1. Kapitel
Glücklich ist der Mann, der sich nur ein paar Morgen väterlichen Besitzes wünscht, um zufrieden heimische Luft auf eigener Scholle atmen zu können.
Alexander Pope
Shropshire, England 1826
Von kalter Rache getrieben ritt er in das Dorf Lower Wolfestone. Auf seinem riesigen Rappen, auf dessen Fell sich Schweiß und Staub vermischten, zog er alle Blicke auf sich, weibliche und männliche gleichermaßen. Das Interesse der Menschen war ihm gleichgültig.
Er entdeckte das verblichene, in der drückenden Hitze ganz still hängende Schild des „Wolfestone Arms“ und lenkte sein Pferd auf das Gasthaus zu. Eine erschöpfte, weiß-braun gefleckte Hündin trottete hechelnd hinter ihm her.
Drei alte Männer saßen auf der Bank vor dem Haus, vor der Nachmittagssonne geschützt durch Buchen, deren grünes Laub sich allmählich in ein Gelb und Rotbraun zu verfärben begann.
Ein zerlumptes, mageres Kind kam aus dem Gasthaus gerannt. „Kann ich Ihnen helfen, Sir? Soll ich Ihnen vielleicht ein Ale bringen? Oder Wasser für Ihr Pferd? Für Ihren Hund?“
„Welcher Weg führt nach Wolfestone Castle?“
„Zum Schloss, Sir? Aber Mr Eades ist schon lange nicht mehr ...“
„Ach, Billy Finn, langweile den Gentleman nicht mit Dorfgeschwätz.“ Ein großer Mann schob den Jungen zur Seite und verneigte sich mit einem unterwürfigen Lächeln. „Wünschen Sie etwas zu trinken? Ich habe gutes Ale, frisch und kalt aus dem Keller, das Ihnen bei dieser Hitze angenehm durch die Kehle rinnen wird. Und falls Sie Hunger haben - meine Frau macht eine Fleischpastete, die in drei Grafschaften gerühmt wird.“
Der Fremde ignorierte ihn. „Welcher Weg, Junge?“
Der Junge, der der Hündin gerade Wasser gab, warf dem Wirt einen Blick zu und zeigte dann auf die Abzweigung nach rechts. „Die Straße entlang, Sir. Sie können es nicht verfehlen.“
Der Wirt bedachte den Jungen mit einem warnenden Blick. „Es wird niemand dort sein Der Fremde schnippte dem Jungen eine Silbermünze zu und ritt einfach weiter.
„Da soll mich doch ...“, rief der Wirt aus. „Was will so einer oben im Schloss?“
Der Älteste der drei Männer, ein runzliger, helläugiger Gnom, schnaubte. „Du hattest noch nie ein Auge für so etwas, Mort Fairclough. Hast du ihn denn nicht erkannt?“
„Wie sollte ich? Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen.“ „Sind dir seine Augen nicht aufgefallen? Goldbraun und kalt wie Raureif. Mit solchen Augen und diesem pechschwarzen Haar kann er nur einer der Wolfes von Wolfestone sein. “ Ein Raunen ertönte unter den Anwesenden.
Eins der Mädchen seufzte. „Er ist äußerst attraktiv. Ich mag große, attraktive und streng aussehende Männer. Der könnte von mir alles haben.“
Der ehrwürdige Greis meldete sich wieder zu Wort. „Die entscheidende Frage ist nur, was für eine Sorte Wolfe ist er?“ „Wie meinen Sie das, was für eine Sorte?“, fragte der Junge. „Auf Wolfestone haben seit gut sechshundert Jahren die Wolfes gelebt, Billy“, erklärte der Alte. „Von denen gibt es nur zwei Sorten - Gute oder Schlechte. Das Schicksal des Dorfs hängt von ihnen ab.“ An die anderen gewandt fuhr er fort: „Wir hatten schlechte Wolfes, solange die meisten von uns denken können. Aber als ich noch ein kleiner Junge war ... ach ja.“ In Erinnerungen versunken schüttelte er den Kopf. „Der alte Lord damals gehörte zu den Guten. Er war einer der
Besten.“ Der Greis trank seinen letzten Schluck Ale und sah bedauernd in den leeren Humpen. „Also frage ich mich, wie dieser hier sein mag.“
„Er ist bestimmt ein Guter“, meinte der kleine Billy Finn zuversichtlich und schloss die Finger fest um seine Silbermünze.
Der Wirt wiegte den Kopf. „Großzügig heißt noch lange nicht gut, Junge. Der letzte Lord war ziemlich freigiebig, wenn ihm danach war, trotzdem war er ein ganz Schlechter.“ Er spuckte in den Staub.
„Wir müssen auf die Graue Dame hoffen“, erklärte eine gebückte alte Frau mit weißen Ringellöckchen und schwarzen Knopfaugen gewichtig.
Billy Finn holte ihr einen Stuhl. „Wer ist die Graue Dame, Granny?“
Granny Wigmore nickte dankbar mit dem Kopf und setzte sich schwerfällig. „Sie ist die Wächterin über dieses Tal, Billy, die Vorbotin guter Zeiten für uns arme Menschen. Wenn die Graue Dame reitet, gibt es einen guten Wolfe. Sie ist schon viele Jahre nicht mehr geritten.“
Großvater Tasker ergriff das Wort. „Meine Mutter hat als kleines Mädchen die Graue Dame einmal gesehen. Ganz in Grau gekleidet und auf einem silbergrauen Pferd; sie ritt im Morgengrauen und war wunderschön.“
„Wenn die Graue Dame reitet, wird der Wolf gezähmt, heißt es“, wiederholte Granny.
Der Wirt sah in die Richtung, in die der Fremde geritten war, und schüttelte den Kopf. „Ich wette, den zähmt keine Dame, weder eine graue noch sonst irgendeine. So kalte Augen habe ich bei einem Mann noch nie gesehen. Die Augen des Teufels, möchte man meinen.“
„Wolfsaugen“, verbesserte der alte Mann. „Der alte Hugh Lupus hatte die gleichen.“
„Hugh Lupus?“
„Weißt du eigentlich gar nichts, Junge? Hugh Lupus war der erste Herr von Wolfestone - er kam mit dem Eroberer, Wilhelm I., nach England. Ein wilder, grimmiger Bursche, der alte Hugh, mit harten goldbraunen Augen, die einem Mann das Blut in den Adern gefrieren lassen konnten.“ Er lehnte sich zurück an die Mauer. „Es wird Sturm aufkommen. Ich spüre es in den Knochen.“
Die Mietkutsche jagte mit halsbrecherischer Geschwindigkeit dahin. Staub stieg in Wolken von der schmalen Landstraße auf, wehte in die offenen Fenster und legte sich über die Reisenden. Der Tag war so drückend heiß, dass keiner auf die Idee kam, die Fenster zu schließen. Außerdem war der Staub noch das kleinere Übel.
Die Reisenden wurden kräftig durchgeschüttelt, als die Kutsche über Wurzeln und durch Schlaglöcher holperte. Nur mit Hilfe der Haltegriffe aus Leder, die an den Seitenwänden befestigt waren, konnten sie sich auf den Sitzen halten.
„Sobald wir in London sind, werde ich diesen unverschämten Kerl entlassen“, schimpfte Sir John Pettifer verdrossen. Er hatte den Kutscher schon zweimal wegen der rasanten Geschwindigkeit ermahnt, immer dann, wenn sie haltgemacht hatten, um die Pferde zu wechseln. Der Mann war jedoch eigens für diese Reise eingestellt worden und nicht gerade geneigt, auf einen älteren Gentleman in unmodischer Kleidung zu hören, der sich bereits als ziemlich knauserig erwiesen hatte, was die Trinkgelder betraf.
Grace Merridew klammerte sich an den Haltegriff und knirschte mit den Zähnen. Unverschämtheit war nicht allein das Problem. Der Kutscher hatte in regelmäßigen Abständen zu einer Lederflasche gegriffen, und je mehr er trank, desto schneller fuhr er.
Es ist nicht mehr weit, redete Grace sich ein. Und es stand ihr auch nicht zu, sich zu beschweren, denn eigentlich sollte sie auf dieser Reise eher unsichtbar sein. Sie war nur hier, weil ihre beste Freundin, Melly Pettifer, sie angefleht hatte, mitzukommen.
Zu dem Zeitpunkt musste sie selbst nicht ganz bei Trost gewesen sein.
Allerdings hatte sie Melly noch nie so verzweifelt und so zutiefst unglücklich erlebt. Dabei hatte sich ihre Neuigkeit im ersten Moment für Grace geradezu fantastisch angehört.
„Ich brauche nun doch nicht Gouvernante zu werden. Papa hat eine Ehe für mich arrangiert!“ Aber als Grace ihr hatte gratulieren wollen, war Melly plötzlich in bittere Tränen ausgebrochen - vor Kummer, nicht vor Glück.
Die Kutsche schleuderte gefährlich schwankend um eine Kurve, und Grace hielt sich erneut fest. Melly klammerte sich an den Fensterrahmen. Die arme Melly, sie war ganz grün im Gesicht. Während dieser Reise hatte sie sich schon dreimal übergeben. Sie hatte ohnehin nicht damit gerechnet, dass sie diese Fahrt genießen würde, aber das hier übertraf wohl ihre schlimmsten Erwartungen.
Mellys Reise als Braut, unterwegs zur Hochzeit mit einem Mann, dem sie noch nie begegnet war. Grace vermochte nicht sich vorzustellen, wie sich das anfühlen musste. Sie konnte es kaum glauben, genauso wenig wie Melly. Wie sich herausgestellt hatte, war Melly im Alter von neun Jahren Dominic Wolfe versprochen worden, dem jetzigen Lord D Acre of Wolfestone Castle. Und niemand hatte ihr bislang davon erzählt.
Offenbar war Dominic Wolfe nach zehn Jahren jetzt wieder nach England zurückgekehrt. Er war nicht einmal zur Beerdigung seines Vaters erschienen. Doch nun hatte Sir John erfahren, dass er wieder da war, und ihn sofort wegen der Verlobung kontaktiert.
Alles war rechtmäßig und verbindlich. Laut Sir John hatte Melly in dieser Angelegenheit keine andere Wahl. Er und der alte Lord DAcre hatten diese Verbindung schon vor Jahren arrangiert. Verträge waren unterzeichnet worden und eine große Summe Geld hatte den Besitzer gewechselt - Geld, das Sir John schon vor langer Zeit ausgegeben hatte und das er nie wieder würde zurückzahlen können.
Kein Wunder, dass Sir John sich als so geizig erwiesen hatte, als es um Mellys Debüt gegangen war. Die Geldsorgen der Pettifers waren allseits bekannt. Warum sollte er sich in Unkosten stürzen, um Melly auf den Heiratsmarkt zu bringen, wo alles doch schon mit Brief und Siegel beschlossene Sache war und die Braut zur Übergabe an ihren Ehemann bereitstand?
Sir Johns Sorge war nur gewesen, dass es zunächst den Anschein hatte, der neue Lord Wolfe würde niemals nach England zurückkehren. Oder dass er bereits im Ausland geheiratet hatte. Aber dann war er doch als Junggeselle wieder in England eingetroffen, und so sollte die Hochzeit stattfinden.
Die Neuigkeiten hatten Melly zutiefst schockiert, aber allmählich hatte sie sich damit abgefunden. Schließlich hatte sie sonst keine anderen Verehrer - die hatte man nun einmal nicht, wenn man arm, unauffällig, etwas mollig und äußerst schüchtern war. Und wenigstens war der neue Lord D’Acre noch jung.
Was für ein seltsames Nachhausekommen das gewesen sein muss, dachte Grace. Er war zurückgekehrt, um sein Erbe anzutreten - und hatte dabei feststellen müssen, dass dazu auch eine Braut gehörte. Er war erst sechzehn gewesen, als die Verträge unterzeichnet worden waren.
Genau das war das Problem - Dominic Wolfe wollte gar keine Braut. Melly war sich nicht sicher, was da vonstatten gegangen war. Ihr Vater und der Familienanwalt waren nach Bristol gefahren, wo der junge Wölfe sich zurzeit aufhielt, weil er sich für den Seehandel interessierte.
Sir John war jedoch fest entschlossen, dass Melly nicht ihrer Rechte beraubt wurde. Der Vertrag war rechtskräftig. Lord D’Acre konnte den Besitz Wolfestone nur dann erben, wenn er Melly heiratete. So stand es im Testament seines Vaters - er sollte erst erben, nachdem er Melly zur Frau genommen hatte. Sollte diese inzwischen verstorben oder aus anderen Gründen nicht in der Lage sein, die Ehe einzugehen, konnte er nur erben, wenn er eine andere Person heiratete, die Sir Johns Zustimmung fand.
Lord D Acres Rechtsanwälte hatten das Testament auf Gesetzeslücken hin untersucht - aber vergeblich, es schien wasserdicht zu sein. Und so hatte Dominic Wolfe schließlich eingewilligt, Melly zu heiraten. Doch dann, vor zwei Tagen, hatte er Sir John brieflich und in aller Kälte mitgeteilt, dass es nur eine Scheinehe sein würde. Gleich nach der Trauung würden er und seine Braut getrennte Wege gehen. Er besaß eine eigene Schiffsflotte und hatte nicht vor, in England zu bleiben.
Melly war todunglücklich. „Das heißt, ich werde ein Haus in London und sehr viel Geld haben, aber niemals Kinder, Grace! Und du weißt, wie sehr ich mir immer Kinder gewünscht habe. Ich liebe Kinder! “ Dabei war sie in Tränen ausgebrochen.
„Dein Vater liebt dich, er wird dich nicht zwingen, einen solchen Mann zu heiraten“, hatte Grace sie getröstet. „Weigere dich einfach, dich darauf einzulassen. “
„Doch, das wird er! Er wird mich zwingen. Mein Vater ist in dieser Angelegenheit unerbittlich, so habe ich ihn noch nie gesehen.“ Melly hatte ihre verweinten Augen mit einem zerknüllten Taschentuch abgetupft. „Hilf mir, Grace, ich flehe dich an!“
Und da sie Melly schon seit Schulzeiten immer beschützt hatte - auch weil geistige Umnachtung in ihrer Familie vorkam! -, hatte Grace ihr versprochen, alles zu tun, was in ihrer Macht stand.
Deshalb unternahm sie jetzt diese schreckliche Reise, grau gekleidet und mit hässlichen, „vernünftigen“ Lederstiefeletten an den Füßen, und spielte Mellys Gesellschaftsdame. Unfassbar. Unter anderen Umständen hätte sie sich zu diesem Zeitpunkt auf eine aufregende Reise nach Ägypten mit Mrs Cheever vorbereitet, einer reichen Witwe und Cousine von Mr Henry Salt, dem britischen Generalkonsul in Ägypten und Experten für ägyptische Altertümer. Wegen dieser traumhaften Beziehungen hatte Grace erwartet, eine wundervolle Zeit vor sich zu haben.
Doch das musste nun warten, Mellys Sorgen hatten Vorrang.
Durch die Kutsche ging ein Ruck, wodurch sie ins Schwanken geriet. Es gab einen dumpfen Aufprall, dann ertönte erschrockenes Gegacker und ein paar Federn segelten durch das offene Fenster. Dieser elende Kutscher war ungebremst in eine Schar Hühner gefahren, und dem Aufprall nach war dabei mindestens eins dieser armen Tiere zu Tode gekommen.
Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Grace streckte den Kopf weit zum Fenster hinaus und schrie den Postillion wütend an, gefälligst langsamer zu fahren. Er zeigte zum Himmel und brüllte etwas zurück. Sie konnte ihn nicht verstehen, aber die dicken schwarzen Wolken vor ihnen sprachen für sich. Er versuchte noch rechtzeitig Wolfestone Castle zu erreichen, ehe das Unwetter losbrach. Die Straße war so schon schlecht genug. Sobald es zu regnen anfing, würde sie sich in einen einzigen Morast verwandeln, in dem die Kutsche durchaus stecken bleiben konnte. Widerwillig zog Grace den Kopf wieder ein.
Sir John schüttelte den Kopf. „Greystoke, Greystoke, Greystoke. Es steht Ihnen nicht zu, sich einzumischen“, teilte er ihr matt mit. „Lady Augusta erwartet, dass wir Ihnen anständiges Verhalten beibringen, und ich sage Ihnen - keine Dame würde jemals den Kopf zum Kutschenfenster hinausstrecken.“ Er bedachte sie mit einem tadelnden Blick. „Erst recht würde sie niemals derart schreien.“
„Ja, Sir John. Verzeihung, Sir John“, zwang Grace sich kleinlaut zu antworten. Er sah sie streng an und nickte schließlich, als wäre er zufrieden, dass sie sich seine Worte zu Herzen genommen hatte. Danach schloss er wieder die Augen.
Es fiel ihr schwer, sich darauf zu besinnen, dass sie jetzt Greystoke war und die Rolle eines der Waisenmädchen ihrer Tante Gussie spielte, die zu Gesellschaftsdamen ausgebildet werden sollten.
Sir John hätte niemals Miss Grace Merridew von den Merridews aus Norfolk, den Liebling der feinen Londoner Gesellschaft, auf diese erbärmliche Reise mitgenommen. Doch als Mellys Zofe gekündigt hatte, weil sie eine besser bezahlte Stellung gefunden hatte, war für die beiden jungen Frauen der entscheidende Augenblick gekommen. Melly brauchte weibliche Gesellschaft auf dieser Reise, und weil Grace in der Rolle eines in der Ausbildung befindlichen Waisenmädchens auftrat, dessen Dienste noch unentgeltlich waren, hatte Sir John die Gelegenheit beim Schopf ergriffen.
Grace warf Sir John einen Blick zu. Er saß immer noch zurückgelehnt mit geschlossenen Augen da, sein Gesicht war bleich. Ein feiner Schweißfilm bedeckte seine Stirn, und er sah fast so krank aus wie seine Tochter. Gut so, dachte Grace zornig. Es sollte ihm ruhig schlecht gehen, nach allem, was er Melly angetan hatte.
Grace konnte es einfach nicht verstehen. Mellys Erzählungen nach war er ihr immer wie ein liebevoller, fürsorglicher Vater vorgekommen. Als Waise hatte Grace besonders gern zugehört, wenn andere von ihren Eltern erzählt hatten. Sie und Melly hatten stets geglaubt, dass Melly nur wegen Geldmangels nicht debütiert hatte. Jetzt allerdings begann sie daran zu zweifeln.
Was für ein Vater würde seiner einzigen Tochter so etwas antun?
Die arme Melly, die nie einen Verehrer gehabt hatte, war zu einer lieblosen, kinderlosen Ehe mit einem Mann verdammt, der sie gar nicht wollte - wenn Grace es nicht gelang, ihr zu helfen.
Sie dachte über die Ungerechtigkeit des Lebens nach, während sie sich am Haltegriff festhielt und in die draußen vorbeifliegende Landschaft starrte. Man konnte nicht behaupten, dass sie nie einen Verehrer gehabt hätte. Im Gegenteil: Viele hatten sich gewünscht, um ihre Hand anhalten zu dürfen. Die meisten wollten sie wegen ihrer Schönheit und ihres Vermögens, aber wohl nur wenige Männer um ihrer selbst willen. Das vermutete sie jedenfalls.
Das Problem war, dass sie keinen einzigen von ihnen gewollt hatte.
Sie hatte wirklich versucht, sich zu verlieben - ein paar der Männer, die um sie geworben hatten, waren tatsächlich nett gewesen. Aber immer hatte irgendetwas gefehlt, immer hatte sie irgendetwas zurückschrecken lassen. Und das war nicht nur das Fehlen einer gewissen ... Magie gewesen.
Ein Großteil des Problems war, dass ihr die Zuversicht fehlte. Grace konnte einfach nicht den unerschütterlichen Glauben an die große Liebe aufbringen. Ihre älteren Schwestern waren da anders. Prudence, Charity, Hope und Faith konnten sich noch alle an die große Liebe zwischen ihren Eltern erinnern. Auch wenn sie damals noch klein waren, so hatten sie sie dennoch gespürt, hatten ihre Wärme und ihre Intensität fühlen können. Sie hatten sie nie infrage gestellt. Grace’ Geschwister wussten, dass Liebe etwas Wirkliches, Greifbares und Allmächtiges war. Sie alle glaubten an Mamas Versprechen auf dem Sterbebett, dass jede ihrer Töchter eines Tages Liebe, Lachen, Sonnenschein und Glück finden würde. Nur Grace glaubte nicht daran.
Sie konnte sich nicht an ihre Eltern erinnern. Sie war in einem kalten, düsteren Herrenhaus in Norfolk aufgewachsen, nicht in einer sonnendurchfluteten italienischen Villa. Und im Gegensatz zu ihren Schwestern hatte sie keine Garantie, kein Liebesversprechen von ihrer toten Mama, um sich daran festhalten zu können.
Sie hatte miterlebt, wie sich jede ihrer Schwestern verliebt hatte. Ihr Glück war echt und anhaltend. Immer wieder versicherten sie ihr, dass auch ihr das eines Tages widerfahren würde.
Eines Tages wird dich ein Mann küssen, und dann weißt du es ...
Mamas Versprechen, riefen sie ihr immer wieder in Erinnerung. Mamas Versprechen.
Grace hatte es so sehr versucht, daran zu glauben, hatte sich so sehr bemüht, sich zu verlieben, aber ... sie konnte es einfach nicht.
Also hatte sie geflirtet und die Annäherungsversuche der jungen Männer mit Humor pariert, sorgsam darauf bedacht, dass sich niemand dadurch verletzt fühlte. Zudem sollte niemand ahnen, was in ihr vorging.
Die Worte ihres Großvaters quälten sie stets von Neuem, wenn sie sich traurig und niedergeschlagen fühlte, wenn sie es wieder einmal nicht geschafft hatte, mehr für einen wirklich netten Mann zu empfinden. Sie konnte keinen Mann heiraten, nicht einmal einen netten. Denn auch dessen Küsse ließen sie kalt.
Das spielt keine Rolle, sagte sie sich zum sicher tausendsten Mal. Viele Menschen konnten ohne Liebe leben. Sie war bestimmt imstande, sich ein gutes Leben aufzubauen. Mehr als gut - sie war fest entschlossen, dass es herrlich werden würde!
Es würde nicht mehr lange dauern und sie war unabhängig. Sie war fast einundzwanzig und somit im Begriff, demnächst allein über ihr privates Vermögen zu bestimmen. Sobald sie im Besitz dieses Vermögens war, konnte sie leben, wie und wo sie wollte. Sie konnte all die Abenteuer verwirklich, von denen sie ihr Leben lang geträumt hatte - nach Ägypten, Venedig und Konstantinopel reisen, die Weltwunder bestaunen, auf einem Kamel reiten und die Alpen in einer Ballongondel überqueren, so wie ihre Eltern das getan hatten. Und niemanden brauchte sie dazu um Erlaubnis zu bitten.
Wenn sie heiratete, gehörte ihr Körper ihrem Ehemann, genau wie ihr Vermögen. Die Kutsche holperte und schwankte. Die Küsse eines Mannes konnten das doch unmöglich wert sein ...
„Bring dein Haar in Ordnung, Mädchen! Du bist ganz zerzaust vom Wind.“
„Ja, Sir John.“ Grace hob die Hände, um glättend über ihr Haar zu streichen. Wieder erschrak sie, als sie die spröden und gefärbten Locken unter ihren Fingern spürte. Kein Mensch würde sie mehr als Grace Merridew erkennen.
Nach Grace’ Anweisungen hatte Consuela, Tante Gussies Zofe, ihr die Haare kürzer geschnitten und sie dunkelbraun gefärbt. Einer Eingebung folgend hatte Consuela mit Henna Sommersprossen auf Grace’ Gesicht, Händen und Dekolleté getupft. Selbst mit Wasser ließen sich diese falschen Sommersprossen nicht abwaschen.
Natürlich würden sie mit der Zeit verblassen, hatte Consuela der entsetzten Tante Gussie versichert. Grace würde sie ab und zu erneuern müssen, aber bis dahin würde der kurzsichtige Sir John niemals auf die Idee kommen, dass die braunhaarige, sommersprossige Greystoke in Wirklichkeit Miss Grace Merridew war, die für ihr rotgoldenes Haar und ihren makellosen Pfirsichteint berühmt war. Er war Grace nur wenige Male begegnet, seit die Mädchen das Pensionat verlassen hatten. In der richtigen Umgebung hätte er die Freundin seiner Tochter wahrscheinlich wiedererkannt, aber nicht unter diesen Umständen. Darauf hatte sie gesetzt, und sie hatte recht behalten.
Flüchtig trauerte sie ihren langen rotgoldenen Haaren nach. Mellys Babys, rief sie sich zum ungezählten Mal in Erinnerung.
Grace teilte Mellys Leidenschaft für Babys nicht. Sie mochte Kinder, aber erst, nachdem sie angefangen hatten zu laufen und zu sprechen und kleine Menschen geworden waren. Melly hingegen vergötterte Babys, selbst wenn sie volle Windeln hatten und schrien.
Mellys Träume waren ganz einfach. Sie wollte keinen Lord, kein vornehmes Londoner Stadthaus und auch kein großes Vermögen. Sie wünschte sich nur einen netten Mann, der sie liebte, heiratete und ihr Kinder schenkte. Grace glaubte, dass wohl jedes Mädchen von so etwas träumte.
Jedes Mädchen außer Grace.
Deshalb war sie auch so fest entschlossen, dass Melly ihre Träume nicht opfern sollte. Sich das Haar abzuschneiden, bedeutete gar nichts. Haare wuchsen wieder nach, die Träume der Menschen jedoch nicht. Träume zerbrachen und mit ihnen bisweilen auch die Menschen.
Lord D’Acre, Dominic Wolfe of Wolfestone Castle, konnte mit seinen Geldsäcken und seinen kaltherzigen Vorstellungen von einer Ehe zum Teufel gehen.
Grace würde ihre Freundin retten - wie der edle Ritter, der die Prinzessin vor dem Drachen rettet! Sie dachte kurz über den Begriff nach. Ritterin vielleicht?
Dominic Wolfe ritt die letzten Meilen ganz langsam, dabei senkte er den Kopf gegen den plötzlich aufkommenden Wind. Dunkle Wolken zogen bedrohlich am Himmel auf. Unwetter im Sommer waren immer heftig und laut, mit Donner und Blitz verbunden. Bevor es losgeht, bin ich in Wolfestone, dachte er.
Wie immer bei dem Gedanken an Wolfestone, presste er unwillkürlich die Zähne aufeinander. Diesen Ort hatte er eigentlich nie Wiedersehen wollen. Zur Hölle mit den Pettifers und ihrem plötzlichen Entschluss, herzukommen! Er hätte Sir John viel deutlicher klarmachen sollen, was ihre Abmachung beinhaltete. Wahrscheinlich glaubte die Tochter, sie würde ihr zukünftiges Zuhause in Augenschein nehmen. Ein harter Zug trat um seinen Mund.
Ein Blitz zuckte auf, und in der Feme grollte der Donner. Dominic sah hinunter auf die Hündin, die neben ihm trottete. Sie hatte die Ohren kläglich angelegt; Sheba hatte schreckliche Angst vor Donner. Er bückte sich, hob sie hoch und setzte sie vor sich in den Sattel. Pferd und Hund waren diese Art zu reiten gewohnt.
Es war eine lange Reise gewesen. Wäre ihm mehr Zeit geblieben, hätte er eine Kutsche benutzt. Er hatte versucht, die Pettifers von ihrer Reise abzuhalten, aber sein Bote war mit der Nachricht aus London zurückgekehrt, dass sie bereits aufgebrochen waren. Wenn er also noch vor ihnen eintreffen wollte, war ihm nichts anderes übrig geblieben, als von Bristol aus mit dem Pferd zu reiten.
Es war jetzt nicht mehr weit. Durch die Bäume entdeckte er eine Turmspitze. Ein seltsamer Schauer überlief ihn. Angst? Zorn? Eine düstere Vorahnung? Vielleicht sogar ein Funken Sehnsucht wie damals als Kind, in jenen längst vergangenen, unschuldigen Tagen, als er noch von Wolfestone geträumt hatte. Ein Funken, der sein Erwachsenwerden, sein Wissen überdauert hatte.
Er wandte den Blick ab und verspürte einen bitteren Geschmack im Mund. Wolfestone. Der Ort, für den seine Mutter verkauft worden war.
Und er selbst jetzt auch.
Zehn Minuten später stand er vor einem riesigen eisernen Tor, dessen einer Flügel etwas schief herabhing. Auf jedem der beiden steinernen Torpfosten erhob sich ein zähnefletschender Wolf. Zur Linken entdeckte er ein Pförtnerhaus, teils aus Stein, teils Fachwerk. Es wirkte verlassen. Das Tor stand offen. Um ihn willkommen zu heißen? Er bezweifelte es.
Wieder grollte der Donner, näher diesmal, und die Hündin zitterte. Dominic trieb Hex, sein Pferd, die Auffahrt hinauf. Zuflucht vor dem Sturm - das war alles, was Wolfestone jetzt noch für ihn bedeutete.
Der Anblick des Schlosses verschlug ihm den Atem. Das graue Steingebäude kauerte feindselig auf dem Hügel, darunter das Tal, durch das er geritten war. Das Schloss wirkte kalt, uralt und abweisend, ein Gebäude, das Schlachten und Kriege gewohnt war. Und Hass.
Das Heim seiner Vorfahren. Ehrfurcht einflößend und hässlich. Nicht wert, dafür sein Glück zu opfern.
Seine Mutter hatte fast nie darüber gesprochen. Allein die Erwähnung brachte jenen tragischen Ausdruck in ihre Augen, den er seit seiner Kindheit zu verbannen versucht hatte und der ihn immer noch verfolgte. „Wenn du jemals dort hinkommst, wirst du verstehen, warum ich nicht darüber sprechen kann“, hatte sie ihm einmal gesagt. Er sah das Schloss an - und verstand.
Er würde es zerstören.
Auf der Kieszufahrt zum Vordereingang wucherte Unkraut. Vor dem Haus erstreckte sich ein Streifen mit hohem, ungepflegtem Gras - früher einmal wohl ein Rasen. Dominic runzelte die Stirn.
Unter einer Gruppe Eichen nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung war: drei silbergraue Stuten, blass und fast ätherisch im fahlen Licht vor dem Unwetter. Es waren wundervolle Tiere mit anmutig geschwungenen Hälsen und großen dunklen Augen.
Araber. Wertvolle Geschöpfe. Warum liefen sie frei herum? Das Tor hatte offen gestanden, sie hätten fortlaufen können. Vielleicht waren sie aber auch hineingelaufen?
Eine der Stuten hielt sich etwas abseits von den anderen. Sie bewegte sich unruhig auf eine Art, die ihm etwas sagte. Ihr Bauch war prall und fast bis zum Bersten gewölbt.
Die Unmutsfalten auf seiner Stirn vertieften sich. Kein Pferd sollte so frei herumlaufen, schon gar nicht eine hochträchtige Stute. Erst recht nicht, wenn ein Unwetter bevorstand.
Er sah sich um, aber nirgends war eine Menschenseele zu sehen. Seltsam. Eigentlich hätte es hier von Bediensteten wimmeln müssen.
Wieder richtete er den Blick auf die immer dunkler werdenden Wolken und machte sich auf die Suche nach den Stallungen. Irgendein Narr hatte diese Stuten freigelassen und musste dafür zur Verantwortung gezogen werden. Die trächtige Stute gehörte in den Stall, nicht nach draußen.
Er ritt zum Vordereingang und riss ruckartig am Strang der bronzenen Türglocke. Sie ertönte laut im Inneren des Hauses, aber nichts regte sich. Den Büchern nach wurden die Gehälter ausgezahlt, wo steckten also die Bediensteten?
Zwar hatte er jetzt nicht die Zeit, darüber nachzugrübeln, aber er würde der Sache später auf den Grund gehen.
Hinter dem Haus fand er die riesigen Stallungen, doch auch sie waren verlassen. Die Hufe seines Pferdes klapperten unheimlich auf den staubigen Pflastersteinen. So wie es hier aussah, waren in diesen Ställen schon seit Monaten keine Menschen und Tiere mehr gewesen.
Zum Glück waren die Boxen einigermaßen sauber. Vor dem Gebäude lagen ein paar grau wirkende Heuballen, die, nachdem er sie mit einer Heugabel auseinandergebrochen hatte, von innen dufteten und goldgelb aussahen.
Er sattelte Hex rasch ab, rieb seinen Hengst notdürftig trocken und gab ihm und der Hündin etwas zu trinken. Anschließend bereitete er mehrere Boxen vor, auch eine für die trächtige Stute, in der sie ihr Fohlen zur Welt bringen konnte. Nachdem er alles Notwendige erledigt hatte, schloss er die Hündin ein. Sie winselte und kratzte an der Tür, doch er beachtete sie nicht.
Seine Pechsträhne in letzter Zeit verfluchend, machte er sich an die Aufgabe, die trächtige Stute einzufangen, ehe das Unwetter einsetzte.
Grace klammerte sich immer noch verzweifelt an den Haltegriff. Ihr gegenüber befand sich Melly, und sie stemmte die Füße gegen den Sitz ihrer Freundin, um nicht von der Bank gerissen zu werden. Melly tat es ihr nach, auch sie suchte nach einer Möglichkeit, nicht auf den Boden der Kutsche geworfen zu werden. Nach einer kurzen Verschnaufpause wurden sie erneut kräftig durchgeschüttelt, und sie flogen von einer Seite des Gefährts auf die andere. Die Geschwindigkeit war wirklich aberwitzig.
Sie mussten jetzt bald in Wolfestone sein, ganz sicher.
Ein Blitz zuckte, kurz darauf war ein Donnergrollen zu hören. Die Kutsche geriet ein weiteres Mal ins Schlingern, wurde unwesentlich langsamer und machte auf einmal eine scharfe Kehre nach links. Dabei wäre sie beinahe umgekippt. Verhindert wurde das nur durch ein großes Etwas, an dem sie geräuschvoll vorbeischrammte und das dafür sorgte, dass sie nicht völlig aus dem Gleichgewicht geriet. Flüchtig konnte Grace hohe steinerne Torpfosten erkennen, auf denen irgendein Geschöpf kauerte. Ein Hund? Nein, ein Wolf.
Wolfestone. Endlich. Gott sei Dank. Vielleicht kommen wir ja sogar lebend an, dachte sie ironisch.
Grace spähte aus dem Fenster, während sie die gekieste Auffahrt hinauffuhren, und versuchte, einen Blick auf Wolfestone zu erhaschen. Als es ihr gelang, verschlug es ihr die Sprache. Vor dem Hintergrund der Berge und der Unheil verkündenden Wolken wirkte das Gebäude düster, grau, aber auch faszinierend. Es musste uralt sein, halb Herrenhaus, halb Schloss, und im Laufe der Generationen hatte man es immer weiter ausgebaut, auch einige Trakte hinzugefügt. Eine hässliche Mi-schung verschiedener Baustile, so hatte Sir John das Anwesen den Mädchen beschrieben, als sie die Reise angetreten hatten. Grace jedoch fand es beeindruckend - voller Ecken und Kanten, mit Türmchen, Zinnen, spitzen Dächern, Schießscharten und einer ganzen Reihe herrlicher gotischer Fenster. Sie hoffte, dass es dort auch die typischen gotischen Wasserspeier mit Fratzengesichtern gab. Zu einem solchen Gebäude gehörten sie einfach dazu.
An einem sonnigen Tag mussten die Zimmer an der Vorderseite des Schlosses voller Licht sein, denn Dutzende von Stabkreuzfenstern zeigten nach Süden. Während Grace sie noch betrachtete, teilten sich die schwarzen Wolken plötzlich und ein einzelner Sonnenstrahl fiel auf die Scheiben und tauchte sie einen Moment lang in leuchtendes Gold.
„Wie wunderschön“, rief sie aus, doch ihre Worte gingen unter, als ein Blitz fast unmittelbar vor der Kutsche in den Boden einschlug. Die Pferde wieherten schrill und bäumten sich auf, ein ohrenbetäubender Donner war zu hören. Die Kutsche neigte sich bedenklich und kippte krachend auf die Seite. Holz splitterte, die Passagiere flogen hilflos durcheinander.
Dann wurde alles still, bis auf das Heulen des Sturms.