noch verlegener. „Papa glaubt wohl, wenn er Lord DAcre zwingt, mich hier zu heiraten, wo er nicht so leicht verschwinden kann wie in London, würde er ...“, sie errötete, „... würde er vielleicht seine Meinung ändern.“ „Und eine richtige Ehe führen, meinst du?“

Melly deutete befangen ein Nicken an. „Du kennst Papa -er ist ein wenig weltfremd. Er hält mich für hübsch und sagt, Lord DAcre könnte meinem ...“ Ihr rundes Gesicht verzog sich. „Er könnte meinem Charme nicht widerstehen.“

Grace umarmte ihre Freundin. „Aber du hast wirklich Charme, Melly“, beteuerte sie. Melly war treu, liebevoll und sanftmütig. Sie würde eine wundervolle Ehefrau und Mutter abgeben. Wenn auch vielleicht nicht für Lord DAcre ...

Melly war nicht überzeugt und schluchzte. Nach einer Weile fasste sie sich jedoch und sah zur Tür gegenüber. „Glaubst du, sie sind jetzt mit Papas Untersuchung fertig?“

Grace tätschelte ihr aufmunternd die Wange. „Klopf an und frag. Ich mache hier die Betten fertig, dann gehe ich nach unten und sehe nach, ob ich irgendwo heißes Wasser auftreiben kann. “

„O ja, bitte, ich hätte zu gern eine Tasse Tee“, rief Melly mit einem noch etwas unsicheren Lächeln aus. „Ich frage mich, wer heute Abend für uns kochen wird? Ich habe großen Hunger.“

„Ich sehe zu, was ich machen kann“, versicherte Grace. Eine Tasse Tee zu kochen traute sie sich gerade noch zu, aber ein Abendessen?

Melly hatte nur gelernt, Bediensteten Anweisungen zu erteilen; sie verfügte über keinerlei praktische Fähigkeiten außer dem Nähen. Grace wiederum konnte wunderbar Betten beziehen, aber kochen ...

Trotzdem mussten sie etwas essen. Irgendjemand würde sich etwas einfallen lassen müssen.

Als Melly die Hand hob, um anzuklopfen, ging die Tür zu Sir Johns Zimmer auf und Lord DAcre kam heraus. „Der Arzt ist fertig. Sie können jetzt hineingehen, Miss Pettifer.“

Melly schob sich an ihm vorbei und ließ Grace allein mit Lord DAcre zurück. Besser gesagt, mit dem Anblick seiner beeindruckend nackten Brust.

Oder eher - mit seiner nackten beeindruckenden Brust?

Nackt war sie auf jeden Fall. Und beeindruckend ebenfalls -breit, kräftig und sonnenverwöhnt. Es war nicht so, als hätte sie Vergleichsmöglichkeiten gehabt, außer anhand von Marmorstatuen. Aber Marmor ließ sich einfach nicht mit warmer, straffer Haut vergleichen.

Er hätte wenigstens die Zeit nutzen und sich ein Hemd überziehen können, dachte sie. Sein ganzer Oberkörper war nackt. Sogar noch nackter als zuvor, weil er jetzt keinen alten Mann mehr auf den Armen hatte, und er ging geradezu schamlos unbefangen damit um. Grace zwang sich, den Blick fest auf sein Kinn zu richten, dennoch war sie sich der breiten Brust und der goldbraunen Haut überdeutlich bewusst. Sie verspürte plötzlich den brennenden Wunsch, seine Brust zu berühren und zu erkunden, wie sie sich anfühlte. Ihre Wangen begannen zu glühen.

Lord DAcre betrachtete Grace eingehend, und seine Augen wurden schmal. „Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht, wissen Sie das? Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie den Arzt holen wollten?“

Sie bekam sofort ein schlechtes Gewissen. „Das tut mir leid. Ich hielt das zu dem Zeitpunkt für richtig. Sir John brauchte seine Medizin und einen Arzt. Die schwere Tasche konnte ich nicht tragen, reiten jedoch schon.“

„Ich dachte, die Stute wäre weggelaufen und Sie hätten sich auf die Suche nach ihr gemacht. Deshalb habe ich mein eigenes Pferd genommen und bin selbst losgeritten, um den Arzt zu holen. “

Ihre Gewissensbisse nahmen zu. „Ich weiß. Mir wurde klar, was geschehen sein musste, als ich wieder in den Stall zurückkehrte. Es tut mir wirklich leid. Aber ich dachte, Sie würden mein Handeln verstehen. Für mich war es das Naheliegendste gewesen. “

Er sah sie ungläubig an, sagte aber nur: „Ich wusste nicht, dass Gesellschaftsdamen reiten können.“

Sie zuckte die Achseln. „Manche von uns können es.“ Es war sehr schwierig, sich auf das Gespräch zu konzentrieren, wenn man diese Brust vor Augen hatte. Grace starrte angestrengt auf seine Nase.

Er zog eine Augenbraue hoch. „Ohne Damensattel?“

Wieder zuckte sie die Achseln. „Warum nicht?“

Er warf ihr einen gereizten Blick zu, als wollte er sagen, dass es doch ganz offensichtlich war, warum das nicht so selbstverständlich war. „Sie hätten mir über ihr Vorhaben Bescheid sagen sollen.“

„Ich weiß - aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass Sie sich Sorgen machen würden. Ich konnte nur daran denken, dass jede Minute zählte. Abgesehen davon hätten Sie mich doch niemals losreiten lassen, oder?“

„Nein.“ Er runzelte die Stirn. „Stimmt mit meiner Nase etwas nicht?“

Sie errötete und starrte auf sein Ohr. „Ganz und gar nicht. Aber wenn ich mich nicht auf den Weg gemacht hätte, wäre kostbare Zeit verloren gegangen.“

„Wo wir gerade von kostbarer Zeit sprechen - ich dachte, ich hätte Ihnen aufgetragen, sich etwas Trockenes anzuziehen! Dazu hatten Sie schon Zeit genug gehabt.“

Sie warf ihm einen ungläubigen Blick zu. „Ausgerechnet Sie reden von unpassender Kleidung! “ Sie sah gezielt auf seine Brust. Das war ein Fehler. Es kribbelte Grace schon wieder in den Fingern, sie zu berühren. Sie verschränkte die Arme.

„Mein Hemd war nass“, meinte er achselzuckend.

Diese Bewegung lenkte ihre Aufmerksamkeit auf seine breiten, muskulösen Schultern. Warum war ihr noch nie aufgefallen, wie schön Schultern sein konnten?

„Ach, Sie meinen wohl, ich sollte ebenfalls halb nackt ... “ Sie verstummte abrupt. Eigentlich sollte sie doch wissen, dass man lieber nicht redete, wenn man so ... abgelenkt war.

„Ich hätte nicht das Geringste dagegen“, erwiderte er prompt.

Nein, natürlich nicht! „Dieses Kleid ist aus Wolle“, erklärte sie, den Blick auf sein Kinn gerichtet. „Wolle hält die Wärme, ob nass oder trocken. Deswegen tragen Fischer ja auch Wollpullover.“

„Ich interessiere mich weder für die Kleidung von Fischern noch für die Eigenschaften von Wolle“, knurrte er. „Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollen sich umziehen, und das meinte ich ernst! Benötigen Sie Hilfe mit irgendwelchen Knöpfen und Bändern? In solchen Dingen bin ich sehr geschickt und schnell.“

Er war abscheulich! Sie zwang sich, nicht mehr an diese nackten, muskulösen Schultern zu denken. „Nein, danke“, teilte sie ihm würdevoll mit.

Er zog seine Reithose hoch und lenkte Grace damit schon wieder ab. „Wenn ich Sie noch einmal in diesem nassen Kleid erwische, wird das Konsequenzen haben, die Ihnen nicht gefallen werden! “ Er ging zwei Schritte den Flur hinunter, dann drehte er sich plötzlich um. Ein Lächeln spielte um seine Lippen. „Oder vielleicht ja doch?“

Dieses Lächeln erinnerte sie an etwas anderes, das sie ihm übel nahm. „Warum haben Sie mir nicht gleich bei unserer ersten Begegnung gesagt, dass Sie Lord D’Acre sind?“

Er zog die Brauen hoch. „Was für einen Unterschied hätte das denn gemacht?“

„Gar keinen“, erklärte sie und war gereizt über seine vermeintliche Begriffsstutzigkeit. „Außer dass Sie Miss Pettifers Verlobter sind, was Ihr Verhalten noch scheußlicher macht, als ich zuerst gedacht habe! Ob nun Stallbursche oder Baron, in Sachen Manieren haben Sie noch einiges hinzuzulernen!“ Er konnte doch unmöglich vergessen haben, dass er sie zweimal geküsst hatte. Sie jedenfalls konnte es nicht.

Um seine Augen bildeten sich Lachfältchen. „Lehren Sie mich, was immer Sie wollen, Blauauge.“ Bei ihm klang das beinahe ... unanständig.

Sie schnaubte leise, aber es wäre dumm gewesen, auf eine so unanständige Bemerkung überhaupt einzugehen. „Wie komme ich am schnellsten in die Küche?“, fragte sie. „Dieses Haus ist zwar sehr reizvoll, aber unübersichtlich wie ein Fuchsbau.“

Er sah sie erstaunt an. „Sie finden es reizvoll?“

„Ja, sehr sogar. Warum? Sie etwa nicht?“

„Kein bisschen. Es ist hässlich und unpraktisch.“

„Still - sagen Sie das nicht! Der Wasserspeier könnte Sie hören und in seinen Gefühlen verletzt sein“, sagte sie erschrocken.

Sein Blick wurde noch verwunderter. „Der Wasserspeier?“ „Sagen Sie bloß, Sie hätten ihn nicht gesehen! Er ist unten, im Gebälk über der Eingangshalle. Aus Eiche geschnitzt, glaube ich, und er hat ein wundervolles Gesicht.“

„Und dieser Wasserspeier hat Ihrer Meinung nach Gefühle?“

„Aber natürlich! Schließlich ist er der Wächter dieses Hauses. Momentan ist er voller Staub und Spinnweben, daher muss sich der Ärmste etwas einsam und vernachlässigt Vorkommen.“

Seine Mundwinkel zuckten. „Tatsächlich?“

„Ja“, bekräftigte sie. „Man braucht ihn nur anzusehen, dann weiß man, dass er nicht zu der boshaften, Furcht einflößenden Sorte von Wasserspeiern gehört. Er ist freundlich, weise und gütig. Er wird die Liebe in dieses Haus bringen, warten Sie nur ab.“

Seine Miene verfinsterte sich. „Das bezweifle ich.“

Grace sprach einfach weiter. „Und Ihr Haus ist überhaupt nicht hässlich, sondern auf eine bezaubernde Art verschroben und ein wenig exzentrisch. Man kann es sehr schön herrichten, wenn man sich nur ein wenig Mühe gibt.“

Er wirkte nicht im Geringsten beeindruckt.

Sie zeigte auf die Steintreppe hinter sich. „Diese Treppe, zum Beispiel. Ich mag es, wie die Stufen im Lauf der Zeit von unzähligen Füßen ausgetreten worden sind. Sie und ich können so auf den Spuren von Generationen Ihrer Vorfahren wandeln. Finden Sie das nicht aufregend?“

„Kein bisschen. Dadurch sind die Stufen nur gefährlich geworden.“ Er wandte sich ab.

„Ach.“ Seine nüchterne Reaktion brachte sie etwas aus der Fassung. „Die Küche, bitte“, erinnerte sie ihn. „Wo ist sie?“ „Ich habe keine Ahnung.“

„Wie bitte? Aber das ist doch schließlich Ihr ... “

„Ich bin heute auch zum allerersten Mal hier.“

Sie war sprachlos. „Aber das ist das Zuhause Ihrer Vorfahren!“

„Ja, meiner Vorfahren. Nicht meins. Wahrscheinlich kennen Sie das Haus schon besser als ich, da Sie sofort ein Schlafzimmer für Sir John gefunden haben.“ Er runzelte die Stirn, als wäre ihm ihre ursprüngliche Frage erst jetzt bewusst geworden. „Wozu benötigen Sie die Küche?“

„Ich brauche heißes Wasser“, gab sie geistesabwesend zurück. In Gedanken war sie ganz bei dem Rätsel, warum ein Mann noch nie das Haus seines Vaters - seiner Familie - gesehen haben konnte. Und doch war er der rechtmäßige Sohn, sonst hätte er den Titel nicht erben können ...

„Eine ausgezeichnete Idee“, sagte er plötzlich in völlig verändertem Tonfall. Er klang eindeutig verschmitzt.

„Wie bitte?“, fragte sie argwöhnisch nach.

„Sie sagten doch, Sie wollten mir einmal gründlich den Kopf waschen und nicht nur den, wissen Sie nicht mehr?“ Er hakte die Daumen in den Bund seiner Reithose. „Also suchen wir die Küche jetzt gemeinsam, dann können Sie gleich damit anfangen.“ Er zwinkerte ihr zu. „Ich muss Sie aber vorwarnen - ich bin zwar im Allgemeinen ein recht robuster Mensch, aber gewisse Stellen an mir sind ziemlich ... empfindlich und sollten entsprechend behandelt werden.“

Sie weigerte sich strikt, auf seinen Hosenbund zu starren, und erwiderte stattdessen würdevoll: „Der einzige Grund, warum ich heißes Wasser benötige, ist der, dass Mel... Miss Pettifer eine Tasse Tee wünscht.“

Er machte sofort ein bedauerndes Gesicht. „Sie werden mich also nicht waschen?“

„Eher würde ich Sie in Öl braten!“, teilte sie ihm liebenswürdig mit.

Er lachte leise und ging weiter den Flur hinunter. Sie sah ihm nach und bewunderte die ausgreifenden Schritte seiner langen Beine. Der Anblick seiner nackten Schultern und seines Rückens war prachtvoll.

Ihn waschen, also wirklich. Sie schnaubte leise und unterdrückte ein Schmunzeln. Was für einen Unsinn dieser Mann redete!

Während sie die Küche suchte, ging ihr immer wieder nur eine Frage durch den Kopf. Wie war es möglich, dass ein Mann in seinem Alter - er musste an die dreißig sein, schätzte sie -noch nie das Haus seines Vaters gesehen hatte? Das war ihr ein Rätsel. Er war ihr ein Rätsel. In einem Augenblick ganz verschmitzt und zu Scherzen aufgelegt, im nächsten in sich gekehrt und verschlossen.

Und, o ja, wie sehr sie sich in jeder Hinsicht von ihm angezogen fühlte ...

Irgendwann fand Grace die Küche dann doch und sah sich bedrückt darin um. Sie war ein mit Steinplatten ausgelegter, riesiger Raum und unvorstellbar altmodisch. Grace konnte sich mühelos vorstellen, wie hier ein mittelalterliches Bankett vorbereitet wurde, mit ganzen Schweinen und Hammeln auf Bratspießen und gewaltigen, brodelnden Kesseln über der Feuerstelle. Aber eine ganz normale Mahlzeit ... Es gab nicht einmal einen richtigen Kochherd. Sie würde ein Feuer machen und dann irgendeinen Topf darüber hängen müssen.

Ihre Schwester Faith hatte ihr einmal erzählt, wie die Soldatenfrauen, die mit der Armee über die Iberische Halbinsel gezogen waren, gelernt hatten, sich von dem zu ernähren, was das Land hergab, weil die Armeeverpflegung nie zuverlässig gestellt werden konnte. Faith schien das für eine kluge und nützliche Fähigkeit zu halten. Damals hatte Grace nicht allzu viel davon gehalten.

Erst jetzt, mit knurrendem Magen, erkannte sie, wie recht Faith gehabt hatte. Melly, Sir John und sie selbst mussten irgendetwas essen, und es gab keinerlei Hinweis, dass Lord D Acre sich darum kümmern würde.

Ihr fiel der Küchengarten draußen wieder ein. Dort gab es bestimmt Gemüse. Aus Gemüse konnte man eine Suppe kochen. War sie mit diesem Gedanken dazu imstande, mit einer Armee zu ziehen? Konnte sie ihre Familie versorgen? Natürlich konnte sie das. Sie war Grace Merridew, die geborene Suppenköchin!

Als kleines Mädchen hatte sie der Köchin hundertmal zugesehen, auch wenn sie selbst unter deren strenger Aufsicht immer nur Plätzchen hatte ausstechen dürfen. Aber wie schwer konnte es schon sein, eine Suppe zuzubereiten? Gemüse schneiden, kochen, umrühren - das war mit Sicherheit alles.

Sie eilte hinaus in den von einer Mauer umgebenen Küchengarten. Auf den ersten Blick sah sie dort nur Unkraut, doch dann entdeckte sie tatsächlich ein paar Kräuter, wild überwuchert zwar, aber noch zu gebrauchen. Sie pflückte Kerbel, Thymian und Petersilie.

Die genauere Überprüfung eines fedrigen Büschels von Grünzeug brachte ein paar seltsam geformte Möhren zum Vorschein. Mutiger geworden zog sie weiteres Grün aus dem Boden und stieß dabei auf ein paar Kartoffeln und eine Steckrübe. Zusammen mit der Gerste und den schon etwas schrumpeligen Zwiebeln, die sie in der Vorratskammer entdeckt hatte, würden diese Sachen bestimmt eine schmackhafte Suppe ergeben.

Grace brachte das Gemüse in die Spülküche, schrubbte es sauber und legte es befriedigt auf den Küchentisch.

Sie sah auf die große, leere Feuerstelle und stellte leicht entmutigt fest, dass vor Grace Merridew, der Suppenköchin, erst Grace Merridew, die Feuermacherin, tätig werden musste. Wie ärgerlich. Hier in der Küche war kein Feuerholz vorbereitet worden, das man einfach nur noch anzuzünden brauchte wie in Sir Johns Zimmer. Sie konnte nicht einmal einen Kohleneimer finden.

Dennoch musste sie irgendwas Brennbares finden, ein paar Holzscheite vielleicht, und sie konnte nur hoffen, dass sie während des Gewitters nicht nass geworden waren. Sie zündete eine Laterne an und ging nach draußen, um die Nebengebäude zu durchsuchen. Gleich das erste war voller Spinnweben, aber zu Grace’ Erleichterung entdeckte sie einen großen Stapel trockenes Holz, einen Hauklotz und eine Axt darin. Ein paar Holzspäne lagen um den Klotz herum, aber sie reichten bei Weitem nicht aus, um ein Feuer anzuzünden. Und die Holzscheite im Stapel waren riesig - sie hätte sie niemals tragen können.

Betroffen sah sie auf die Axt, dann atmete sie tief durch. Sie wollte die Welt bereisen und Abenteuer erleben, da sollte sie doch auch in der Lage sein, Feuer zu machen. Grace Merridew, die Holzhackerin?

Sie zerrte eines von den großen Holzscheiten zum Hauklotz, dessen Oberfläche eingekerbt war von Tausenden von Axthieben. Anschließend griff sie zum Werkzeug und befühlte die Schneide. Sie war scharf, aber nicht so scharf, dass sie ihr den Fuß abhacken würde, falls Grace daneben schlug. Ein Glück.

Sie holte erneut tief Luft, hob die Hacke so über die Schulter, wie sie sich das von den Männern abgeguckt hatte, und ließ sie mit aller Kraft nach unten sausen. Die Axt versenkte sich mit einem vielversprechenden Laut - im Fußboden. Auch das noch!

Mit viel Mühe bekam sie das Blatt wieder frei, und danach versuchte sie es noch einmal, genauer zielend. Rums! Die Axt steckte im Holzscheit, aber sonst hatte sich nichts verändert. Offensichtlich musste man öfter zuschlagen.

Grace zog das Gerät aus dem Holzscheit und schwang den Schaft erneut. Dieses Mal prallte die Axt von dem Holz ab und verdrehte dabei Grace’ Handgelenk. Es tat ziemlich weh. Grace rieb sich das Gelenk und starrte das Werkzeug wütend an. Sie würde es schaffen, Holz zu hacken! Jawohl!

Erneut schwang sie den Stiel. Rums! Sie traf das Scheit, spaltete es aber nicht. Grace versuchte es noch einmal. Und noch einmal. Ihre Hand schmerzte, aber allmählich wurde sie immer besser, und schließlich landete sie den entscheidenden Treffer. Das Holzscheit zerbrach in zwei Stücke - fast. Triumphierend packte sie es und versuchte, es endgültig auseinanderzubrechen. Doch es gab nicht nach und ihre Hand rutschte ab. „Au!“, entfuhr es Grace.

„Was zum Teufel machen Sie da?“, ertönte eine tiefe Stimme hinter ihr.