Es war schon schlimm genug, wenn er sie neckte und zu schockieren versuchte, aber jetzt, wo er so sanft und mitfühlend war ...
Zum Glück hatte er sein Hemd wieder angezogen.
„Nein, es ist alles in Ordnung“, gelang es ihr leichthin zu antworten. „Sie haben mich nur überrascht, das ist alles.“ Merridew-Mädchen konnten mit Schmerzen umgehen, und sie waren klug genug, keinem Mann und erst recht keinem Fremden ihre Verwundbarkeit zu zeigen.
Eine ihr endlos vorkommende Zeit lang sah er ihr tief in die Augen. Er stand so dicht vor ihr, dass sie seinen Atem auf ihrer Haut spüren konnte. Fast schon glaubte sie, er würde sie küssen. Sie richtete den Blick auf die Spinne über ihr auf dem Balken. „Sehen Sie nur all diese Spinnweben. Ihre Verlobte, Miss Pettifer, würde sich hier nicht wohlfühlen. Sie hasst Spinnen.“ So, das würde ihn in seine Schranken weisen.
„Ach, tatsächlich?“, gab er gleichgültig zurück und konzentrierte sich wieder auf ihren Splitter.
Sie starrte auf seinen über ihre Hand gebeugten Kopf. Sein Haar war dick, schwarz und ganz leicht gewellt. Er trug es etwas länger, als es zurzeit in Mode war. Eine einzelne Strähne fiel ihm in die Stirn. Grace hob unwillkürlich ihre andere Hand, um die Strähne zurückzustreichen, hielt aber gerade noch rechtzeitig inne.
Großer Gott. Sie war kurz davor gewesen, die Finger in diesen dicken nachtschwarzen Haaren zu vergraben. Ob sie sich wohl weich oder eher störrisch anfühlten? Sie erschauerte.
Das wollte sie gar nicht wissen. Er war ein Fremder, der zukünftige Ehemann ihrer Freundin Melly. Was war bloß in sie gefahren?
Exotisch. Das war die treffende Beschreibung für ihn. Exotisch und irgendwie ... verlockend. Was für ein Unsinn, ermahnte sie sich. Männer konnten nicht verlockend sein.
Die Fältchen um seine Augen waren sicher durch die Sonne entstanden. Seine Haut war tief gebräunt, geradezu unzeitgemäß dunkel. Und welcher Vorfahr ihm wohl diese eigenartigen, bezwingenden Augen vererbt hatte? Sie waren ... Sie schrak zusammen, als sich die langen, dunklen Wimpern plötzlich hoben und er ihren Blick erwiderte. Seine Augen und sein Mund waren jetzt ganz dicht vor ihr. Sie war wie gebannt und konnte seinem Blick nicht ausweichen. Sie schluckte -und befeuchtete sich die Lippen.
Nun sah er direkt auf ihren Mund, und sie hatte das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können.
„Sie haben wohl nicht zufällig eine Pinzette dabei, oder?“
Diese Frage kam so unerwartet, dass Grace unsicher auflachte. „Nein, natürlich nicht.“
Seine goldbraunen Augen schienen plötzlich zu glühen. Er zuckte die Achseln. „Dann muss ich es eben auf die altmodische Art machen.“ Ehe sie sichs versah, presste er die Lippen auf ihren Handballen, genau an der Stelle, wo der Splitter steckte.
Vor lauter Überraschung krümmte sie unwillkürlich die Finger, sodass sie sich an seine Wange schmiegten. Ehe sie sie zurückziehen konnte, hielt er sie am Handgelenk fest. Dabei sah er Grace wieder tief in die Augen. Sie fühlte sich vollkommen wehrlos und war nicht imstande sich zu bewegen, während sie immer tiefer in diesem goldenen Blick versank.
Um Himmels willen, er wollte ihr nur einen Splitter herausziehen! Sie schloss die Augen, um ihn auszublenden.
Das war ein Fehler, denn nun reagierten ihre anderen Sinne umso empfindlicher. Sein unrasiertes Kinn schabte angenehm kratzig über ihre weiche Handfläche. Seine Zunge tastete forschend und beinahe sinnlich über ihre Haut. Jede noch so kleine Bewegung ließ sie tief in ihrem Innern erschauern. Ihre Knie fühlten sich plötzlich ganz weich an, und sie hielt sich unwillkürlich mit ihrer freien Hand an seinem Arm fest.
Er veränderte seine Haltung, wahrscheinlich, um bequemer an Grace’ Hand heranzukommen. Aber ... jetzt war er ihr noch näher, er schien sie förmlich einzuhüllen. Sie versuchte es zu ignorieren, genauso wie es ihr eben mit ihren Schmerzen gelungen war. Doch die ungeheure Wärme, die er ausstrahlte, strömte in sie ein und machte sie schwach und unruhig. Seine Haut fühlte sich kühl an, wurde aber unter Grace’ Berührung schnell wärmer. Ihre Finger entwickelten plötzlich ein Eigenleben und strichen zögernd über seinen so angenehm kratzigen Kieferknochen.
Dominic zog sie noch etwas näher an sich. Sie war so weich und gegen ihren Willen erregt, das spürte er nur zu deutlich. Sein Herzschlag beschleunigte sich, doch er unterdrückte sein Verlangen mit aller Macht. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür - nicht, solange sie Schmerzen hatte.
Die bezaubernde kleine Gesellschaftsdame würde ihm gehören, das stand für ihn fest. Wieder atmete er ihren Duft ein, er war betörend. Ihre kleine weiche Hand lag federleicht und zögernd an seiner Wange. Er spürte ihre Unsicherheit, spürte, wie ihre Finger leicht zitterten, und lächelte in sich hinein.
Es würde schön werden mit ihr, mehr als schön. Sie war scheu und sie war unerfahren, doch er wusste, ihr Verlangen war geweckt.
Er schloss kurz die Augen und betastete mit der Zungenspitze ihren Handballen, um herauszufinden, in welchem Winkel der Splitter in ihrer Haut steckte. Der Geschmack ihrer Haut, ihres Blutes, entfachte irgendetwas in seinem Innern - seine Urinstinkte vielleicht. Er unterdrückte sie energisch.
Mit den Zähnen drückte er gegen die Stelle, an der der Splitter saß. Das musste ihr wehtun, aber sie ließ sich nichts anmerken. Mit der Zunge zog er kleine, beruhigende Kreise um die Stelle. Der Körper des Mädchens wurde nachgiebiger, und Dominic merkte, wie es erschauerte, obwohl es das so krampfhaft vor ihm zu verbergen versuchte. O ja, schon bald würde es sein werden.
Er strich noch einmal zart mit der Zunge über die Haut dieser jungen Frau, ehe er unvermittelt kräftig zu saugen begann. Sie gab einen erstickten Laut von sich, teils vor Schmerz, teils vor unerwarteter Lust, dann bekam er das Ende des Splitters mit den Zähnen zu fassen und zog ihn heraus.
Er spuckte ihn in seine andere Hand. „Der ist wirklich groß. Lassen Sie mich nachsehen, ob auch wirklich alles davon heraus ist.“ Er hob ihre Hand wieder ans Licht. „Es darf nicht das kleinste Stück drinnen bleiben. Ich kannte einmal einen Mann, der an einem Splitter gestorben ist. Er bekam eine Blutvergiftung, die ihn schließlich umbrachte.“
„Vielen Dank, das beruhigt mich sehr“, erwiderte sie trocken.
Ihre Bissigkeit gefiel ihm. Sie war nervös und verlegen, aber dennoch fest entschlossen, sich nichts davon anmerken zu lassen. Das Raubtier in ihm lächelte. Er freute sich, dass sie keine leichte Eroberung sein würde.
Sachlich betrachtete er ihren Handballen. „Ich kann nichts mehr finden“, teilte er ihr schließlich mit, „aber baden Sie die Hand in heißem Wasser, so heiß Sie es aushalten können, und das zehn Minuten lang. Und behalten Sie die Stelle im Auge. Wenn sie rot wird und wehtut, hat sie sich entzündet, und wir müssen einen Umschlag darum machen.“
Grace dankte ihm und ging mit unsicheren Schritten zur Tür. Auf ihre Beine schien eindeutig kein Verlass zu sein.
Was war da eben bloß geschehen?
Einen Kuss konnte man das nicht nennen, aber ... großer Gott! Sie freute sich darauf, die frische, vom Regen gereinigte Luft einzuatmen. Sie wusste nicht, was in diesem dunklen Nebengebäude über sie gekommen war. Ihre Knie hatten beinahe nachgegeben, als er ... an ihrer Hand gesaugt hatte.
Wieder überlief sie ein Schauer. Vielleicht hatte sie sich ja doch eine Erkältung zugezogen. Ihr war heiß, sie zitterte und ihr Puls raste. Er hingegen wirkte wie die Ruhe selbst. Sie versuchte, ihre Fassung wiederzugewinnen.
Er folgte ihr. „So, ich reite jetzt ins Dorf. Ich werde dafür sorgen, dass morgen ein paar Dorfbewohner zum Arbeiten auf dem Schloss erscheinen. Haben Sie schon eine Ahnung, wie viele Hilfskräfte Sie benötigen werden?“ Sie starrte ihn nur fassungslos an, und aus diesem Grund fuhr er ungeduldig fort. „Ach, das ist nicht nötig, dass Sie mir eine Antwort geben. Ich schicke einfach ein Dutzend Leute hierher, dann können Sie entscheiden, wen Sie gebrauchen können. Die Leute sollen nur zwei Wochen auf diesem Anwesen bleiben. Ich habe nicht die Absicht, mich hier dauerhaft häuslich einzurichten.“
Grace traute ihren Ohren nicht. Er erwartete von ihr, dass sie seine Bediensteten aussuchte?
„Und bis dahin lassen Sie sich von mir nicht mehr dabei erwischen, dass Sie etwas so Törichtes tun wie Holz hacken!“
Sein Befehlston machte sie wütend. Glaubte er etwa, sie hackte aus reinem Vergnügen Holz? „Sie sagten, ich soll meine Hand in heißem Wasser baden?“, fragte sie betont artig.
Er nickte kurz. „Ja, in sehr heißem Wasser sogar.“
„Und ich darf kein Holz mehr hacken?“
„Nein, natürlich nicht!“
Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Und wo soll ich Ihrer Meinung nach heißes Wasser herbekommen?“ Sie genoss seinen Gesichtsausdruck, als ihm verspätet einzufallen schien, warum sie überhaupt Holz gehackt hatte.
Er zog seinen Mantel aus und krempelte die Hemdsärmel hoch. Seine Unterarme waren so tief gebräunt wie sein Gesicht, und sein weißes Hemd war aus so feinem Leinen, dass es beinahe durchscheinend war. Er stellte ein großes Holzscheit aufrecht auf den Hauklotz. „Gehen Sie ein Stück zurück“, forderte er sie auf, und Grace gehorchte, fasziniert über diese neue Seite an ihm.
Lord D Acre, der Holzhacker!
Er spuckte in die Hände und schwang die Axt. Rums! Das Scheit spaltete sich in zwei Teile. Er nahm das größere Stück, stellte es zurück auf den Klotz und schwang erneut die Hacke. Wieder zerfiel das Holz säuberlich in zwei Teile. Er stapelte die gehackten Scheite ordentlich aufeinander, dann sammelte er die Späne ein und warf sie auf ein Stück Sackleinen in der Nähe.
„Sie machen das nicht zum ersten Mal“, stellte sie bewundernd fest.
Er warf ihr einen Unheil verkündenden Blick zu, während er sich das nächste Holzscheit vornahm. Er spaltete es mit einem Hieb. Dann das nächste. Und noch eins.
Grace beobachtete ihn, sie war fasziniert vom Schwung der Axt und dem Spiel seiner Muskeln. Das Hemd klebte ihm in-zwischen am Oberkörper, sein Gesicht war gerötet und seine Stirn bedeckte ein feiner Schweißfilm. Er bot einen prachtvollen Anblick, kraftvoll, männlich und zornig. Und aufregend.
Sie schluckte. Sie war hergekommen, um Melly vor diesem Mann zu retten. Sie sah, wie seine Muskeln hervortraten. Ob Melly sich überhaupt vor ihm retten lassen wollte?
Grace dachte an die Art, wie er ihren Splitter entfernt hatte. Unwillkürlich hob sie die Hand an die Lippen. Und wenn der Splitter nun in ihrer Lippe gesteckt hätte?
Dominic war wiederum wütend auf sich selbst. Es war seine Schuld, dass sie jetzt hier in ihrem nassen, unansehnlichen Kleid stand, ihn mit großen Augen beobachtete und eine hässliche rote Wunde an der Hand davongetragen hatte. Ihre Hände waren so weich, beinahe samtig. Sie hatte noch nie im Leben mit den Händen gearbeitet, das sah man. Er hätte daran denken müssen, dass sie Feuer und heißes Wasser brauchen würde. Aber er hatte doch eigentlich vorgehabt, Sir John und seine Tochter umgehend wieder nach London zurückzuschicken! Immerhin waren sie uneingeladen hier erschienen. Sie hatten ihn gezwungen, diesen Ort aufzusuchen, den er nie im Leben hatte sehen wollen!
Und sie hatten dieses großäugige, samthäutige Mädchen mitgebracht, verdammt!
Er war völlig durcheinander, und das nicht nur, weil er hergekommen war.
Dominic spürte, wie sie ihn beobachtete. Sie hatte keinen Laut von sich gegeben, als er diesen Splitter herausgezogen hatte. Keinen Mucks. Nur einmal einen Schreckenslaut, weil er sie überrascht hatte. Jede andere Frau, die er kannte - außer einer - wäre wohl in Tränen ausgebrochen.
Seine Mutter hatte Schmerz ebenfalls stumm ertragen können. Manche Frauen lernten das. Gezwungenermaßen.
Wieder und wieder schwang er die Axt, spaltete Scheit um Scheit. Es war seltsam befriedigend. Er musste irgendetwas tun, um sich abzureagieren.
Er hatte noch immer ihren Duft in der Nase, ihren Geschmack auf den Lippen. Und er wollte mehr, verdammt! So etwas hatte er nicht vorgesehen. Doch diese kleine Miss Sommersprossen mit ihrer weichen Haut und ihren großen blauen Augen brachte sein Blut mehr in Wallung als jede andere Frau vor ihr.
Schließlich hatte er einen ordentlichen Stoß Holz aufgestapelt, die Axt konnte er weglegen. Er fühlte sich verschwitzt, schmutzig und kein bisschen ruhiger als zu Beginn. Mit seinen schwieligen Händen hob er ein paar Scheite auf und presste sie an seine Brust, damit sie nicht herunterfielen. „Nehmen Sie die Späne auf dem Sackleinen“, forderte er sie auf. „Die brauchen wir zum Anmachen.“
Sie schlang die vier Ecken des Tuchs zu einem lockeren Knoten und eilte ihm voraus, um ihm die Küchentür aufzuhalten. Er versuchte, nicht auf den verführerischen Schwung ihrer Hüften beim Laufen zu achten. Aber der feuchte Wollstoff schmiegte sich an ihren Körper, und Dominic blieb gar nichts anderes übrig, als hinzuschauen. Sein Mund fühlte sich plötzlich an wie ausgetrocknet.
Auf dem großen Küchentisch lag eine ganze Reihe von frischem, geputztem Gemüse. Dominic runzelte die Stirn. „Was ist das?“
„Gemüse aus Ihrem Garten. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen. Ich dachte, ich koche eine Suppe zum Abendessen. Sonst gibt es hier ja nichts.“
Er zog die Augenbrauen hoch. War das etwa eine feine Stichelei über seine mangelhafte Gastfreundschaft gewesen? Vorlautes Ding! Er ließ das Holz geräuschvoll neben der großen alten Feuerstelle fallen. „Geben Sie mir die Späne.“
Sie bückte sich anmutig und legte das Sackleinen neben ihn auf den Boden.
„Gibt es hier Papier?“
Sie reichte ihm eine alte Zeitung. Dabei streiften ihre Finger seine Hand, und wieder stieg ihm ihr Duft in die Nase. Nasse Wolle. Nasse Frau. Verdammt!
Er knüllte das Papier zusammen und schüttete die Holzspäne darüber. „Ich wollte Sie schon die ganze Zeit nach der Sache mit dem durchtrennten Pferdegeschirr fragen.“ „Warum? Die Pferde hatten sich darin verfangen und waren ganz nervös und schreckhaft. Das Geschirr einfach durchzuschneiden war die schnellste Art, sie zu befreien.“
„Dem stimme ich zu. Aber woher hatten Sie das Messer?“ „Ich hatte natürlich eins bei mir.“
Er sah sie ungläubig an. „Sie tragen ein Messer bei sich?“ Sie zog die Augenbrauen hoch. „Ja, ich versuche, möglichst nie unbewaffnet zu reisen. “
Er runzelte die Stirn. „Aber Damen ..." Er verstummte. Sie war keine Dame, sondern eine Bedienstete. Ohne Zweifel musste sie allein zurechtkommen. Das zeigte schon, wie sie versucht hatte, Holz zu hacken.
Sie schien allerdings gemerkt zu haben, worauf er hinauswollte. „Damen reisen durchaus bewaffnet. Meine Mutter hat das immer getan, genau wie zwei meiner Schwestern. Auch meine Großtante und mehrere andere Damen, die ich kenne.“ Er bezweifelte, ob die Frauen, von denen sie sprach, wirklich Damen waren. Bei den einzigen „Damen“ seiner Bekanntschaft, die regelmäßig bewaffnet waren, handelte es sich um Geschöpfe der Nacht. Doch das sagte er nicht. „Aber sie bevorzugten bestimmte keine Messer, wenn sie unterwegs waren, darauf würde ich wetten“, meinte er stattdessen.
„Nein, sie bevorzugen Pistolen. Nur eine angeheiratete Verwandte und eine andere Freundin der Familie tragen Messer.“ Sie runzelte die Stirn und korrigierte sich. „Nein, Elinores Waffe ist eigentlich eher ein kleines Stilett. Das von Cassie ist allerdings ein richtiges Messer.“
Ein Stilett? Gütiger Gott! Allmählich bekam er eine Vorstellung von Greystokes familiärem Hintergrund. Manche Gesellschaftsdamen entstammten durchaus guten Familien, die in finanzielle Schwierigkeiten geraten waren. Andere wiederum, vor allem die jüngeren, versuchten ihre Situation zu verbessern. Anhand dessen, was sie ihm eben erzählt hatte, kam er zu dem Schluss, dass Greystoke zur letzteren Kategorie gehörte.
Plötzlich sah er sie vor sich, wie sie durch den strömenden Regen gelaufen war. Ihre nasse Kleidung hatte ihr dicht am Körper geklebt, ein Messer darunter wäre ihm sicher aufgefallen. Wollte sie sich über ihn lustig machen?
„Wo hatten Sie es denn, Ihr Messer?“
„In meinem Stiefel“, gab sie leichthin zurück. „Brauchen Sie jetzt den Zunder?“
Wortlos nahm er ihr die Zunderbüchse aus der Hand. In ihrem Stiefel? Die Spitzen ihrer Stiefel lugten unter dem schmutzigen grauen Rock hervor. Er brauchte jetzt nur den Saum hochzuziehen, dann würde er wissen, ob sie sich über ihn lustig machte oder nicht...
„Sie glauben mir nicht, nicht wahr? Dann sehen Sie doch selbst nach.“ Sie stellte einen Fuß vor und hob den Rocksaum gerade so weit an, dass er ein knöchernes Heft aus ihrer Stiefelette ragen sah.
Gütiger Gott, sie trug tatsächlich ein Messer in ihrem Stiefel! Und sie hatte hübsche Waden. „Das ist ja interessant“, fing er an.
Sie nickte zufrieden. „Ich habe es Ihnen doch gesa...“
„Nicht eine einzige Sommersprosse auf Ihrem Bein.“
Verärgert zog sie den Rock wieder zurecht.
„Natürlich könnten auf Ihrem anderen Bein Hunderte davon sein. Ziemlich unberechenbare Dinger, diese Sommersprossen. Entstehen an den interessantesten Stellen.“
Sie schnaubte leise, schluckte den Köder aber nicht.
Unbeholfen mühte er sich mit dem Feuerstein ab. Seine Finger wollten ihm einfach nicht gehorchen, sie lenkte ihn zu sehr ab. Er nahm sich zusammen, brachte endlich einen Funken zustande und zündete das Feuer an.
„Sie sind sehr geschickt im Feuermachen“, bemerkte sie.
Er warf ihr einen raschen Blick zu, um zu sehen, ob sie ihn aufzog. Nein, es hatte nicht den Anschein. Er richtete sich auf. „Das dürfte für den Rest der Nacht brennen.“ Mit entschlossener Miene wandte er sich ihr zu. „So, aber jetzt.“
Grace schrak zusammen. „Was meinen Sie damit, aber jetzt?“
„Ich habe Sie aufgefordert, Ihre nassen Sachen auszuziehen.“
„Das werde ich auch tun, sobald ..."
„Ich bin es nicht gewohnt, dass man meine Befehle missachtet, Greystoke.“
Grace wich hastig zurück, um den großen Küchentisch zwischen sich und ihn zu bringen, aber er war schneller und packte ihr Handgelenk. „Kommen Sie mit, Miss ... Greystoke.“ Er zog sie mit sich aus der Küche in die große Eingangshalle.
Grace schäumte innerlich. Dieser selbstgerechte Schuft! Sie war es langsam leid, von ihm herumgezerrt zu werden. Sie konnte kaum mit ihm Schritt halten!
Er blieb vor dem Stapel Gepäck stehen. „Welcher Koffer ist Ihrer?“
„Dieser dort.“
Er hob ihn auf und kehrte mit Grace in die Küche zurück, wo er den Koffer auf den Tisch wuchtete und auf machte. Ohne auf Grace’ Protest zu achten, durchwühlte er den Inhalt und zog alles heraus, was sie für einen vollständigen Kleidungswechsel benötigte. Er zögerte nicht einmal, als er eine spitzenbesetzte Unterhose, ein Musselinhemd und einen Spitzenunterrock zum Vorschein brachte. Er nahm die zarte weiße Unterwäsche in eine große braun gebrannte Hand und zog eine Augenbraue hoch. „Ziemlich extravagant für eine Gesellschaftsdame. Ich kann es gar nicht erwarten, diese Wäsche an Ihnen zu sehen. Oder sie Ihnen auszuziehen, je nachdem.“ Grace war schockiert. Sie wollte ihm die Unterwäsche aus der Hand reißen, aber er hob den Arm, sodass sie nicht mehr heranreichte, und suchte mit der anderen Hand im Koffer nach Strümpfen. Grace war außer sich. „Haben Sie denn gar kein Schamgefühl?“
Seine goldbraunen Augen funkelten. „Nicht sonderlich viel. Und Sie?“
Sie errötete heftig, und es gelang ihr, ihm ihre Kleidungsstücke abzunehmen, dessen Bezeichnungen sie nicht in seiner Gegenwart auszusprechen wagte.
Er lachte leise. „So, welches Kleid wollen Sie anziehen? Dieses graue hier oder lieber das andere graue? Ach herrje, so viel Grau. Sagen Sie Grau wegen Ihres Namens oder ...?“
Sie klappte den Deckel des Koffers zu. Gerade noch rechtzeitig konnte Dominic seine Hand wegziehen. „Ich kann mir meine Sachen selbst aussuchen“, murmelte sie verärgert.
„Ja, aber genau das haben Sie nicht getan“, gab er sanft drohend zurück. „Ich weiß nicht, wie viele Male ich Ihnen aufgetragen habe, sich umzuziehen, aber ...“
„Drei.“
„Wie bitte?“
Sie zuckte die Achseln. „Sie haben es mir dreimal gesagt.
Vielleicht auch viermal. Ich bin etwas vergesslich.“ Sie lächelte ihn betont liebenswürdig an.
„Und warum haben Sie sich dann nicht umgezogen?“ Wieder zuckte sie die Achseln. „Sie haben mir nicht vorzuschreiben, was ich tun soll. Sie sind nicht mein Herr und Gebieter.“
Er stemmte die Hände auf die Tischplatte und sah Grace unter finster zusammengezogenen Brauen an. „Nein, noch nicht! Allerdings bin ich Herr dieses Hauses. Als solcher habe ich Ihnen befohlen, sich umzuziehen. Sie werden lernen, kleine Miss Blauauge, dass man meinen Befehlen lieber gehorcht!“
„Ach, machen Sie doch nicht einen solchen Wirbel daraus! Und nennen Sie mich gefälligst nicht Blauauge! Ich heiße Greystoke. Außerdem habe ich Ihnen gesagt, dass ich mich nie erkälte. Ich habe Ihnen auch gesagt, dass ich mich umziehe, sobald ich Zeit habe. Falls es Ihnen entgangen ist, Sir John ist schwer krank, und in dieser riesigen Scheune von einem Schloss gibt es nicht einen einzigen Bediensteten. Also musste jemand ein Bett für Sir John beziehen. Jemand musste Feuer machen. Jemand musste heißes Wasser für Tee herbeischaffen. Und dieser Jemand scheint“, sie lächelte bissig, „nun einmal die Gesellschaftsdame zu sein!“
Sie wartete darauf, dass er sich entschuldigte. Stattdessen zog er eine Taschenuhr aus der Hosentasche und klappte den Deckel auf. „Sie haben zehn Minuten Zeit. Ich warte draußen, während Sie sich umziehen. “
Sie stampfte gereizt mit dem Fuß auf. „Haben Sie mir nicht zugehört? Sir John ist... “
„Bestens versorgt durch den Arzt. Und niemand stirbt daran, wenn er keinen Tee bekommt. Neun Minuten“, fügte er seelenruhig hinzu und ging zur Tür. „Wenn Sie bei meiner Rückkehr keine trockenen Sachen anhaben, Miss Greystoke, werde ich Ihnen dieses hässliche graue Kleid vom Leib reißen und alles, was Sie darunter anhaben. Dann werde ich Sie abtrocknen - gründlich. Danach - irgendwann - werde ich Ihnen mit Freuden diese bezaubernde weiße Spitzenwäsche anziehen und Sie zum Schluss, zu meinem größten Bedauern, wieder in ein neuerliches hässliches graues Kleid hüllen.“ „Das würden Sie nicht wagen!“ Seine Worte hatten schockierend klare Bilder in ihr heraufbeschworen - Bilder von großen braunen Händen, die weiße Spitze über ihre nackte Haut streiften ... Sie erschauerte.
Er drehte sich noch einmal um und warf ihr einen funkelnden Blick zu. „O doch, Miss Sommersprossen, und da ich nicht das geringste Schamgefühl besitze, wird es mir sogar ausgesprochen Spaß machen.“ Er betrachtete sie von Kopf bis Fuß. „Sommersprossen wie Ihre habe ich noch nie gesehen, und ich muss ständig darüber nachdenken, ob Sie am ganzen Körper welche haben. Oder auch nicht. Und falls nicht - wo haben Sie keine?“
Grace schlug unwillkürlich die Hände vor die Brust.
Sein Blick folgte dieser Bewegung. „Dort, meinen Sie?“ Er sah anzüglich auf Ihre Taille. „Oder weiter unten? An Ihren Waden jedenfalls nicht, so viel weiß ich bereits.“ Er schmunzelte durchtrieben. „Nun, wir werden ja sehen.“
„Nur über meine Leiche!“
Er lachte leise. „Aber nein, im Gegenteil, Sie werden dabei äußerst lebendig sein, Greystoke. Acht Minuten.“ Damit schloss er die Tür hinter sich.