16. Kapitel
Viele Frauen sehnen sich nach dem, was ihnen verwehrt bleibt, und wissen nicht zu schätzen, was ihnen geboten wird.
Ovid
Wie konntest du dem nur zustimmen? Nach allem, was du mir gestern Morgen gesagt hast - wie konntest du es nur zulassen, dass Frey nächsten Sonntag das Aufgebot verkündet?“ Grace und Dominic trafen sich am folgenden Tag an dem Ort, an dem sie sich das erste Mal geliebt hatten.
Er runzelte die Stirn. „Ich weiß, es ist ein verdammtes Ärgernis. Ich hatte gehofft, dem entgehen zu können. Aber es wird dich und mich nicht betreffen.“ Er zog sie an sich und küsste sie. „Guten Morgen, Liebste.“
Sie stieß ihn aufgebracht von sich. „Es wird dich und mich nicht betreffen? Was redest du da? Natürlich wird es uns betreffen!“
„Nun, wenn es dich so sehr belastet, werden wir eben gleich nach der Trauung abreisen.“
Sie sah ihn verwirrt an. „Wen meinst du mit ,wir‘?“
„Nun, dich und mich natürlich. Du hast mir deine Träume verraten - ich werde mit dir auf Reisen gehen. Wir kommen im Morgengrauen in Venedig an, auf dem schönsten Schiff, das du je gesehen hast. Ich fahre mit dir nach Ägypten, und gemeinsam werden wir den Mond über den Pyramiden aufgehen sehen ... “
„Nachdem du Melly Pettifer geheiratet hast?“
Er nickte. „Eine reine Zweckehe, die niemals vollzogen wird.“
Grace war wie vom Donner gerührt wegen seiner Unverfrorenheit. „Du erwartest von mir, dass ich deine Geliebte werde! “ Er schmunzelte. „Du wirst sie nicht, Liebste, du bist es längst. Oder hast du den gestrigen Morgen bereits vergessen?“ Sie hätte am liebsten geschrien.
„Ist es das? Möchtest du, dass ich dich wieder daran erinnere?“ Er trat einen Schritt nach vorn, doch sie hieb ihm so fest sie konnte mit der Faust auf die Brust. Er rieb sich die schmerzende Stelle. „Au! Wofür war das denn?“
Sie starrte ihn ungläubig an. „Ich nehme mal an, du willst mich nicht bewusst beleidigen ... “
Er machte ein entsetztes Gesicht. „Dich beleidigen? Nein, natürlich nicht! Glaubst du das etwa?“ Er zog sie an sich. „Ich verspreche dir, ich habe nicht vor, dich zu beleidigen.“ Sie versuchte, sich aus seiner Umarmung zu winden, aber er hielt sie ganz fest. „Ich lasse dich erst los, wenn du mich verstanden hast.“
„Zu dieser Art von Verständnis werde ich nie gelangen“, fuhr sie ihn an.
„Ich weiß nicht, wie eine Geliebte deiner Meinung nach behandelt wird, aber ich versichere dir, dass du etwas nicht verstanden hast. Hör mir einfach zu, was ich dir zu sagen habe.“ Grace war sich nicht sicher, ob er überhaupt verstand, aber zuhören wollte sie wenigstens. „Warum sollte eine Frau freiwillig zur Geliebten werden wollen?“
„Meine Mutter war als Ehefrau nicht glücklich, aber als Geliebte war sie es, viel glücklicher sogar.“
„Deine Mutter?“
Er nickte. „Das ist eine lange, lange Geschichte. Meine Mutter hatte eine gute Partie gemacht, zumindest sah die Gesellschaft das so. Aber sie war todunglücklich als Ehefrau. Mein Vater war ein Grobian, und sie saß in einem goldenen Käfig. Um es kurz zu machen, sie lief ihm davon. Viele Jahre später verliebte sie sich in einen Mann, der ebenfalls in einer lieblosen Ehe gebunden war. Er war sehr reich und bat meine Mutter, seine Geliebte zu werden. Sie nannte ihm alle Argumente, die du eben auch genannt hast, aber er ließ nicht locker. Sie liebte ihn, und sie war einsam. Also gab sie irgendwann nach und wurde seine Geliebte. Er liebte sie um ihrer selbst willen, nicht für das, was sie in eine Ehe hätte mit einbringen können - und es wurde eine Liebe fürs Leben. Eine Liebe, wie sie die Dichter und Barden besingen.“
Grace schluckte.
„Als er starb, brach ihr der Verlust das Herz, und wenige Monate später starb auch sie. Sie konnte nicht leben ohne ihn.“ Sie schloss die Augen. Sie konnte den Schmerz in seinem Blick nicht ertragen, weil sie wusste, sie würde diesen Schmerz nur noch schlimmer machen.
Er nahm ihre Hände. „Das ist es, was ich dir anbiete - mein Herz. Nicht einen geschmacklosen Austausch von Geld und Gefälligkeiten, sondern eine Liebe ohne Fesseln und gesetzliche Verpflichtungen, in der wir uns frei füreinander entscheiden, ungeachtet der Herkunft oder des Vermögens. Zu Beginn werde ich dir einen gewissen Betrag Geld überschreiben. Du wärst mir finanziell nicht verpflichtet und auch nicht dazu, bei mir zu bleiben, es sei denn, du willst es. Du wirst reich genug sein, um bis ans Ende deines Lebens sorgenfrei leben zu können, falls du mich verlässt. Das Einzige, was uns aneinander bindet, wird die Liebe sein.“
Sie entzog ihm ihre Hände, die sich plötzlich kalt anfühlten. „Es tut mir leid. Ich kann nicht deine Geliebte sein“, sagte sie leise und schob ihn weg.
Er zog sie wieder an sich. „Denk darüber nach. Lehne den Gedanken nicht von vorneherein ab. Wir könnten ein wundervolles Leben zusammen haben - viel schöner als in einer Ehe.“
Sie dachte eine Sekunde lang nach, dann schüttelte sie den Kopf. „Ich kann unmöglich deine Geliebte sein, erst recht nicht, wenn Melly deine Frau ist.“
Er machte eine ungeduldige Handbewegung. „Mach dir ihretwegen keine Sorgen. Hier geht es um dich und mich!“
„Es ist nicht nur wegen Melly. Ich will nicht einfach nur deine Geliebte sein. Ich will mehr vom Leben - und von dir - als das.“
„Es gibt kein ,einfach nur‘ dabei. Du wärst, du bist alles für mich und ... “
Sie legte ihm einen Finger auf den Mund. „Nein, Dominic“, unterbrach sie ihn traurig. „Ich liebe dich, aber ich will alles.
Ich will dich heiraten, mit dir leben, etwas mit dir aufbauen, hier in Wolfestone, dir Kinder schenken und mit dir alt werden.“
„Du verstehst nicht“, beharrte er. „Geliebte haben es viel besser als Ehefrauen.“
Grace schüttelte den Kopf. „Du irrst dich. Du weißt nicht, wer ich in Wirklichkeit bin. Ich bin keine Gesellschaftsdame, sondern Mellys Freundin. Wir sind zusammen zur Schule gegangen.“
„So etwas hatte ich bereits vermutet. Aber ...“
„Ich bin weder arm noch eine Waise. Ich heiße nicht einmal Greystoke. Ich heiße Grace, Grace Merridew.“ Er schwieg. „Ich gehöre zu den Merridews aus Norfolk. Mein Großvater war Lord Dereham of Dereham Court in Norfolk und mein Großonkel ist Sir Oswald Merridew. Lady Augusta Merridew ist meine angeheiratete Großtante, nicht meine Gönnerin. Eine meiner Schwestern ist verheiratet mit einem Duke, eine andere mit einem Baron und eine dritte mit einem Baronet. Ich bin Erbin und ..." Sie verstummte, weil sie merkte, dass sie ins Reden geraten war. „Es kommt also gar nicht infrage,; dass ich als deine Geliebte mit dir zusammenlebe. “
„Ich verstehe.“ Dominic schluckte. „Aber warum ...“
„Ich habe mich verkleidet, um Melly hierher zu begleiten und ihr moralische Unterstützung zu geben, damit sie die Verlobung mit dir lösen kann.“ Sie lachte verbittert auf. „Wir haben wohl beide die Situation ganz falsch eingeschätzt. Und Melly hat keinerlei Mut.“ Sie presste die Lippen aufeinander,' bis sie sich wieder einigermaßen gefasst hatte. „Es tut mir leid, das war ungerecht. Ich weiß, dass Melly es versucht hat. Es ist ihr Vater, der so furchtbar stur ist. Aber wie dem auch sei, ich kann nicht deine Geliebte sein. Manchen Frauen kommt so etwas vielleicht wundervoll entgegen, doch für mich ist das nicht genug. Du sagst, die Ehe kann ein goldener Käfig sein, aber meiner Auffassung nach ist es nur ein halbes Leben, das du mir anbietest, Dominic. Und so muss ich dankend ablehnen.“
Lange Zeit starrte er stumm zu Boden. „Warum hast du mir das alles nicht schon früher gesagt, zum Beispiel, wer du in Wirklichkeit bist? Mir war klar, dass du eine ungewöhnliche Gesellschaftsdame warst, aber alle möglichen Frauen werden Gesellschaftsdamen, und ich hielt dich eben für eine ganz besondere.“ Seine Augen wurden dunkel. „Du bist etwas ganz Besonderes, du bist einzigartig.“
„Ich habe so oft daran gedacht, es dir zu sagen“, meinte sie bedrückt. „Ich wollte es wirklich, aber ...“
„Aber?“
Sie zögerte und wusste nicht recht, wie sie es erklären sollte. „Jeder Mann, der sich je für mich interessiert hat, wusste schon, bevor er mich kennenlernte, wer ich war, mit wem ich verwandt war, wie groß mein Vermögen war - ich bin Erbin, habe ich das erwähnt?“
Er sah sie aufgebracht an. „Das ist mir gleichgültig, auch wenn du die reichste Frau der Welt wärst! Das ist es nicht, was ich von dir will.“
Sie schenkte ihm ein unsicheres Lächeln. „Ich weiß, und genau deshalb wollte ich es dir dann doch nicht sagen. Du bist der einzige Mann, der mir begegnet ist und - mich gesehen hat. Nicht die Erbin, nicht die Schönheit, nicht die Adelige mit den guten Beziehungen. Nur mich. Die ganz gewöhnliche Grace Merridew. Das war einfach ... unwiderstehlich.“
„In der Hinsicht irrst du dich übrigens.“
Sie sah ihn verständnislos an.
„Ich sehe eine Schönheit vor mir, wenn ich dich ansehe. An Grace Merridew ist nichts, aber auch gar nichts gewöhnlich.“ Sie nagte an ihrer Unterlippe. „Mein Haar ist in dieser hässlichen Farbe gefärbt, und meine Sommersprossen sind nicht echt.“ Er sah sie auf eine Art an, die ihr fast das Herz brach. „Du hast selbst gesagt, sie wären merkwürdig“, fügte sie hinzu.
„Das stimmt“, erwiderte er sanft. Er hatte genug davon, dass sie ihn so auf Distanz hielt. „Merkwürdig, aber bezaubernd. Wie hast du sie gemacht?“ Er wollte nicht einmal versuchen, den Sinn dieser falschen Sommersprossen zu verstehen. Aber er war bereit, Interesse dafür zu heucheln, wenn er dadurch Greyst... Grace nur wieder näherkam. Ernsthaft betrachtete er einen dieser Punkte genauer.
„Mit Henna. Man trägt das Zeug auf und lässt es trocknen, und danach hat sich die Haut verfärbt. Siehst du, sie fangen an zu verblassen.“
Er trat näher an sie heran und tat so, als prüfte er ihre Haut. Stirnrunzelnd legte er die Hände um ihr Gesicht, um besser sehen zu können. Er strich mit den Daumen über ihre Wangen. „So weich und samtig“, murmelte er. „Und die Sommersprossen scheinen tatsächlich heller geworden zu sein. Also waren es gar nicht die Zitronen von Mrs Tickel, die das bewirkt haben, nicht wahr? Und auch nicht die Buttermilch von Mrs Parry?“ Er zwinkerte ihr zu.
Sie errötete. „Das hast du gewusst?“
Dominic nickte und sah sie an. Gott, wie schön sie war.
Die Anspannung wich ein wenig aus ihrem Gesicht, als sie kleinlaut lächelte. „Die Hälfte der Frauen von Wolfestone haben mir ihre Heilmittel angeboten. Ich wusste gar nicht, dass es so viele Methoden gibt, Sommersprossen zu beseitigen. Eine Frau hat mir sogar geraten, mein Gesicht mit dem Tau zu waschen, der sich auf einem Grab angesammelt hat.“
„Also werden diese Sommersprossen irgendwann ganz verschwinden?“ Er berührte eine nach der anderen. „Diese hier und diese und diese?“
„Ja.“ Plötzlich fühlte sie sich ihm gegenüber unsicher, und sie wandte ihr Gesicht ab.
„Das wäre schade, ich habe sie nämlich ausgesprochen lieb gewonnen“, murmelte er und begann, jede Einzelne davon zu küssen.
Sie machte sich ganz steif, und einen Moment lang glaubte er, sie würde zurückweichen. Aber dann merkte er, wie ihre Anspannung von ihr abfiel. Seufzend schmiegte sie sich an ihn, und er schlang fest die Arme um sie. Er küsste ein paar Sommersprossen auf ihrem Gesicht, dann lang und ausgiebig ihren Mund, danach wieder ein paar Sommersprossen und erneut ihren Mund.
Sie stöhnte leise auf. Dann erwiderte sie seinen Kuss, während sie die Finger in seinem Haar vergrub und seinen Kopf noch näher zu sich zog. Sie küsste ihn mit einer Glut, von der ein Mann nur träumen konnte.
Das war es, was er wollte. Das war alles, was er wollte. Greyst... Grace in seinen Armen. Es war ihm gleichgültig, wer sie war.
Warum konnte sie das alles nicht so einfach sehen wie er?
Er drückte sie sanft nach hinten ins Gras und hob die Hand an ihr Mieder.
Sie schlug seine Hand weg und stieß ihn verwirrt und zornig zurück. „Nein, Dominic, ich werde nicht deine Geliebte sein! Du hast eingewilligt, Melly Pettifer zu heiraten, also ist es aus und vorbei mit uns.“
Er blieb im Gras liegen und beobachtete, wie sie ihr Kleid glättete und sich über das Haar strich. Sie war so bezaubernd, wenn sie nervös war. „Es ist ganz und gar nicht aus und vorbei, Grace“, widersprach er sanft. „Ich behalte immer, was mir gehört, und du, Liebste, gehörst mir.“
Sie stand wütend und mit geballten Fäusten vor ihm. Er rührte sich nicht und verfolgte belustigt, wie sie sichtlich ihrem Gerechtigkeitssinn nachgab und nicht nach ihm trat, solange er am Boden lag.
Sie marschierte zu ihrem Pferd und griff nach den Zügeln. Am liebsten hätte er laut gelacht, als ihr erkennbar bewusst wurde, dass sie seine Hilfe brauchte, um sich in den Damensattel schwingen zu können.
Sie weigerte sich strikt ihn anzusehen, während sie stumm das Bein anwinkelte. Er liebkoste ihre Wade so leicht und schnell, dass sie gar nicht dazu kam zu protestieren. Dann saß sie auch schon auf ihrem Pferd. Er bewunderte ihre anmutige Haltung, als sie deutlich verstimmt davongaloppierte.
Sie hatte nicht die geringste Chance gegen ihn. Am vergangenen Tag hatten sie sich alles gesagt, was gesagt werden musste - sie gehörte ihm, und er gehörte ihr. Sie mochte ihn vielleicht aufgegeben haben, aber er sie nicht, nicht im Traum.
Melly aß immer noch kaum etwas, sondern stocherte nur in ihrem Essen herum. Grace machte sich Sorgen, ob Melly das vielleicht tat, um sich selbst zu bestrafen. Sie konnte Melly ansehen, was für ein schlechtes Gewissen sie hatte, aber sie traf doch keine Schuld. Sie hatte sich bemüht, mit ihrem Vater zu reden, und er hatte abgelehnt. Das war kein Grund, sich zu Tode zu hungern.
Aber immer wenn Grace versuchte, mit Melly darüber zu sprechen, wechselte diese verlegen und etwas verärgert das Thema. „Es ist alles in Ordnung, Grace. Schließlich bin ich noch kein Schatten meiner selbst, oder?“, bemerkte sie verbittert.
„Nein, Melly, aber ...“
Es hatte keinen Zweck. Melly war aufgestanden und gegangen, und Grace hatte nur stirnrunzelnd hinter ihr her sehen können. Das war nicht die Melly, die sie kannte und liebte. Diese ganze Geschichte trieb allmählich einen Keil zwischen sie. Es war schrecklich.
Wenn sie selbst nicht mit Melly reden konnte, dann sollte das jemand anderes tun. Falls Melly nur aus Kummer nichts aß, war das eine Sache, aber falls sie krank war ... Grace beschloss, mit Frey darüber zu sprechen. Schließlich gehörte es zum Beruf eines Vikars, sich die Sorgen und Nöte anderer Menschen anzuhören.
„Man kann nicht behaupten, dass sie im Moment nicht viel um die Ohren hätte“, meinte Frey. „Abgesehen vom Zustand ihres Vaters ist die Luft hier bisweilen so dick, dass man sie mit einem Messer schneiden könnte.“
„Aber sie hat sich noch nie geweigert, etwas zu essen, nicht in all den Jahren, die ich sie nun schon kenne.“ Grace hatte Frey ebenfalls eingeweiht, wer sie in Wirklichkeit war. Es gab keinen Grund, das noch länger zu verheimlichen.
Frey runzelte die Stirn. „Befürchten Sie, sie könnte einen Nervenzusammenbruch erleiden? Das würde mich nicht überraschen. In einer derartigen Situation muss ja jeder deprimiert werden. Ich habe mein Bestes getan, sie aus diesem verdammten Krankenzimmer herauszulotsen. Eine junge Dame kann doch nicht den ganzen Tag lang in einem solchen Raum sitzen.“
„Ja, ich habe gemerkt, dass Sie jeden Nachmittag mit ihr spazieren gegangen sind. Das ist sehr nett von Ihnen.“
Er zuckte bescheiden die Achseln. „Ach, ich hatte ja sonst nichts weiter zu tun. Das Warten, bis das Pfarrhaus endlich instand gesetzt ist, das Predigtenschreiben, die Besuche in der Gemeinde - ehrlich gesagt freue ich mich immer auf den Spaziergang. Er rettet mir den Tag.“ Er wirkte plötzlich bedrückt. „Ich mache mir etwas Sorgen, weil Dominic sicher will, dass ich diese ... diese Trauung vornehme. Er ist mein ältester Freund, wissen Sie. Wenn er mich darum bittet, werde ich nicht ablehnen können. Aber es wäre mir lieber, wenn ich es nicht tun müsste.“
Grace wusste nicht, was sie sagen sollte.
„Sie sind auch nicht allzu glücklich darüber, nicht wahr?“, fragte der Vikar weiter.
Sie schüttelte den Kopf.
Frey seufzte. „Verdammter Sturkopf, dieser Dominic. Er will nicht auf das verzichten, was ihm seiner Meinung nach rechtmäßig zusteht. Das liegt wahrscheinlich an der Armut, in der er als Kind leben musste. Was ihm gehört, gehört ihm.“
Grace warf ihm einen verstohlenen Seitenblick zu. Ja, er hatte den Besitz gemeint und nichts anderes. Sie nickte. „Mellys Vater ist genauso halsstarrig. Er ist der Grund für alle unsere Sorgen.“
Er tätschelte unbeholfen ihre Schulter. „Ich rede mit Miss Pettifer. Mal sehen, was ihr so zu schaffen macht.“
Er sprach das Thema am folgenden Nachmittag nach ihrem üblichen Spaziergang an. Sie hatte sich angewöhnt, danach Tee und Kuchen servieren zu lassen. Frey fing fast an, Gefallen an dem faden Gebräu zu finden. Hauptsache, es gab genug Cremetorte dazu, die man damit hinunterspülen konnte, und Mrs Stokes backte die besten Cremetorten, die er je gegessen hatte. Normalerweise aßen er und Miss Pettifer alles auf, was sie ihnen vorsetzte, doch in letzter Zeit hatte Melly den Kuchen gar nicht angerührt, wie ihm plötzlich auffiel. Miss Greystoke, nein, Miss Merridew hatte recht. Melly hatte Kummer.
„Sie essen ja gar keinen Kuchen“, bemerkte er.
„Nein.“ Sie errötete. „Ich habe keinen Hunger.“
„Sie haben gestern Abend kaum etwas gegessen, und am Abend davor auch nicht. Und jetzt lassen Sie sogar den Kuchen stehen, obwohl ich weiß, wie gern Sie ihn mögen.“
Sie ließ den Kopf hängen.
Er beugte sich vor und nahm ihre Hand. „Was ist mit Ihnen, Melly?“, fragte er sanft. Es war das erste Mal, dass er sie bei ihrem Vornamen nannte.
Sie sah ihn nicht an. „Ich versuche abzunehmen“, murmelte sie kleinlaut.
„Wie bitte?“
Sie errötete noch heftiger. „Ich will abnehmen.“
Er starrte sie an. „Großer Gott, warum denn das?“
„Ich bin zu dick“, flüsterte sie.
„Zu dick?“ Er war vollkommen fassungslos. „Wer auch immer Ihnen das gesagt haben mag, ist ein blinder Narr“, meinte er schließlich. „Sehen Sie mich an, ein dürres, unansehnliches Knochengestell, während Sie ... Sie sind der Inbegriff köstlicher weiblicher Rundungen, von denen ein Mann nur träumen kann.“
Stille folgte seinen Worten. Frey merkte, dass er rot wurde. Melly sah ihn mit vor Erstaunen leicht geöffnetem Mund an.
„Großer Gott, was sage ich da?“ Er stand auf und ging erregt im Zimmer auf und ab. „Ich bin ein Geistlicher, um Himmels willen! So etwas sollte ich nicht einmal denken!“ Er setzte sich wieder. „Sie sind ein Gemeindemitglied, ein Schäfchen meiner Herde.“ Er strich ihr über die Wange. „Mein kleines Lamm.“ Er beugte sich über sie und küsste sie. Zu seinem Erstaunen merkte er, dass sie die Arme um seinen Nacken schlang und die Finger in sein Haar schob. Schüchtern öffnete sie ihm ihren Mund - und der Kuss vertiefte sich.
Nach einer Weile ließ Frey sie schwer atmend los. Er warf einen verlangenden Blick auf ihren weichen, üppigen Busen und fuhr sich mit dem Finger in den Kragen. „Wenn Onkel Ceddie wüsste, was ich gerade denke, würde er mich in die Äußere Mongolei versetzen lassen.“
„Warum?“
Er gab sich einen Ruck, stand auf und stellte sich neben den Kamin. „Es ist so, Melly, ich ... ich würde diese ganze verzwickte Situation sofort ändern, aber ...“ Seine Augen verdunkelten sich. „Ich bin so verdammt arm.“
„Ich bin auch arm“, erklärte sie und fügte hoffnungsvoll hinzu: „Es macht mir nichts aus, arm zu sein. Ich war nie etwas anderes.“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, das ist es nicht allein. Ich bin die einzige Unterstützung für meine verwitwete Mutter und meine beiden jüngeren Schwestern. Ich kann es mir finanziell nicht leisten zu heiraten. Ich werde es wahrscheinlich nie können.“
„Nie?“, wiederholte sie traurig. „Ich hätte nichts dagegen, zu warten.“
Er betrachtete sie sehnsüchtig, kämpfte mit sich selbst und schüttelte dann wieder den Kopf. „Nein, das ist nicht möglich. Eines Tages - bestimmt bin ich dann schon hundertacht -werde ich so reich sein, dass es meine kühnsten Vorstellungen übertrifft!“
„Hundertacht?“
„Ja, ich wette, so lange wird mein Onkel Ceddie leben. Ich bin sein einziger Erbe, und obwohl unser Vermögen so groß ist, dass unsere ganze Familie bis zum Cousin dritten Grades davon im Luxus schwelgen könnte, rückt Onkel Ceddie keinen Penny davon heraus, wenn es sich vermeiden lässt. Er teilt uns nur das Nötigste an Geld zu - meine Mutter kommt damit kaum über die Runden. Fast alles, was ich in meinem Beruf verdiene, geht an sie und die beiden Schwestern. Gott weiß, was wir machen sollen, wenn die Mädchen eines Tages ins heiratsfähige Alter kommen. “ Er sah in ihre sanften braunen Augen. „Verstehst du, es besteht nicht die geringste Chance für mich, jemals heiraten zu können. Auch wenn ich das noch so sehr möchte.“
„Ich verstehe“, gab sie traurig zurück. „Wirst du dabei sein, wenn ich Lord D Acre heirate?“
Er schüttelte den Kopf. „Ich könnte den Anblick nicht ertragen.“
„Mr Netterton sagt, er wird die Trauung nicht vornehmen können, Papa“, sagte Melly am selben Abend.
„Warum denn nicht?“
„Ich ... ich bin mir nicht sicher. Er meinte nur, er wird nicht da sein können.“
Sir John schürzte die Lippen. „Dann sollten wir uns wohl lieber auf die Suche nach einem anderen Geistlichen machen. Was für ein Ärgernis.“
„Ja, Papa.“ Sie strich das Laken glatt und schüttelte die Bettdecke auf. Er beobachtete besorgt ihr Gesicht.
„Du verstehst doch, warum ich das alles tue, nicht wahr, Kleines?“
Sie seufzte. „Ich kann deine Gründe verstehen, Papa.“
Er tätschelte ihre Hand. „Am Ende wird alles gut werden. Vertrau mir, Melly.“
„Ja, Papa.“ Ihre Stimme war nunmehr ein kaum hörbares Flüstern. „Sei unbesorgt.“
„Du investierst ziemlich viel Arbeit in den Besitz, nicht wahr?“, bemerkte Frey am selben Abend. Die beiden Männer spielten Billard.
„Hm.“ Dominic blinzelte an seinem Queue entlang und lochte seine Kugel ein.
„Dieser Abdul hält alle ganz schön auf Trab, damit sie das Schloss wieder auf Vordermann bringen.“
„Hm.“ Dominic prüfte den besten Winkel für seinen nächsten Stoß.
„Ich nehme an, ihr werdet nach der Hochzeit viel Zeit hier verbringen, du und Miss Pettifer.“
„Nein.“ Dominics Kugel prallte an Freys ab, rollte auf das Loch zu, kippelte eine Sekunde lang an der Kante und fiel dann hinein.
„Guter Stoß. Wie meinst du das, ,nein‘?“
„Ich gehe ins Ausland.“ Den nächsten Stoß verfehlte er. „Miss Pettifer, besser Lady D Acre, wird leben, wo immer sie möchte, irgendwo in England. Du bist an der Reihe.“
Frey rieb die Spitze seines Queues nachdenklich mit Kreide ein. „Das heißt, du wirst nicht mit ihr zusammenleben?“ „Großer Gott, nein! Nach der Trauung werde ich nichts mehr mit ihr zu tun haben.“
„Wie bitte? Nie mehr?“
„Nein“, gab Dominic heiter zurück. „Dann ist sie frei und kann tun, was immer sie will. Die Hochzeit hat nur den Zweck, dass ich mein Erbe antreten kann. Glaubst du, die Kreide reicht aus? Oder soll ich neue bringen lassen?“
Frey zuckte zusammen und schüttelte die überschüssige Kreide ab. Er hatte fast das halbe Stück verbraucht. „Du meinst, du wirst sie sitzen lassen?“
„Sitzen lassen? Das kann man wohl kaum so nennen angesichts der großzügigen Abfindung, die sie bekommen wird. Sie wird frei sein“, verbesserte Dominic ihn.
„Aber einsam.“
„Unsinn. Sie hat genug Geld, um Bedienstete einstellen zu können. Und eine Gesellschaftsdame.“
„Alte Damen stellen Gesellschaftsdamen ein - aber nicht junge Frauen von noch nicht einmal einundzwanzig Jahren! Wer wird sich um sie kümmern?“
Dominic zog die Brauen hoch. „Ach, die Art von Gesellschaft meinst du?“ Er zuckte die Achseln. „Ich kann mir vorstellen, dass sich das ganz einfach von allein ergibt.“
„Das meinte ich überhaupt nicht. Sie ist ein reizendes, anständiges Mädchen! Sie würde nie ...“
„Ich bin gerade dabei, ihr ein Haus in der Nähe des Hafens zu kaufen. Dann kann sie tun und lassen was sie will.“
„Aber das ist eine schreckliche Gegend! Du kannst ein scheues, kleines Ding wie Miss Pettifer doch nicht dort wohnen lassen - sie hätte viel zu große Angst, aus dem Haus zu gehen.“
Dominic zuckte die Achseln. „Besser das als gar kein Haus. Außerdem kann sie so keine Dummheiten machen.“
„Dummheiten? Was für Dummheiten sollte sie wohl machen? Kennst du sie tatsächlich so wenig? Sie ist ein tugendhaftes kleines Geschöpf!“
„Also gut, sagen wir, es bewahrt sie vor den Folgen irgendwelcher Dummheiten.“
„Was willst du damit andeuten?“
„Es ist mir gleichgültig, ob sie sich Liebhaber nimmt - von mir aus eine ganze Reihe davon“, erwiderte Dominic leichthin. „Hauptsache, sie wird nicht schwanger.“
„Gütiger Gott, sie gehört nicht zu den Frauen, die sich Liebhaber nehmen! “, brauste Frey auf. „Und selbst wenn - warum sollte sie nicht schwanger werden? Du willst sie nicht, also kann es dir doch egal sein. “
Dominic prüfte die Spitze seines Queues. „Ich möchte kein Kuckucksei in meinem Nest haben, darum. Natürlich lasse ich sie beschatten. Beim ersten Anzeichen einer Schwangerschaft muss sie weg. Ohne Haus, ohne Einkommen. Ich bin keiner von diesen feinen englischen Herren, die die öffentliche Schande einer Scheidung scheuen. Ich bin in einem Land aufgewachsen, wo man weitaus weniger zimperlich in solchen Dingen ist, wie du weißt.“ „Das ist unmenschlich“, brauste Frey auf.
„Findest du?“ Ungerührt bereitete Dominic seinen Stoß vor.
„Natürlich! Was für ein Leben ist das für ein junges Mädchen?“
„Ein ziemlich trostloses, könnte ich mir vorstellen.“ Dominic versenkte die rote Kugel.
„Sie wird allein, verängstigt und einsam sein. Das kannst du ihr nicht antun, Dom!“
Dominic machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das tut sie sich selbst an, Frey, das hat nichts mit mir zu tun. Ich möchte nur mein Erbe. Wie du weißt, würde ich am liebsten gar nicht heiraten.“
Frey atmete scharf ein. „Du gefühlloser Bastard! Ich hätte nie gedacht, dass du in Wirklichkeit so ein Ungeheuer bist, Dominic. Da zeigt sich mal wieder - der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Du bist genauso schlimm wie dein Vater!“ Er warf sein Queue auf den Billardtisch und stürmte aus dem Zimmer.
Dominic stellte sein Queue zurück in den Ständer und lächelte zufrieden.