Epilog
Lebe gut. Das ist die beste Rache.
Talmud
Selbst die Schwalben sind so vernünftig und ziehen im Winter von England nach Ägypten“, sagte Dominic. „Und wir? Wir machen es genau anders herum. Es ist eiskalt! Warum du das herrliche, sonnige Ägypten verlassen und ins kalte, düstere Wolfestone zurückkehren wolltest, ist mir ein Rätsel.“
Grace, dick eingehüllt in mehrere Decken, lächelte. „Du wirst schon sehen.“ Sie spähte aus dem Fenster. „Sieh mal, da ist Granny Wigmores Kate. An ihrem Tor hängt ein Schild. Was steht denn darauf?“
Sie rückten näher ans Fenster.
Granny Wigmore Tränke für den Adel
Grace lachte leise. „Tränke für den Adel! Was um alles in der Welt soll das sein?“
Die Kutsche erreichte das große Eisentor und passierte die beiden zähnefletschenden Steinwölfe, ohne anzuhalten.
Als sie um die letzte Ecke bogen, sahen sie das Schloss vor sich, strahlend hell erleuchtet in der Dunkelheit des Dezemberabends. In jedem Fenster standen brennende Kerzen, der Vordereingang war mit Tannengrün geschmückt, und um den Wolfskopf des Türklopfers rankte sich ein Kranz aus Stechpalmenzweigen und Efeu.
„Was zum ...?“, entfuhr es Dominic.
In diesem Moment ging die Tür auf, und warmes, einladendes Licht fiel hinaus. Sheba erschien als Erste, wie ein weißbraun gefleckter, mit dem Schwanz wedelnder Blitz, voller Begeisterung über die Rückkehr ihres Herrn. Ihr folgte ein wahres Begrüßungskomitee. Einen Moment lang fragte Dominic sich, ob er die Flitterwochen nur geträumt hatte - Grace’ Familie war vollständig versammelt.
Dennoch, er und Grace hatten tatsächlich den Mond über den Pyramiden aufgehen sehen. Sie waren in der Morgendämmerung in Venedig von Bord eines Schiffes gegangen. Sie hatten sich vor der Sphinx geküsst. Kein Traum, vielmehr ein wahr gewordener Traum.
„Frohe Weihnachten, Dominic“, sagte Grace, als sie von den anderen in die Eingangshalle geführt wurden. Zu Dominics Erstaunen war wirklich Grace’ ganze Familie gekommen, sogar die Kinder. Und jedes einzelne Familienmitglied umarmte oder küsste ihn, als wäre das das Selbstverständlichste auf der Welt, als gehörte er zu ihrer Familie dazu.
„Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass wir dich so überfallen haben“, sagte Prudence zu ihm. „Aber wir feiern Weihnachten immer zusammen, und Grace erwähnte, dass sie ihr erstes Weihnachtsfest mit dir hier in Wolfestone Castle verbringen wollte.“
„Ihr seid alle herzlich willkommen“, brachte Dominic mühsam hervor.
Das Innere des Schlosses war überall mit festlichem Grün geschmückt. Im Kamin im Salon brannte ein riesiger Julklotz, und der Duft von Tannengrün und Gewürzen hing in der Luft.
„Es gibt Glühwein“, verkündete Gideon und tauchte eine Kelle in einen großen Kessel.
„Zu Abend essen wir in einer Stunde“, teilte Prudence ihnen mit. „Ich bin so froh, dass ihr noch rechtzeitig eingetroffen seid. Wir hatten schon Angst, der Schnee könnte euch einen Strich durch die Rechnung machen.“
Nach dem Abendessen saß die ganze Familie am Kamin, sah auf den brennenden Julklotz und sang Weihnachtslieder. Dominic kannte die Texte nicht. Die zehnjährige Aurora beobachtete ihn eine Weile, dann rutschte sie vom Schoß ihres Vaters und kletterte auf Dominics. „Hier, Onkel Dominic, ich helfe dir“, sagte sie und ließ ihn für den Rest des Abends mit in ihr Büchlein mit Weihnachtsliedern sehen.
Es war eine Szene vollkommenen Friedens und harmonischer Zusammengehörigkeit, und als das letzte Weihnachtslied gesunden war, rief der kleine Jamie Carradice laut: „Seht nur alle, es schneit!“
Durch die Fenster sahen sie, wie die Schneeflocken leicht und sanft vom Himmel herabschwebten. Und es war Heiligabend.
Den nächsten Tag verbrachte Dominic wie in einem Traum. Er hielt sich einige Zeit in der Bibliothek auf, um die Post durchzusehen, die sich in seiner Abwesenheit angesammelt hatte.
Nach der Kirche trafen sich alle zum Essen. Frey brachte Melly mit, die vor Glück strahlte und ihr erstes Kind erwartete. Sir John erschien im Rollstuhl. Er erklärte, unbedingt leben zu wollen, damit er sein erstes Enkelkind genießen konnte. Überall im Haus hallte Kinderlachen wider.
Die Leute umarmten und küssten Dominic und übergaben ihm Geschenke. Und er aß so viel wie noch nie zuvor.
Nach dem Essen drehte sich natürlich alles um den frisch gefallenen Schnee. Ein Schneemann musste gebaut werden, und natürlich gab es eine richtige Schneeballschlacht - unter lautem Geschrei und Gelächter. Danach fanden sich wieder alle im Haus ein zu heißer Schokolade und Weihnachtsplätzchen.
Dominics erstes englisches Weihnachten ... mit einer Familie, für die er ein hochgeschätztes Mitglied war, und in einem Haus, das er den Großteil seines Lebens gehasst hatte und das nun wie durch ein Wunder zur Heimat seines Herzens geworden war.
In jener Nacht hielt er seine Frau ganz fest im Arm und dankte insgeheim für das größte Geschenk von allen - Grace.
Der folgende Tag war der zweite Weihnachtstag, und wie sich herausstellte, hatte Grace auch dafür Vorkehrungen getroffen, bevor sie in die Flitterwochen aufgebrochen waren -ein großes Fest für alle Menschen von Wolfestone.
„Wir schenken jedem ein kleines Weihnachtspäckchen“, erklärte sie ihm. „In jeder Schachtel ist etwas Geld und etwas zu essen oder zum Anziehen - ein kleines Dankeschön, das ihnen hilft, die Wintermonate leichter zu überstehen.“ Dominic entdeckte die Schachtel, auf dem „Familie Finn“ geschrieben stand. „Die übergibst du bitte ganz zum Schluss“, bat er und verschwand in der Bibliothek. Er fand den amtlich aussehenden Brief mit dem Siegel der Regierung darauf und heftete ihn an die Schachtel der Finns.
Alle Dorfbewohner erschienen, und das Fest war ein voller Erfolg. Dominic ließ Grace die Schachteln verteilen, denn die Leute liebten ihre neue Herrin.
Granny trat vor, um ihr Geschenk in Empfang zu nehmen. „Bin nicht sicher, ob ich so etwas brauche, trotzdem vielen Dank. Haben Sie mein Schild gesehen? Jetzt kommen sogar feine Pinkel aus London zu mir, um meinen Rat einzuholen und meine Tränke zu kaufen“, berichtete sie stolz. „Die zahlen ein Vermögen für Kräuter, die mich gar nichts gekostet haben, da ich sie ja selbst gesammelt habe. Dieser Sir John schreibt laufend Briefe und empfiehlt mich weiter.“
„Das ist ja großartig, Granny.“ Grace umarmte sie.
Jake Tasker näherte sich zögernd. Die Schachtel für seine Familie war kleiner als die anderen. Er schüttelte sie stirnrunzelnd. Sichtlich argwöhnisch öffnete er sie - und entnahm ihr einen Schlüssel. „Was ist das?“
Dominic trat einen Schritt vor und betrachtete den Gegenstand. „Für mich sieht das aus wie der Schlüssel zum Verwalterhaus.“
Jake sah ihn scharf an. „Und was soll ich mit einem Schlüssel zu Mr Eades’ Haus?“
„Das Haus gehört nicht Mr Eades, sondern dem Mann, der meinen Besitz verwaltet“, verbesserte Dominic.
Jake machte ein verwirrtes Gesicht. „Aber das habe ich doch in letzter Zeit getan.“
„Genau.“ Jake schien plötzlich ein Licht aufzugehen, und Dominic schmunzelte. Er hob die Stimme, damit alle in der Halle versammelten Pächter das Gespräch mit anhören konnten. „Außerdem braucht Mr Eades den Schlüssel nicht mehr. Genauer gesagt, dort wo er jetzt ist, darf er gar keinen Schlüssel haben.“
„Wo ist er denn, Mylord?“, rief Großvater Tasker.
Dominic sah in die eifrigen Gesichter der Leute von Wolfestone. Die Leute, deren Schicksal so eng mit seinem eigenen verbunden war. Seine Leute. Er verkündete mit lauter, klarer Stimme: „Mr Eades verrottet im Newgate Gefängnis und wartet auf die Gerichtsverhandlung. Dann wird er für das bestraft, was er euch allen angetan hat - uns allen. Das meiste Geld, das er unterschlagen hat, konnte sichergestellt werden und wird jetzt dafür verwendet, eure Katen und Felder wieder aufzubauen. Der Besitz Wolfestone wird ein ernst zu nehmendes Unternehmen werden.“
Jubel brandete auf.
Als wieder Stille eingekehrt war, fuhr Dominic fort. „Daher wäre es mir eine große Freude, wenn Jake Tasker dauerhaft den Posten des Verwalters übernehmen würde.“
Jake schüttelte ihm kräftig die Hand und sagte unter erneut aufbrandendem Jubel: „Das will ich gern tun, Mylord. Ich danke Ihnen.“
Schließlich gab es nur noch eine Schachtel zu verschenken. Billy Finn wartete mit seiner Mutter und seinen Geschwistern und beäugte die Schachtel aufgeregt. In jeder Schachtel, die für eine Familie bestimmt war, hatten sich auch Süßigkeiten für die Kinder befunden.
„Frohe Weihnachten, Mrs Finn“, wünschte Grace und übergab der verhärmten Frau die Schachtel. Verwirrt nahm Mrs Finn den großen, amtlich aussehenden Brief in die Hand, der unter dem Deckel klemmte. Ängstlich sah sie Grace an. „Das ist doch keine Zwangsräumung, oder?“
„Nein, natürlich nicht“, versicherte Grace. „Ich weiß nicht, was für ein Schreiben das ist, aber ich verspreche Ihnen, kein Mensch wird von seinem Besitz vertrieben.“
Mrs Finn wirkte nach wie vor skeptisch. „Ein Brief, der so aussieht, verheißt nie etwas Gutes. Ist er von einem Anwalt?“ Billy nahm ihr den Brief aus der Hand. „Lass mich einmal sehen.“ Stirnrunzelnd überflog er das große Schreiben mit dem amtlichen Siegel, dann faltete er ein kleineres, ganz normal aussehendes Blatt Papier auseinander. Er las die ersten Zeilen, sah Dominic in die Augen und fragte mit einer Mischung aus Hoffnung und Trotz: „Soll das ein Scherz sein?“ „Nein, Billy, der Brief ist echt“, erwiderte Dominic ruhig.
Billy schluckte und drehte sich zu seiner Mutter um. „Das Schreiben ist vom Gouverneur von New South Wales, Mam, und der Brief hier ist von Dad.“ Als die erstaunten Ausrufe verstummt waren, las er vor:
Meine liebste Annie,
ich hoffe, dir und den Kleinen geht es gut. Ich schreibe dir, weil ich dir sagen will, dass ich ein freier Mann bin. Meine Strafe ist aufgehoben worden. Lord D’Acre hat sich an den Gouverneur gewandt und ihm erklärt, ich wäre zu Unrecht verurteilt worden. Er sagte ihm, ich hätte nie etwas Falsches getan.
Mrs Finn schluchzte auf und umarmte das am nächsten bei ihr stehende Kind. Billy fuhr mit brüchiger Stimme fort.
Ich kann nicht nach England zurückkehren, aber New South Wales ist nicht so schlimm, wie wir befürchtet haben. Es gibt hier zu wenig Farmer und alle brauchen etwas zu essen, daher hat man mir ein Stück Land überlassen. Ich bin jetzt Farmer, Annie, auf meinem eigenen Grund und Boden.
„Auf seinem eigenen Grund und Boden!“ Durch die Menge ging ein Raunen.
Das Leben hier ist gut und angenehm, deswegen spare ich jetzt Geld, damit du und die Kinder zu mir kommen könnt...
Annie schluchzte noch lauter und umklammerte ihre Kinder. „Die weite Reise! Das wird ihn ein Vermögen kosten!“
„Sieh in deine Schachtel“, forderte Dominic sie sanft auf. Totenstille kehrte ein, während Annie langsam ihre Weihnachtsschachtel öffnete. In ihr lag ein Beutel Geld. Als Annie ihn aufschnürte und sah, wie viel es war, fiel sie beinahe in Ohnmacht.
„Damit kannst du für dich und deine Kinder eine Passage nach New South Wales kaufen. Oder du kannst es für deine Kinder verwenden, wenn du lieber hierbleiben möchtest.“
Sie wandte ihm ihr tränenüberströmtes, leuchtendes Gesicht zu. „Wenn ich nicht gehen möchte? Nicht zu meinem geliebten Will? O doch, Mylord, wir fahren zu ihm, sobald wir können.“ Sie ergriff seine Hand und versuchte sie zu küssen, doch das ließ Dominic nicht zu. „Ich danke Ihnen, Mylord, vielen, vielen Dank.“
„Unsinn“, wehrte er schroff ab. „Ich mache nur das Unrecht wieder gut, das Ihnen durch die Achtlosigkeit meines Vaters zugefügt worden ist.“
Billy faltete den Brief zusammen und drehte sich zu den staunenden Leuten um. „Seht ihr? Ich habe euch doch gleich gesagt, dass er ein Guter ist“, rief er jubelnd.
An jenem Abend gingen Dominic und Grace Arm in Arm langsam nach oben und traten dabei in die Mulden, die die Schritte seiner Vorfahren auf den Stufen hinterlassen hatten. Dominic betrachtete Grace von der Seite. Sein Herz war übervoll, er vermochte nicht zu sprechen.
„Sieh mal nach oben“, forderte Grace ihn auf.
Er tat es und sah den Wasserspeier von Wolfestone Castle über sich. Um sein weises altes Gesicht rankten sich Mistelzweige.
„Ich glaube, er möchte, dass wir uns küssen, meinst du nicht auch?“
Also küssten sie sich. Und dieser Kuss war absolut vollkommen.
—Ende —