2. Kapitel


Der erste Eindruck täuscht.

Ovid

Grace bewegte sich als Erste, wenn auch nur ganz langsam. Sie fühlte sich wie zerschlagen. Ihr Arm und ihr Kopf schmerzten, doch als sie allmählich wieder klarer denken konnte, wurde ihr bewusst, dass sie noch ganz war. Zwar fühlte sie sich durcheinander und nahm an, am ganzen Körper zerschrammt zu sein, aber sonst schien sie weitgehend unverletzt zu sein.

Sie wandte sich ihrer Freundin zu. „Melly, ist alles in Ordnung?“

Melly stöhnte leise, und Grace betrachtete sie prüfend. Ihre Freundin ächzte erneut, danach schlug sie die Augen auf. „Was ist passiert?“

„Die Kutsche ist umgekippt. Tut dir etwas weh? Kannst du dich bewegen?“

Melly versuchte es vorsichtig. „Ich denke schon. Es schmerzt an einigen Stellen, aber ich glaube, sonst ist mir nichts Schlimmeres geschehen.“ Sie streckte sich. „Au! Ich muss überall blaue Flecken haben! Aber was ist mit Papa?“

Sir John war bei Bewusstsein, aber er sah alles andere als gut aus. Seine Augenlider flatterten. „Holt mich hier heraus“, stammelte er matt. Sein Atem ging keuchend und angestrengt.

„Bleib bei ihm, Melly. Ich hole Hilfe.“

„Aber was ist, wenn ...“

Doch Grace kletterte bereits aus dem Fenster, da sich die Tür nicht öffnen ließ. Wieder zuckte ein Blitz, dann öffneten sich alle Schleusen des Himmels und es fing an, in Strömen zu regnen.

Die Pferde bewegten sich unruhig, sie zitterten vor Erschöpfung und Furcht. Noch ein Blitz. Sie scheuten ängstlich, Grace konnte das Weiß ihrer Augen sehen. Eins der Tiere hatte sich im Geschirr verfangen. Wenn die Pferde erneut erschraken, zogen sie womöglich auf der Flucht die umgekippte Kutsche hinter sich her.

Sie schirmte ihr Gesicht mit der Hand vor dem prasselnden Regen ab und sah sich um. Bestimmt hatte jemand den Krach gehört und kam ihnen gleich zu Hilfe. Auf dem Kies entdeckte sie eine reglose, dunkle Gestalt. Der Postillion. Sie eilte zu ihm und beugte sich zögernd über ihn. „Sind Sie in Ordnung?“

Er bewegte sich stöhnend und stieß einen trunkenen Fluch aus, ehe er sich aufsetzte und sie ansah. „Was ’s passiert?“, lallte er. Er lächelte seltsam, dann fluchte er erneut und übergab sich, wobei er nur um Haaresbreite ihre Stiefel verfehlte.

„Stehen Sie auf, Sie elender Trunken!“, schnauzte Grace ihn an. „Sie haben die Kutsche zu Bruch gefahren, und die Pferde haben sich hoffnungslos im Geschirr verfangen! Sie können die Kutsche jeden Moment mit sich fortzerren!“

„Zu Bruch?“, wiederholte er begriffsstutzig.

„Ja! Also stehen Sie auf und helfen mir, Sir John und Melly aus der Kutsche zu ziehen!“

Der Mann rappelte sich mühsam auf, warf einen entsetzten Blick auf die umgekippte Kutsche und rannte fluchend davon.

Grace schrie ihm nach, er solle sofort zurückkommen, aber er lief einfach weiter. Sie wusste warum. Wegen dieser Fahrlässigkeit konnte man ihn einsperren, vielleicht sogar deportieren.

Die Pferde scheuten erneut und verfingen sich immer hoffnungsloser im Geschirr. Da half jetzt nur eins. Grace bückte sich und zog ein Messer aus ihrer robusten Stiefelette. Alle Merridew-Mädchen reisten stets bewaffnet, doch sie hatte keine Zeit mehr gehabt, sich die Pistole ihrer Schwestern auszuleihen.

Sie verbarg das Messer im Ärmel und näherte sich den Pferden langsam und ruhig. Währenddessen sprach sie leise und beschwichtigend auf sie ein. Die Tiere warfen nervös die Köpfe zurück, ließen es aber zu, dass Grace nach ihren Halftern griff und die Riemen des Geschirrs durchtrennte, um sie zu befreien. Sofort galoppierten sie auf eine Baumgruppe zu.

Jetzt hieß es, endlich Hilfe holen. Sie senkte den Kopf gegen den strömenden Regen und rannte auf das große graue Gebäude zu. Nirgends brannte ein Licht. Es war immer noch Nachmittag, doch durch das Unwetter war es dunkel geworden, und so wirkte das Schloss nicht im Geringsten einladend - und damit auch nicht gerade vielversprechend, wenn sie daran dachte, hier Unterstützung zu finden.

Sie eilte dennoch die Stufen zum Haupteingang hinauf. Grace fand einen Türklopfer, bestehend aus einem Wolfskopf, und einen Glockenstrang aus Bronze. Sie betätigte beides, anschließend presste sie ihr Ohr an die Tür. Sie hörte die Glocke im Haus läuten. Sie wartete. Versuchte es noch einmal. Doch niemand öffnete die Tür.

Es sah so aus, als wäre keine Menschenseele da. Aber wie konnte das sein? Das war schließlich Mellys Brautbesuch.

Grace hatte keine Zeit, sich darüber zu wundern. Sie lief um das Gebäude herum und entdeckte ein paar fast identisch aussehende Hintereingänge. Sie klopfte an jede einzelne Tür, aber ohne Erfolg. Sie waren alle abgeschlossen.

Hatte der betrunkene Postillion sie überhaupt zum richtigen Haus gebracht? Dieser Ort hier war gottverlassen.

An einer Seite des kopfsteingepflasterten Innenhofs konnte sie einen verwahrlosten Küchengarten ausmachen, auf der anderen ein großes Steingebäude mit einem Rundbogentor. Stallungen! Schwer atmend eilte sie weiter.

Als sie diese erreicht hatte, blieb sie stehen, um ihre Augen an das dämmerige Licht zu gewöhnen. Das Gebäude war riesig und mit einem hohen Deckengewölbe. Der Regen prasselte auf das Dach. Am Tor war frisches Heu gestapelt, Sattel- und Zaumzeug hingen ordentlich an Haken. Alles war mit einer Staubschicht bedeckt, bis auf einen fremdartig aussehenden Sattel und ein gut gepflegtes, blinkendes Zaumzeug.

Von dem langen geraden Mittelgang gingen mehrere Boxen ab. Die meisten waren verschlossen, vier davon nur zur Hälfte, der obere Teil stand offen. Ein weißes Pferd mit großen, dunklen und klugen Augen streckte den Kopf aus einer der Boxen. Gott sei Dank. Sie konnte nun zu Pferd Hilfe holen.

Einen Augenblick lang flaute der Wind etwas ab, sodass Grace ein Wiehern und die tiefe, ruhige Stimme eines Mannes hören konnte. Sie eilte darauf zu, und vor einer der oben offen stehenden Boxentüren vernahm sie die Stimme erneut. Sie klang zu gedämpft, um einzelne Worte heraushören zu können, doch Grace hatte das Gefühl, dass es kein Englisch war.

„Hilfe! “, rief Grace laut. „Helfen Sie mir bitte! Es hat einen Unfall gegeben, und ich brauche Hilfe!“

Ein Mann streckte den Kopf heraus. „Wo zum Teufel kommen Sie denn her?“ Er sprach mit einem Akzent, den sie nicht einordnen konnte.

Bei seinem Anblick geriet ihr Herzschlag ins Stocken. Nein, nicht deswegen, sagte sie sich hastig. Das kam nur vom schnellen Laufen. Der Mann sah unmöglich aus. Er war groß, hatte ein schmutziges, unrasiertes Gesicht und dickes, zerzaustes schwarzes Haar, das dringend geschnitten werden musste. Seine Gesichtszüge wirkten streng, kantig und irgendwie ... hungrig.

Er erwiderte ihren Blick mit seltsam kalten Augen. „Ich nehme an, Sie sind wegen der Stuten hier.“ Er musterte sie beinahe dreist, besonders dort, wo sich ihre nasse Kleidung an ihren Körper schmiegte. Dabei leuchteten die merkwürdigen goldbraunen Augen auf.

Grace kümmerte sich nicht darum. „Ich weiß nichts von irgendwelchen Stuten. Ich brauche Hilfe. Es hat einen Unfall gegeben.“

Er hob ruckartig den Kopf. „Was für einen Unfall?“ „Unsere Kutsche ist umgekippt. Unten, auf der Auffahrt.“ Er brummte etwas vor sich hin, aber nicht auf Englisch. „Ist jemand verletzt?“

„Nein, nicht ernsthaft. Aber die Passagiere sitzen in der Kutsche fest, und der Postillion ist weggelaufen. Er war betrunken. Sie müssen kommen, bitte!“

Er schien nachzudenken. „Also keine Toten? Und niemand blutet?“

„Nein“, erwiderte sie ungeduldig. „Aber die Tür klemmt, und niemand kann sich befreien. Sie müssen sofort etwas tun! “

„Sind die Pferde verletzt?“ Er trat aus der Box.

Er könnte Zigeuner sein, dachte sie. Dunkel genug sah er ja aus. Er hatte keinen Mantel an und trug hohe, lehmbespritzte Stiefel und eine fleckige Reithose aus Hirschleder. Sein Hemd war ebenfalls schmutzig, und die hochgekrempelten Ärmel entblößten sehnige braune Unterarme. Dieser Mann sah stark und zupackend aus, und das war alles, was im Moment zählte.

„Nein, es geht ihnen gut. Bitte, beeilen Sie sich!“

„Und Ihr Name war noch mal ...?“ Er schloss die Boxentür betont umsichtig.

Sie hätte am liebsten geweint vor Ungeduld, stattdessen stampfte sie mit dem Fuß auf. „Mein Name ist Greystoke, aber das geht Sie gar nichts an!“

„Nun, das würde ich so nicht sagen. Jetzt beruhigen Sie sich, Greystoke. Niemand ist verletzt. Ich komme mit. Alles wird gut. “ Seine Stimme klang tief, ruhig und zuversichtlich.

Sie versuchte, ihn weiter von der Dringlichkeit der Sache zu überzeugen. „Miss Pettifer - dort, in der Kutsche sie zeigte in Richtung Auffahrt, „ist Lord D Acres Verlobte und damit Ihre zukünftige Herrin. Also informieren Sie bitte Ihren Herrn, und zwar sofort! “

„Kein Mann ist mein Herr“, gab er mit aufreizender Ruhe zurück. Er sah Grace durchdringend an, in seinen Augen funkelte es. Schien er sich über sie lustig zu machen? War dieser Mann so boshaft? „Aber gegen eine Herrin hätte ich nichts einzuwenden. Werden Sie auch bald meine Gebieterin, Greystoke?“ Er zog seine Reithose hoch. „Ich könnte gut eine gebrauchen. Es ist schon eine Weile her.“

Grace war schockiert, aber sie hatte nicht vor, sich auf einen verbalen Schlagabtausch mit diesem goldäugigen ungehobelten Teufel einzulassen. „Sie haben keinerlei Manieren! Dringend müsste Ihnen einmal gründlich der Kopf gewaschen werden, und nicht nur der! Jetzt beeilen Sie sich doch!“

Er lächelte feinsinnig, eigentlich eher äußerst durchtrieben, während er sich in Bewegung setzte. Na endlich! dachte sie. Doch dann kam er geradewegs auf sie zu und stand plötzlich ganz nah vor ihr. Zu nah, und ehe sie noch reagieren konnte, umrahmte er ihr Gesicht mit den Händen. Sie konnte nur noch seine Augen sehen. Ihre Farbe war seltsam, wie heller, goldener Bernstein mit einem schmalen dunklen Ring um die Iris. Sie funkelten unter geschwungenen schwarzen Augenbrauen.

Grace saß in der Falle. Sie fühlte sich wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange und war zu schockiert, um sich bewegen zu können.

Der Blick, den er über ihr Gesicht schweifen ließ, war wie eine Liebkosung. „Sind diese Sommersprossen echt?“, fragte er sanft. Seine Stimme vibrierte durch ihren ganzen Körper. Zu Grace’ Überraschung roch er gar nicht schmutzig, nur ein klein wenig nach Pferd, was nicht weiter überraschend war. Und er roch sehr männlich.

Sie versuchte, ihn wegzustoßen. „Hören Sie sofort auf damit! Es hat einen Kutschenunfall gegeben!“, erinnerte sie ihn mit der strengsten Stimme, die sie aufbringen konnte.

„Aber es ist niemand verletzt worden“, erwiderte er und küsste sie. Es war nur ein schneller und auch ein ziemlich fester Kuss, aber er ging Grace durch Mark und Bein.

Schließlich ließ er sie los und sah sie mit ausdrucksloser Miene an. „Das hätte ich jetzt nicht erwartet“, murmelte er. „Oder war das vielleicht nur ein Zufall?“

Grace versuchte zurückzuweichen, geriet dabei aber ins Taumeln. Irgendetwas stimmte mit ihren Beinen nicht. Sie hielt sich an seinen Armen fest, um das Gleichgewicht wiederzufinden. Er fühlte sich hart, warm und sehr stark an.

Donner grollte.

Das brachte sie zurück in die Wirklichkeit. Sie nahm sich zusammen, trat einen Schritt zurück und wischte sich über den Mund, wobei sie ihn aufgebracht anstarrte. Erst jetzt merkte sie, dass ihre Hand noch immer auf seinem Arm lag, und sie nutzte die Gelegenheit, um ihn zum Stalltor zu ziehen. „Eine Kutsche ist umgekippt, es gab einen Unfall.“

„Ja, das sagten Sie bereits. Niemand ist ernsthaft verwundet worden, und alle befinden sich noch in der Kutsche, geschützt vor dem Regen. Bevor ich Ihnen folge, muss ich aber erst noch etwas überprüfen.“ Wieder küsste er sie rasch, und wie beim ersten Mal verdrängte dieser Kuss jeden zusammenhängenden Gedanken aus ihrem Kopf. Ihr war schwindelig, als er sie freigab.

„Aha“, meinte er nachdenklich. „Also doch kein Zufall. Wer hätte das gedacht?“ Er lächelte zufrieden.

Sie trat ihm fest gegen das Schienbein.

Sein Lächeln vertiefte sich. „Au“, meinte er leichthin, fast im Plauderton.

Sie trat noch härter zu.

„Es hätte vielleicht mehr Wirkung, wenn ich nicht diese hohen Stiefel tragen würde“, bemerkte er in beinahe entschuldigendem Tonfall.

Sie versetzte ihm einen Hieb auf den Arm. „Hören Sie, Sie unmöglicher Mensch! Es hat einen Kutschenunfall gegeben und ... “

Er zuckte in gespieltem Erschrecken zusammen. „Einen Kutschenunfall? Aber warum haben Sie das denn nicht gleich gesagt?“ Ehe Grace sich versah, packte er ihre Hand und fing an zu rennen. Sie flog förmlich hinter ihm her und rang nach Luft, zwei Schritte machend, wo er nur einen brauchte. „Und wenn das alles erledigt ist, verabreichen Sie mir dann die gründliche Wäsche, die Sie mir vorhin versprochen haben?“, fragte er im Laufen. Der Blick, den er ihr dabei zuwarf, brachte sie vorübergehend vollkommen durcheinander.

„Nein!“, protestierte sie atemlos. Während sie weiter die Auffahrt hinuntereilte, schienen ihre Füße den Boden kaum zu berühren.

„Nein? Nun denn.“ Ein bedächtiges Grinsen erhellte seine dunklen Züge. „Lassen Sie mich wissen, wann es Ihnen recht ist. Übrigens“, fügte er nach einer Weile hinzu, „ich sehe, dass Ihre Sommersprossen dem Regen standhalten, also müssen sie wohl echt sein.“ Er verringerte seine Geschwindigkeit nicht, er war noch nicht einmal außer Atem.

Grace war völlig entgeistert. „Ja ... natürlich ... sind ... sie ... echt“, log sie nach Luft schnappend. Schließlich waren sie ein wesentlicher Bestandteil ihrer Verkleidung.

„Faszinierend. Solche Sommersprossen habe ich noch nie zuvor gesehen - sie sind alle von genau der gleichen Form und Farbe. Ich freue mich schon darauf herauszufinden, ob Sie sie überall am Körper haben oder nur an ... bestimmten Stellen. “

Er war abscheulich und hatte keinerlei Anstand. Wie konnte er es wagen, sich über ihre Sommersprossen auszulassen -ob nun echt oder nicht -, während sie sich in einer solchen Notsituation befanden!

Sie war jedoch so atemlos, dass sie ihn nur wütend ansehen und weiterlaufen konnte. Noch vor wenigen Minuten war sie vollkommen durchnässt, verängstigt und erschöpft gewesen. Ihr ganzer Körper schmerzte von dem Unfall.

Doch jetzt war sie wütend!

Und fühlte sich dabei lebendiger als je zuvor.

Das lag nur an dem Schock durch den Unfall.

Sie rannten weiter in halsbrecherischem Tempo, trotzdem hatte Grace keine Angst zu stürzen. Er war sehr stark und hielt sie mit seiner großen, warmen Hand ganz fest. Trotzdem hörte er nicht auf, sie immer wieder anzusehen. Auf ziemlich unverschämte Weise.

Was sie so restlos wütend machte war die Tatsache, dass es diesem Teufel gelang, sie trotz der großen Sorge um ihre Freundin und deren Vater immer wieder abzulenken.

Als die Kutsche in Sicht kam, verlangsamte er überrascht seine Schritte. „Wo sind die Pferde?“

„Ich habe die Geschirrleinen durchtrennt, weil ich befürchtete, dass sie die Kutsche mit sich zerren könnten. “

Er warf ihr einen eindringlichen Blick zu. „Gut mitgedacht. Was haben Sie dazu benutzt?“

„Ein Messer natürlich.“

Er runzelte die Stirn, aber da sie die Unfallstelle erreicht hatten, stellte er keine weiteren Fragen.

Melly steckte den Kopf zum Fenster heraus. „Gott sei Dank, dass ihr da seid“, keuchte sie. „Papa geht es sehr schlecht.“ Sie konnten durch das Fenster Sir John sehen, der in sich zusammengesackt schien. Seine Gesichtsfarbe war gelblich und fahl. Mühsam schlug er die Augen auf und richtete den Blick geradewegs auf Grace’ Zigeuner. „D’Acre“, stieß er hervor.

„Sir John“, erwiderte der Zigeuner.

„D’Acre?“, rief Grace aus. „Sie sind Lord D’Acre?“

„Wer sonst?“ Er zwinkerte ihr zu und zuckte auf der Stelle theatralisch zusammen, als sie ihm auf den Arm schlug. „Au! Wofür war das denn?“

„Das wissen Sie ganz genau.“ Lord D’Acre! Dieser ganze Unsinn über Gebieterinnen! Und dann besaß er auch noch die Dreistigkeit sie zu küssen, obwohl er wusste, dass seine Verlobte - seine Verlobte! - in der Kutsche festsaß! Dieser Schurke!

Er grinste flüchtig und bestätigte damit, dass er es in der Tat wusste. Dann steckte er den Kopf durch das Kutschenfenster und sagte mit kühler, ruhiger Stimme: „Miss Pettifer, ich komme jetzt durch dieses Fenster. Rücken Sie ein Stück nach hinten.“

Zu Grace’ Erstaunen schwang er sich mit den Füßen zuerst durch das Fenster. Er hatte ein wenig Mühe, seine wirklich sehr breiten Schultern durch die Öffnung hindurchzuzwängen, trotzdem staunte Grace über seine Geschmeidigkeit.

Nach kurzer Zeit tauchte sein Kopf wieder im Fenster auf. „Sir John scheint nicht verletzt zu sein“, teilte er Grace mit. „Aber seine Gesichtsfarbe gefällt mir ganz und gar nicht. Gehen Sie zur Seite, ich trete jetzt die Seitenwand der Kutsche ein.“

Ein dumpfer Schlag ertönte, dann noch einer. Holz splitterte, und nach weiteren kraftvollen Tritten tat sich ein Loch in der Seitenwand auf, bis diese schließlich ganz herausbrach.

„Hinaus mit Ihnen.“ Er schob von innen, während Grace von draußen zog, und so gelang es Melly, aus der Kutsche zu klettern.

„So, Blauauge, und Sie kommen jetzt herein. Ich brauche Ihre Hilfe, um den alten Mann herausholen zu können.“

Blauauge? Das soll wohl ich sein, vermutete Grace. Sie kletterte in die Kutsche.

„Sie halten seine Beine, und ich ziehe ihn von draußen heraus.“ Er sprang ins Freie, und zusammen bugsierten sie Sir John durch das Loch. Lord D’Acre hob ihn auf die Arme wie ein Kind und trug ihn zum Schloss.

Grace nahm Mellys Hand, und sie liefen ihm nach. Der Regen wurde immer stärker; er beeinträchtigte die Sicht und ließ die Pflastersteine schlüpfrig werden. „Hier macht niemand auf“, sagte sie, als sie alle vor dem Haupteingang standen. „Wie sollen wir hineingelangen?“

„Der Schlüssel ist in meiner Tasche“, erklärte er. „In der rechten.“

Er trug keinen Mantel, daher fasste Grace in die Tasche seiner Reithose. Sie war schon vorher ziemlich eng gewesen, jetzt war das Hirschleder nass und klebte an ihm wie eine zweite Haut. Etwas widerstrebend schob Grace die Hand hinein, noch nie hatte sie einen Mann so intim berührt.

Seine Hosentasche war nicht leer, und so musste Grace erst nach dem Schlüssel tasten, an einem Taschentuch vorbei, ein paar Geldmünzen und anderem Krimskrams. Zwar war größte Eile geboten, dennoch war Grace sich auf prickelnde Weise seiner straffen, warmen Haut unter dem Hirschleder und seines männlichen Duftes bewusst. Es war alles andere als unangenehm.

Wieder dachte sie an die beiden flüchtigen, schockierenden Küsse. Ihre Wangen begannen trotz des kalten Regens zu glühen.

Schließlich fand sie den Schlüssel, einen großen, altmodischen aus Messing, und schob ihn ins Schloss. Es war eingerostet, und sie brauchte ziemlich viel Kraft, um den Schlüssel umzudrehen. Aber nach einer Weile gab das Schloss mit einem Klicken nach, und sie taumelten in die weitläufige Eingangshalle von Wolfestone Castle. Sie war düster, kalt und staubig, aber wenigstens waren sie im Trockenen.

Einen Moment lang blieben sie stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Und als sie sich umsah, entdeckte Grace den Wasserspeier, auf den sie so gehofft hatte. Er thronte hoch oben über der Halle, nicht aus Stein, sondern aus Holz geschnitzt, und hatte ein starkes, überraschend gütiges Gesicht mit weisen Augen. Er schien Grace geradewegs anzusehen. Der arme Kerl musste dringend abgestaubt werden.

„Wo sollen wir Papa hinbringen?“, fragte Melly.

Lord DAcre schnaubte. „Keine Ahnung. Suchen Sie ein Zimmer mit einem Sofa oder so etwas Ähnlichem.“

Grace warf ihm einen verwunderten Blick zu, aber jetzt war nicht die Zeit, Fragen zu stellen. Sie eilte los. Gleich die erste Tür, die sie öffnete, führte in einen Salon mit einer Chaiselongue, die mit einem Laken gegen den Staub abgedeckt war. Sie zog das Laken weg - und er legte Sir John auf die Liege.

Immer wieder wurde der Raum durch Blitze erhellt. Dominic runzelte die Stirn. Der alte Mann sah schrecklich aus. Seine Haut war gelblich-grau und mit einem dünnen Schweißfilm überzogen. Er hielt die Augen geschlossen, und sein Atem ging rasselnd. Verdammt, wenn der alte Mann jetzt starb, hatte er die Tochter am Hals!

Miss Pettifer sagte irgendetwas, aber ihre Worte gingen im Heulen des Sturms unter. Regen und Wind rüttelten an den Fenstern. Sie versuchte es noch einmal, packte ihre kleine Freundin an der Schulter und rief ihr etwas ins Ohr. Flüchtig erinnerte er sich an den Geschmack dieser kleinen Freundin, was ihn vorübergehend etwas ablenkte.

„Ich hole sie“, rief Blauauge zurück. „Wo ist sie?“

Seine Verlobte erwiderte etwas, die andere nickte, umarmte sie kurz und lief davon.

Dominic beugte sich wieder über die Chaiselongue und sah zu, wie Miss Pettifer Sir Johns Halsbinde lockerte. Trotz ihrer offensichtlichen Sorge um ihn, kümmerte sie sich mit ruhigen, geschickten Handgriffen um ihren Vater. Das beeindruckte ihn.

Der alte Mann sah aus, als befände er sich an der Schwelle des Todes. Dominic bückte sich und rief der Tochter ins Ohr: „Ich hole einen Arzt.“

Sie nickte. „So schnell wie möglich.“

Dominic lief in die Stallungen, wo er die Araberstute sattelte. Er hatte nur zwei der Tiere einfangen können, das dritte war im Regen verschwunden. Zum Glück konnte er jetzt auf dieses Pferd zurückgreifen, sein eigenes, Hex, war zu erschöpft nach dem langen Ritt.

Er sah nach der trächtigen Stute. Sie hatte immer noch nicht gefohlt. Wahrscheinlich passiert das mitten in der Nacht, dachte er, das war die übliche Zeit bei Pferden.

Nach kurzem Suchen fand er einen alten schwarzen Regenumhang, legte ihn sich um und stieg in den Sattel. Einen Augenblick zögerte er, weil er nicht wusste, in welche Richtung er reiten sollte. Ich frage im Dorf nach, dachte er und ritt hinaus in den Regen.

Die Stute war eine freundliche kleine Schönheit, das Unwetter schien ihr nicht das Geringste auszumachen. Dominic ritt die Ausfahrt hinunter und wollte ohne nachzudenken an der umgestürzten Kutsche vorbeireiten, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Er hielt an, wischte sich den Regen aus den Augen und sah zu seiner Bestürzung eine zierliche Gestalt, die versuchte, eine schwere Reisetasche durch den Schlamm zu ziehen. Greystoke.

Dazu hatte Miss Pettifer sie also losgeschickt. Sie war eine Art Bedienstete, aber das war von Anfang an offensichtlich gewesen. Niemand sonst würde sich freiwillig so eintönig kleiden.

Sie hatte die Schultern gegen den Wind und den prasselnden Regen hochgezogen. Die nasse Kleidung klebte an ihrem schlanken Körper. Dominics Zorn regte sich. Jemanden bei diesem Wetter loszuschicken, um das Gepäck zu holen!

Er schwang sich vom Pferd und packte das Mädchen bei den Schultern. „Um Gottes willen, lassen Sie das Gepäck hier, bis sich der Sturm gelegt hat! Ein bisschen Wasser schadet ihm nicht, und bei dem Wetter stiehlt es ohnehin niemand.“ Ihr Körper fühlte sich so klein, nass und kalt unter seinen Händen an. Wie konnte man ihr zumuten, ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen und bei dem Wetter etwas heranzutragen, was noch nicht einmal ihr gehörte!

Er versuchte, sie unter seinen Umhang zu ziehen und ins Gebäude zurückzubringen, doch zu seinem Erstaunen widersetzte sie sich. Sie bückte sich, um wieder an der schweren Ledertasche zu zerren.

„Es geht um Sir Johns Medizin“, rief sie gegen den Sturm an. „Sie ist in irgendeiner dieser Taschen und Kisten, ich weiß nur nicht genau in welcher. Und sie sind viel zu schwer, ich kann sie nicht tragen.“

Dominic drückte ihr die Zügel in die Hand. „Dann halten Sie das Pferd. Ich trage das Gepäck ins Haus, danach bin ich gleich wieder da.“

„Wollten Sie einen Arzt holen? Ist es weit bis dorthin?“

Er zuckte die Achseln. „Ich habe keine Ahnung. Ich werde im Dorf nachfragen.“

Sie sah aus wie eine gebadete Katze. Er nahm seinen Umhang ab, legte ihn ihr um und zog ihr die Kapuze über die nassen Haare. Ihr Gesicht wirkte ganz klein und spitz vor Kälte und Sorge. Beruhigend drückte er ihre Schultern. „Es geht nicht anders. Wahrscheinlich ist diese Medizin genau das, was er braucht.“ Er nahm mit jeder Hand eine Tasche. „Sie können die kleineren Stücke ins Haus bringen, wenn ich wiederkehre. Und sobald Sie drinnen sind, ziehen Sie diese nassen Sachen aus, haben Sie mich verstanden? Ich will nicht, dass Sie sich erkälten.“

Er trug die Taschen die Auffahrt hinauf, stellte sie in die Eingangshalle und machte sich eilig auf den Rückweg. Doch als er an der Kutsche ankam, war von Greystoke und der Stute nichts zu sehen. Wo zum Teufel steckte sie? Sie konnte doch unmöglich selbst losgeritten sein, um den Arzt zu holen?

Nein. Sie war eine Bedienstete, und Bedienstete ritten nicht. Wahrscheinlich hatte sie die Zügel losgelassen und die Stute war anschließend weggelaufen. Ohne Zweifel war die arme kleine Seele irgendwo da draußen im Sturm und versuchte, das verdammte Tier wieder einzufangen! Er fluchte. Glaubte sie etwa, er würde sie deportieren lassen, weil sie das Pferd verloren hatte?

Es war ja noch nicht einmal sein Pferd!

Vor sich hin schimpfend holte er das restliche Gepäck und stapfte danach zu den Stallungen. Er legte Hex einen der alten, staubigen Sättel auf, zog seinen weiten polnischen Langmantel an und ritt grimmig wieder hinaus in den Sturm.

Zuerst wollte er den Arzt suchen, dann das Mädchen.

Seine Pechsträhne hielt wahrlich an.

Dominic brauchte über eine Stunde, um das Haus des Arztes zu finden, und als er es endlich gefunden hatte, war seine Laune an einem Tiefpunkt angelangt. Dieses Dorf war voller Schwachköpfe! Jeder, den er gefragt hatte, hatte ihn in eine andere Richtung geschickt. Schließlich hatte er es durch reinen Zufall gefunden. Er war vor dem großen, sauber aussehenden Haus nur stehen geblieben, weil er hoffte, dass die Bewohner etwas intelligenter waren als die Einheimischen, die er zuvor befragt hatte, und ihm die richtige Auskunft geben würden.

„Wo der Doktor wohnt? Na, hier natürlich“, hatte die Frau an der Tür erklärt und Dominic angesehen, als wäre er der Dorftrottel.

Dominic fluchte halblaut vor sich hin. Das Haus lag ganz am Rande der Ortschaft, gar nicht weit weg von Wolfestone Castle. Warum hatte das keiner gewusst?

„Aber ich weiß nicht, wo er gerade ist“, hatte ihm die Arztfrau auf seine Schimpfkanonade hin schroff mitgeteilt. „Und ehe Sie das fragen - nein, ich weiß auch nicht, wann er zurückkommt. Es könnte sich um eine Geburt handeln oder so etwas, er hat es mir nicht gesagt. Er sagt mir nie etwas.“ Sie sah ihn verächtlich an, und nach einer kleinen Weile fügte sie hinzu: „Und schmutzige Zigeuner behandelt er ohnehin nicht.“ Damit hatte sie ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen.

Fluchend betätigte Dominic erneut den Türklopfer.

Die Arztfrau öffnete und überschüttete ihn mit einem üblen Wortschwall über aufdringliche Bettler und schmutzige Zigeuner.

Dominic setzte einen Fuß in den Türspalt und teilte ihr mit kalter Stimme mit, dass Lord DAcre die Dienste ihres Mannes so schnell wie möglich benötigte, da Sir John Pettifer einen Unfall erlitten hätte.

Bei der Nennung der Adelstitel traten der Frau fast die Augen aus dem Kopf. „Lord DAcre?“, hauchte sie in vollkommen verändertem Tonfall. „Ach, ich hatte ja keine Ahnung, dass er schon in Wolfestone ist. Und Sir John Pettifer geht es schlecht, sagen Sie? Wie schrecklich für den armen Mann! Ich sage dem Jungen, dass er meinen Mann suchen und sofort zum Schloss schicken soll. Sagen Sie Lord D’Acre, dass Mrs Ferguson sich um alles kümmert. Und bitte richten Sie Seiner Lordschaft aus, wenn ich irgendetwas für ihn tun kann ...“

„Ich bin Lord DAcre“, unterbrach Dominic sie sanft und zog seinen Fuß weg. „Aus dem Zigeunerzweig der Familie.“ Ehe die Frau ihren Mund wieder zuklappen konnte, schloss er die Tür vor ihrer Nase.

„Die Leute sagen, der Teufel reitet heute Nacht mit dem Sturm!“ Großvater Tasker ließ sich auf der Bank direkt neben dem Feuer nieder. Trotz des Regens füllte sich das Dorfgasthaus zusehends.

„Ja, ich hab ihn gesehen, aber nur durchs Fenster. Meine Frau hat mit ihm gesprochen.“

„Nie im Leben!“

„Doch. Augen wie Fenster zur Hölle, hat sie gesagt. Hat ihn nach Osten geschickt, Richtung Moor.“

Die Zuhörer lachten leise. „Wirklich? Ganz schön raffiniert, deine Frau.“

„Groß war er und ganz dunkel“, meldete sich ein anderer zu Wort. „Auf einem Pferd so schwarz wie die Sünde. Er sagte etwas, das klang, als wollte er uns verhexen.“ Sein Freund bestätigte das, und die Zuhörer erschauerten. „Wir haben ihn in südliche Richtung zur Kirche geschickt.“

„Ich hab ihn auch beobachtet“, meinte ein buckliger alter Mann. „Er hat nach dem Arzt gefragt. Beelzebub höchstpersönlich, aber mich konnte er nicht täuschen.“ Er schnaubte verächtlich. „Ich hab ihn nach Westen zum Weiher geschickt.“

Alle Männer lachten herzhaft darüber, wie das Dorf den Teufel hinters Licht geführt hatte.

Großvater Tasker beugte sich vor. „Wisst ihr, wer heute Nacht auch unterwegs war? Keine Geringere als unsere Graue Dame! “ Er ließ das erst einmal auf die anderen einwirken, die erstaunt und ungläubig durcheinanderriefen. „Jawohl, Granny Wigmore hat die Graue Dame mitten im Sturm gesehen. Sie hat sogar mit ihr gesprochen, unsere Granny.“

„Nie im Leben!“

„Doch. Zum ersten Mal seit fast siebzig Jahren hat sie sich wieder gezeigt. Und wisst ihr, wen die Graue Dame gesucht hat?“

Alle spitzten gespannt die Ohren.

„Den Doktor!“ Die Zuhörer waren wie vom Donner gerührt. Großvater Tasker nickte. „Jawohl. Ich wette, sie hat ihn in Sicherheit gebracht, unsere gute Graue Dame.“

„Ich hab sie ebenfalls genau gesehen“, warf Mort Fairclough ein. „Sie ritt schnell wie der Wind, auf einem Pferd aus Nebelschwaden und mit einem Umhang aus seidenen Spinnweben.“

„Seidene Spinnweben?“ Ein Raunen erhob sich im Gasthaus.

„Genau, ein Umhang aus schimmernden seidenen Spinnweben“, bekräftigte der Wirt energisch. „So, wer will noch ein Glas?“