7. Kapitel
Die Stimme des Gewissens ist so zart, dass man sie mühelos zu unterdrücken vermag; gleichzeitig spricht sie aber auch so deutlich, dass man sie unmöglich missverstehen kann.
Madame de Staël
Als Grace die Küche von Wolfestone Castle betrat, brannte dort ein lebhaftes Feuer und der Duft von frisch gebrühtem Kaffee hing in der Luft. Der Mann hatte tatsächlich schnell gehandelt. Erst am vergangenen Abend hatte er gesagt, er würde für Hilfskräfte sorgen, und da waren sie.
Eine rundliche Frau wandte sich vom Feuer ab, als Grace eintrat, und machte einen Knicks. „Guten Tag, Miss. Seine Lordschaft meinte, ich sollte alle Anweisungen direkt von Ihnen entgegennehmen. Stokes ist mein Name, Miss. Ich bin Köchin und habe schon einmal für den Adel gearbeitet. Und das hier ist meine Nichte Enid“, fügte sie hinzu, als ein ängstlich aussehendes Mädchen mit einem großen Topf aus der Spülküche kam. „Sie ist eine tüchtige Hilfe in der Spülküche und wird Ihnen keine Probleme bereiten. Mach einen Knicks, Enid!“ Sie stieß dem Mädchen den Ellenbogen in die Rippen, sodass es beinahe den Topf fallen ließ. Das Mädchen knickste ungelenk und eilte davon.
„Ich bin sehr froh, dass Sie und Enid hier sind, Mrs Stokes. Trotzdem glaube ich, hier liegt ein Missverständnis vor. Sie sollten Ihre Anweisungen von Miss Pettifer entgegennehmen, nicht von mir.“
„Nein, Miss, verzeihen Sie, aber Seine Lordschaft sprach ausdrücklich von Ihnen. Miss Greystoke, sagte er. Klein, in Grau gekleidet und mit interessanten Sommersprossen, so hat er Sie beschrieben.“ Sie zögerte. „Ich habe übrigens ein absolut wirksames Hausmittel gegen die Sommersprossen, falls Sie es ausprobieren möchten.“
Grace lächelte. „Vielen Dank, Mrs Stokes, später vielleicht. Rieche ich hier etwa frischen Kaffee? Ich würde furchtbar gern eine Tasse davon trinken. Ich habe auch Speck, Brot und alle möglichen anderen Lebensmittel erstanden, und in Kürze erhalten wir eine Lieferung aus dem Dorf.“
„Das ist großartig, Miss. Ich habe selbst schon ein paar Dinge mitgebracht, nachdem Seine Lordschaft mich gestern Abend eingestellt hat, den Kaffee zum Beispiel. Ich wusste ja nicht, was hier vorrätig sein würde, daher ...“
„Das war sehr umsichtig von Ihnen“, lobte Grace.
Mrs Stokes strahlte. „Es ist mir ein Vergnügen, Miss. Mrs Parrys Junge hat bereits die Sachen gebracht, um die Sie sie gebeten hatten, also gibt es zum Frühstück reichlich zu essen.“ Sie stellte eine Tasse Kaffee auf den Tisch und nahm Grace das Brot aus den Händen. „So, und nun setzen Sie sich, Miss. Ich schneide Ihnen gleich etwas von dem herrlich frischen Brot ab. Möchten Sie Honig dazu oder lieber etwas von Mrs Parrys Zwetschgenmarmelade?“
„Honig, bitte“, erwiderte Grace glücklich. Sie trank einen Schluck von dem heißen, duftenden Kaffee. „Ach, Mrs Stokes, Sie sind ein Juwel!“
Mrs Stokes lächelte und stellte einen Teller mit zwei Scheiben von dem noch warmen Brot vor sie, großzügig bestrichen mit Butter und Honig. Grace langte hungrig zu.
Sie war hervorragender Laune. Es verhieß Gutes, wenn Lord DAcre bereits ein paar Bedienstete eingestellt hatte. Sie hatte noch nicht richtig darüber nachgedacht, wie er wohl auf ihr eigenmächtiges Handeln an diesem Morgen reagieren würde.
„Himmlisch“, rief sie aus und leckte sich etwas Honig vom Finger. „Gibt es etwas Besseres als frisches, warmes Brot mit Honig?“
„Ich wüsste da schon ein paar Dinge.“ Allein beim Klang dieser tiefen Stimme lief Grace ein Schauer über den Rücken.
„Obwohl das hier sehr appetitlich aussieht.“ Der Blick, den er ihr dabei zuwarf, verriet, dass er nicht das Brot gemeint hatte. Sie hörte sofort auf, sich die Finger abzulecken und versteckte sie, obwohl sie noch immer etwas klebrig waren. „Guten Morgen, Miss Greystoke.“
„Guten Morgen, Lord D’Acre“, gab sie liebenswürdig zurück. Sie war fest entschlossen, sich nicht von seinem verwegenen Aussehen oder seinen versteckten Andeutungen aus der Fassung bringen zu lassen.
Er schlenderte träge zu ihr herüber und beugte sich so nah an ihr Ohr, dass sie seinen warmen Atem spüren konnte. „Da ist ein köstlicher Honigtropfen genau neben Ihrem Mund. Wenn Sie möchten, könnte ich ihn weglecken ... “
Grace rieb sich hastig über den Mund, danach warf sie ihm einen aufgebrachten, warnenden Blick zu. Er zwinkerte ihr schmunzelnd zu und hielt ihren Stuhl, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Er hatte sie nur geneckt; nicht einmal er würde es wagen, sie vor Mrs Stokes und Enid zu küssen. Bestimmt nicht.
„Wenn Sie mit dem Frühstück fertig sind ..."
„Er will Papa schon wieder zur Ader lassen! “ Melly stürzte in diesem Augenblick verzweifelt in die Küche. „Ich habe ihm gesagt, das nicht zu tun, aber er meinte nur, ich sollte weggehen und ihn nicht weiter stören.“ Sie warf Grace einen angstvollen Blick zu. „Papa hat doch schon so viel Blut verloren! Er ist ganz blass und schwach. Ich bin mir sicher, dass ihm das nicht guttut.“
„Ich komme.“ Grace rannte aus der Küche. Lord DAcre holte sie an der Treppe ein, nahm ihren Arm und eilte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, mit ihr die Stufen hinauf. Sie erreichten Sir Johns Zimmer gerade in dem Moment, als der Arzt die Armvene öffnen wollte. Ein Blick auf Sir Johns Gesicht bestätigte Mellys Einschätzung. Er lag matt in den Kissen, seine Augen waren geschlossen und die Haut um sie herum hatte beinahe die Farbe eines Blutergusses. Sein Gesicht war sehr blass.
„Lassen Sie das, Sie verdammter Blutsauger!“, fuhr Lord DAcre den Arzt an. „Miss Pettifer hat Sie doch bereits aufgefordert, ihren Vater nicht mehr zur Ader zu lassen.“
Der Doktor richtete sich auf. „Ich bin hier der Arzt!“
„Ja, aber wenn ihr Vater der zu behandelnde Patient ist, dann ist Miss Pettifer diejenige, die hier entscheidet.“
Der Doktor sah ihn empört an. „Ich weigere mich, mir von irgendeinem jungen Ding etwas vorschreiben zu lassen!“ Grace schaltete sich mit wie sie hoffte beruhigend wirkender Stimme ein. „Dr. Ferguson, Miss Pettifer macht sich Sorgen, weil Sie ihrem Vater schon so viel Blut abgenommen haben. Sie hat das Gefühl, dass ihn das nur noch mehr schwächt, und tatsächlich sieht es ganz so aus. Wenn Sie uns ganz einfach erklären würden ... “
Der Arzt straffte die Schultern und sah sie hochmütig an. „Ich muss niemandem etwas erklären!“
„In dem Fall... “ Lord D Acre ging zur Tür und hielt sie auf. „Miss Pettifer, möchten Sie, dass dieser Mensch geht?“
Melly machte ein ängstliches Gesicht. Sie sah zwischen Grace, dem Arzt und ihrem Vater hin und her und nagte an ihrer Unterlippe. Sie konnte sich eindeutig nicht entscheiden.
Dr. Ferguson nahm ihr die Entscheidung ab. „Nun, wenn Sie darauf bestehen, Mylord“, sagte er verschnupft, „dann werde ich Sir John heute nicht zur Ader lassen. Aber Sie tragen dafür die Verantwortung. Er ist ernsthaft erkrankt, und mich trifft keine Schuld, wenn sich sein Zustand verschlechtert.“ Er fing an, seine Sachen zusammenzupacken. „Ich habe noch andere Patienten, um die ich mich kümmern muss. Ich lasse Ihnen dieses Laudanum hier, falls die Schmerzen zu stark werden.“ Er klappte seine Arzttasche zu. „Ich komme morgen wieder, es sei denn, es geht ihm schlechter und Sie rufen mich. Doch wenn Sie das tun, muss ich Sie vorwarnen - dann werde ich ihn zur Ader lassen, denn meiner Meinung nach ist nichts wirkungsvoller für einen Patienten als ein Aderlass.“ Damit verließ er sichtlich in seiner Würde verletzt das Zimmer.
Lord DAcre sah ihm stirnrunzelnd nach. „Nichts ist wirkungsvoller als die Aussicht auf die Bezahlung einer saftigen Rechnung.“
Melly wirkte noch verängstigter. „Aber das kann ich nicht... ich habe kein ... “
Lord DAcre fiel ihr ins Wort. „Zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf. Ich bezahle für die Versorgung meiner Gäste.
So, sind Sie zufrieden mit dem Ausgang dieser Diskussion, Miss Pettifer?“
Melly lächelte ihn erleichtert an. „O ja, vielen Dank, Lord D Acre. Ich glaube, einen weiteren Aderlass hätte Papa nicht überstanden. “
Ihm schien Mellys leuchtendes Lächeln nicht aufzufallen, aber Grace. Sie betrachtete ihre Freundin nachdenklich.
„Haben Sie alles, was Sie brauchen?“, fragte er Melly.
Melly sah sich im Zimmer um. „Ich ...ich glaube schon.“
„Gut, dann können Sie sich jetzt um Ihren Vater kümmern. Lassen Sie sich alles bringen, was Sie benötigen. In der Zwischenzeit haben Miss Greystoke und ich einiges zu besprechen. Unter vier Augen.“
„Ach ja?“ Das gefiel Grace gar nicht, aber ihr blieb keine Zeit, ihm weitere Fragen zu stellen, denn er nahm ihre Hand, legte seine andere Hand auf ihren Rücken und schob sie einfach aus dem Zimmer.
„Was müssen Sie besprechen? Ich glaube nicht, dass wir irgendetwas zu besprechen haben. Schon gar nicht unter vier Augen.“
Er antwortete nicht und bedachte sie nur mit einem rätselhaften Blick.
„Danke, dass Sie Melly beigestanden haben“, sagte sie.
Er verdrehte die Augen. „Der Mann ist ein Quacksalber.“
Grace war geneigt, ihm zuzustimmen. Lord D’Acre führte sie in einen Salon, in dem dringend geputzt und gewischt werden musste, und forderte sie auf, sich zu setzen. Er zog einen anderen Stuhl ganz dicht an ihren heran und nahm ebenfalls Platz, wobei seine Knie fast ihre berührten.
Sie lehnte sich zurück so weit es ging, doch er beugte sich nach vorn. „Eins nach dem anderen“, meinte er und griff nach ihrer Hand. „Sie haben da noch etwas übersehen.“
Ehe Grace sich noch einen Reim darauf machen konnte, wovon er sprach, hatte er ihre Hand angehoben und sich zwei ihrer Finger in den Mund geschoben.
Vor Überraschung verschlug es ihr die Sprache. Sie versuchte, ihm ihre Hand zu entziehen, aber er hielt sie ganz fest und sah Grace dabei unverwandt in die Augen. Sie schloss ihre eigenen krampfhaft, um diesem bezwingenden Blick zu entgehen, aber dadurch spürte sie nur noch intensiver seinen Mund und was er damit tat.
Er saugte in einem langsamen, hypnotisierenden Rhythmus an ihren Fingern. Grace hatte schon erlebt, wie Kälbchen und Lämmer an ihren Fingern gesaugt hatten, doch das hatte sich ganz anders angefühlt. Jede seiner Bewegungen ließ sie erschauern. Gleichzeitig erkundete seine Zunge zart ihre Haut. Er schob die Knie zwischen ihre und rückte näher an sie heran.
Sie spürte seine Wärme, atmete seinen Duft ein und wusste, dass sie ihm widerstehen musste.
Ihr fiel wieder ein, wie strahlend Melly ihn angelächelt hatte. Sie nahm ihre ganze Willenskraft zusammen, entzog ihm ihre Hand und rückte mit dem Stuhl ein Stück nach hinten. „Was fällt Ihnen eigentlich ein ...“
„Ein köstlicher Honig“, stellte er im Plauderton fest, als hätte er nicht soeben etwas äußerst Schockierendes getan. „Er erinnert mich an den Honig aus den griechischen Bergen. Wahrscheinlich wächst jede Menge Thymian neben dem Bienenstock.“ Er lächelte. „Dazu kommt natürlich noch Ihr ganz eigener Geschmack. Köstlich, wirklich.“
Sie starrte ihn an, fassungslos von seiner Dreistigkeit.
Sein Lächeln vertiefte sich. Mit einem Finger hob er sanft ihr Kinn an, und sie schloss den Mund. „Besser. Ich könnte ja sonst glauben, Sie wollten mich zu einem Kuss verführen. Habe ich Sie schon gewarnt, dass ich nur ganz schlecht widerstehen kann?“
„Das weiß ich auch so!“ Ihr Versuch, bissig zu klingen, scheiterte kläglich.
„Ja, und außerdem müssen wir unser kleines Gespräch führen. Da warten Leute auf uns.“
„Leute?“
„Ja, mindestens ein Dutzend Leute warten draußen. Als ich sie fragte, warum sie hier wären, meinten sie, die Graue Dame hätte sie gebeten herzukommen und zu arbeiten. “
„Ach.“ Grace schluckte.
„Genau, ach, Greystoke.“
„Nun ..." Sie räusperte sich. „Ja, ich ... habe ein paar Leute getroffen, als ich heute Morgen ausgeritten bin. Eins führte irgendwie zum anderen und dann ... hm ... habe ich ihnen Arbeit angeboten, ja.“
Er zog eine Augebraue hoch. „Sie haben Bedienstete für meinen Haushalt eingestellt?“
Sie errötete. „Es tut mir leid, ich weiß, das war vermessen von mir. Aber ich dachte, Sie hätten nicht die Zeit loszugehen und Personal zu suchen. Außerdem sagten Sie gestern Abend ... “ Er schwieg, und sie wurde immer nervöser. „Verzeihung, ich dachte, ich könnte helfen. Und diese Leute brauchen wirklich dringend Arbeit.“
Er runzelte die Stirn. „Wollen Sie damit sagen, man hätte Sie bedrängt...?“
„Nein, nein! Sie haben mich um gar nichts gebeten.“ Sie nagte an ihrer Lippe und fragte sich, ob sie taktvoll oder ehrlich sein sollte. Sie entschied sich für Letzteres. „Aber S... jeder merkt doch sofort, dass sie Not leiden, wenn S... jemand sich nur einmal die Mühe geben würde, genauer hinzusehen! Die Anzeichen für Armut sind überall zu erkennen. “
„Was für Anzeichen?“
„Zuerst einmal die Kinder. Alle Kinder sind mager, und ihre Kleidung ist abgetragen und mehrfach geflickt.“
Seine Miene verdüsterte sich.
„Und die Häuser- die Dächer sind undicht, die Wände feucht und schimmelig, aber gleichzeitig sind die Leute nur Pächter und dürfen daher nicht selbst Reparaturarbeiten ausführen.“ Sein Gesichtsausdruck wurde noch finsterer. Ob er dachte, sie würde das alles nur erfinden? Sie strengte sich noch mehr an, ihn zu überzeugen. „Es gibt Leute, die schon seit Hunderten von Jahren für Ihre Familie - die Familie Wolfe - arbeiten. Das Land ist gut, und eigentlich sollte der Besitz blühen, dennoch sind die Menschen arm und verzweifelt. Ich erzähle Ihnen etwas über die Leute, die draußen warten und Arbeit wollen.“ Sie begann, die einzelnen Namen an den Fingern abzuzählen. „Jake Tasker ist einer Ihrer Pächter, dem man den Bauernhof weggenommen hat, den seine Familie seit sieben Generationen bewirtschaftet hatte. Ein Brand vernichtete seine Scheune und den Viehbestand darin. Sein Vater kam bei dem Feuer ums Leben. Zum ersten Mal in seinem Leben konnte er die Pacht nicht bezahlen, aber Ihr Verwalter ...“