15. Kapitel

Pflücke die Knospe, solange es geht, und die Blüten, wenn sie prangen.

Denn bald sind die Rosenblätter verweht. Wie schnell kommt der Tod gegangen.

Robert Herrick

Als sie das Schloss durch den Haupteingang betraten, kam Melly mit schreckgeweiteten Augen die Treppe hinuntergeeilt. „Er bringt Papa um! Er hat ihn wieder zur Ader gelassen, und Papa ist bewusstlos geworden! Helft mir! O bitte, helft mir! “

Grace und Dominic folgten ihr.

In Sir Johns Schlafzimmer trafen sie den Arzt an, der die mittlerweile fast hysterisch gewordene Melly abwehrte. Neben ihm stand eine Schüssel mit einer beträchtlichen Menge frischen roten Bluts.

Sir John lag reglos da. Seine Haut wirkte beinahe ebenso weiß wie das Kissen, auf dem sein Kopf ruhte. Als Grace genauer hinsah, merkte sie, dass seine Brust sich kaum merklich hob und senkte. „Er lebt“, rief sie aus. „Melly, beruhige dich. Er lebt, und wir werden dafür sorgen, dass das auch so bleibt.“ Melly brach in Tränen aus.

Nachdem Dominic sich vergewissert hatte, dass Sir John tatsächlich noch atmete, wandte er sich an den Arzt. Dieser wich unwillkürlich einen Schritt zurück, als er sein Gesicht sah. „Ich hatte Sie aufgefordert, diese Methode nicht mehr anzuwenden“, erinnerte Dominic ihn mit eisiger, ruhiger Stimme.

„Ich ... das ... das war aber nötig“, stammelte der Arzt. „Er hat eine Schwellung - da, sehen Sie?“ Er schlug die Bettdecke zurück und zeigte auf eine gerötete Schwellung an der rechten Seite von Sir Johns Oberbauch.

„Aber er hat schon so viel Blut verloren! Und er hat seit Tagen nichts mehr gegessen“, unterbrach Melly ihn leidenschaftlich. „Er ist viel zu geschwächt, um zur Ader gelassen zu werden. Ich glaube, es macht Ihnen einfach nur Spaß, ihn bluten zu lassen. Sie sind ein Schlächter!“

Grace versuchte, Ruhe in die Situation zu bringen. „Gibt es keine andere Möglichkeit, das zu behandeln?“ Sie zeigte auf die Schwellung. „Ohne ihn zur Ader zu lassen, meine ich?“ Doch der Arzt war vollkommen erzürnt wegen Mellys Vorwürfen. Beleidigt warf er seine Instrumente in die Arzttasche. „Ich gehe! Ich lasse mich hier nicht länger beleidigen!“

Melly sah ihn entsetzt an. „Aber was ist mit Papa? Sie können ihn doch nicht einfach so im Stich lassen!“

Der Arzt schnaubte leise. „Ich kann ohnehin nichts mehr für ihn tun. Er stirbt.“

Erschrockene Stille.

„Er stirbt?“, flüsterte Melly. Grace legte den Arm um sie. Der Arzt zeigte wieder auf Sir Johns Bauch. „Seine Leber ist stark angeschwollen. Ich vermute, es ist Leberkrebs. Entweder das oder die Schwindsucht. Wenn er anfängt Blut zu husten, wissen Sie, welche der beiden Krankheiten es ist. In jedem Fall kann hier niemand mehr etwa ausrichten.“

„Aber wir können doch nicht einfach nichts tun“, begehrte Grace auf.

Er zuckte die Achseln. „Geben Sie ihm Laudanum gegen die Schmerzen. In immer größerer Dosierung, wenn die Qualen schlimmer werden.“

„Wenn man absolut gar nichts mehr tun kann, warum haben Sie ihn dann zur Ader gelassen?“, fragte Dominic.

Der Arzt schien sich etwas unbehaglich zu fühlen.

„Es hat Ihnen tatsächlich Spaß gemacht, nicht wahr?“, warf Grace ihm vor.

„Ich gehe jetzt“, stammelte er.

„Ja, das tun Sie“, bestätigte Dominic. „Sie verlassen Wolfestone.“

Der Arzt warf ihm einen unsicheren Blick zu.

„Nicht nur das Schloss, sondern auch das Dorf. Ich glaube, Sie sind in Wirklichkeit gar kein Arzt. Ich werde hier keinen Mann dulden, dem es Spaß macht, meinen Leuten während einer Behandlung Unmengen Blut abzuzapfen.“

Vielleicht war Grace die Einzige, der dieses Wort aufgefallen war. Meine Leute.

Der Arzt riss erschrocken die Augen auf. „Das können Sie doch nicht machen!“

Dominic fixierte ihn kalt und gelassen. „Ich bin Lord D’Acre, und ich wünsche keinen Blutsauger auf meinen Ländereien, der meine Leute misshandelt. Sie haben zwei Wochen Zeit.“

„Wie können Sie es wagen ...“

„Eine Woche. Wenn Sie dann immer noch hier sind, schicke ich meine Männer zu Ihnen, damit sie Sie und Ihre charmante Frau fortschaffen!“ Er verstummte, und der Arzt starrte ihn schockiert an. „Und wenn Sie jetzt nicht weg sind, bis ich bis drei gezählt habe, werde ich meinem überwältigenden Bedürfnis nachgeben, Sie eigenhändig die Treppe hinunterzuwerfen. Eins, zwei ...“

Abdul tauchte hinter dem Arzt auf. „Überlassen Sie den Blutsauger bitte mir, Sir“, bat er gefährlich leise. „In meinem Land wissen wir, was man mit solchen Kreaturen zu tun hat.“ Er schenkte dem Arzt ein bösartiges Grinsen. „Es wird mir ein Vergnügen sein, Ihnen ...“

Der Arzt kreischte vor Angst auf und verließ blitzartig das Zimmer.

Abdul zwinkerte Grace zu. „Den wären wir los.“ Er drehte sich zu Melly um. „So, wer soll sich nun um Ihren Vater kümmern, Miss Pettifer?“, erkundigte er sich teilnahmsvoll. „Würden Sie irgendjemanden bevorzugen?“

Mellys ratlose Miene verriet, dass sie sich darüber noch gar keine Gedanken gemacht hatte.

Von der Tür her meldete sich zaghaft eines der Tickel-Mädchen zu Wort. „Granny Wigmore ist die beste Heilerin hier in der Gegend.“

Abdul nickte, ohne sich zu dem Mädchen umzudrehen. „Danke, Tansy. Was meinen Sie, Miss Pettifer? Soll ich diese Granny Wigmore holen lassen?“

Melly sah Grace fragend an.

„Sie kann auch nicht schlimmer sein als dieser Arzt“, stellte Grace fest. „Außerdem weiß sie über Heilkräuter besser Bescheid als jeder andere, den ich kenne. Dazu kommt, dass ich sie mag, Melly. Ihre Anwesenheit hier wird sehr tröstlich sein.“

Abdul verneigte sich. „Dann wird Tansy jetzt schnell wie der Wind diese Kräuter-Granny herbeiholen.“ Und das tat Tansy.

Granny Wigmore warf einen Blick auf Sir John und brummte: „Die Schwindsucht hat er gesagt, nicht wahr? Oder doch Krebs? Nun, kann sein, kann aber auch nicht sein.“

Sie hob Sir Johns Lid an und betrachtete sein Auge. „Für mich sieht er ziemlich leberkrank aus. “ Sie sah auf die Schwellung an seinem Bauch und rümpfte die Nase. „Ich wette, das ist die Ursache für das Problem. Es könnte ein Blutgeschwür sein, vielleicht auch etwas Schlimmeres. Wir müssen jetzt einfach abwarten. Ich werde einen Breiumschlag auflegen, dann sehen wir, ob etwas dabei herauskommt.“

„Was könnte denn herauskommen?“, fragte Melly nervös. Die alte Dame lächelte, wobei unzählige Fältchen auf ihrem Gesicht entstanden. „Was immer Ihren Papa plagt, junge Miss. Was immer ihn auch plagen mag, hoffe ich.“

Sir John schlug die Augen auf. „Dann fangen Sie endlich an, Weib“, murmelte er kraftlos.

Alle atmeten erleichtert auf. Sir John weilte wieder unter den Lebenden, vorerst wenigstens.

Unter Abduls Argusaugen tischte Mrs Stokes an diesem Abend und auch am nächsten ein womöglich noch exzellenteres Mahl auf als an den Abenden zuvor, aber Melly stocherte nach wie vor nur lustlos in ihrem Essen herum. Grace beobachtete sie besorgt. Das sah Melly so gar nicht ähnlich. Der Zustand ihres Vaters hatte sich während Grannys Behandlung nicht verschlechtert, und er nahm wenigstens Flüssiges zu sich.

Gegen Ende der Mahlzeit klopfte Enid, Mrs Stokes Nichte, an die Tür zum Speisesaal und trat mit sorgenvoller Miene ein. „Bitte entschuldigen Sie, Mylord, Herr Vikar, die Damen, aber ich komme gerade aus Sir Johns Zimmer, weil ich das Tablett mit seinem Abendessen abholen wollte ... “

Melly sprang auf. „Ist irgendetwas ...“

„O nein, Miss, es geht ihm genau wie immer. Er hat zwar nichts gegessen, aber Granny hat ihn den ganzen Tag Kräutertee trinken lassen, und den hat er auch bei sich behalten, das ist ein gutes Zeichen. Nur ... “ Sie zerknüllte nervös ihre Schürze. „Ich habe ein bisschen mit ihm geplaudert, ohne böse Absicht -ich meine, er ist sehr freundlich, und es lässt sich gut mit ihm plaudern. Aber ... “ Sie sah erst Abdul, dann Frey an. „Ich habe von Mr Abdul erzählt, und dann ist mir herausgerutscht, dass wir gerade auch einen Vikar im Haus haben. Und jetzt will er den Vikar sehen. Allein und auf der Stelle.“

Melly hielt erschrocken die Luft an, und Grace und Dominic tauschten verstohlene Blicke.

„Es tut mir leid, Miss“, fügte Enid hinzu. „Ich weiß, ich hätte das nicht sagen dürfen.“ Abdul entließ sie mit einer Handbewegung.

Grace setzte sich neben Melly und nahm ihre Hand. „Melly, es besteht kein Grund, gleich das Schlimmste zu befürchten.“ Melly fing an zu schluchzen.

Frey legte seine Serviette hin und erhob sich. „Miss Pettifer, es gibt keinen Anlass zur Besorgnis. Wir wissen ja noch gar nicht, was er überhaupt von mir will“, sagte er ruhig. „Ich gehe jetzt zu ihm nach oben und spreche mit ihm. Es war sehr nachlässig von mir, dass ich mich nicht sofort nach meiner Ankunft bei ihm vorgestellt habe. Sie bleiben jetzt hier sitzen und trinken eine schöne Tasse Tee. Ich werde Ihnen berichten, sobald Ihr Vater das Gespräch mit mir beendet hat.“

Zu Grace’ Erstaunen hörte Melly tapfer auf zu schluchzen und nickte. „Tee wäre jetzt gut“, brachte sie mühsam hervor.

Frey ging nach oben und stellte sich Sir John vor. Er war dem Mann nie zuvor begegnet, aber obwohl er erschrak, wie dünn und zerbrechlich der alte Herr aussah, so ermutigte ihn doch der wache Ausdruck seiner Augen.

„Kann ich Ihnen irgendetwas bringen lassen, Sir?“, fragte er. Sir John machte eine ablehnende Handbewegung und verzerrte vor Schmerz das Gesicht. „Holen Sie sich einen Stuhl, mein Junge, von dem grässlichen Zeug nehme ich später etwas.“ Er zeigte auf die kleine Flasche Laudanum neben sich auf dem Nachttisch. „Das macht mich immer ganz durcheinander, also warte ich damit, bis ich gesagt habe, was ich zu sagen habe.“

Frey setzte sich zu ihm, verschränkte die Hände und wartete ab.

Sir John musterte ihn prüfend. „Netterton, ja? Ich kannte mal einen Humphrey Netterton, als ich noch jung war. Ihr Vater?“

Frey nickte. „Ja, Sir. Man hat mich nach ihm benannt.“ „Netter Kerl, Ihr Vater. Tat mir leid zu hören, wie er gestorben ist.“ Sir John schnaubte leise. „Zu jener Zeit war ich allerdings eher bekannt mit Ihrem Onkel Cedric.“ Er schüttelte den Kopf. „Konnte es einfach nicht glauben, als er ausgerechnet Pfaffe wurde. Doch nicht Ceddie Netterton!“

„Er ist inzwischen Bischof, Sir.“

„Großer Gott! Was ist nur aus dieser Welt geworden?“ Er grinste Frey an. „Ist er schrecklich aufgeblasen?“

„Ganz schrecklich.“ Frey grinste zurück.

„Immer noch so ein knauseriger Geizkragen?“

„O ja, das ist er, Sir.“ Frey fing an, diesen alten Gentleman ausgesprochen gern zu mögen.

„Nun ja, dann hat er sich ja wohl nicht allzu sehr verändert. Ich allerdings auch nicht, leider. Ich kann das Geld nicht Zusammenhalten, er kann es nicht ausgeben. So, und nun zu dieser Sache mit meiner Tochter.“

„Sir?“

„Ich möchte, dass Sie am Sonntag das Aufgebot verkünden. Für sie und DAcre. Es ist alles arrangiert.“

Frey runzelte die Stirn. Er zögerte, aber er konnte dazu einfach nicht schweigen. „Sir, bitte verzeihen Sie, falls sich das unverschämt anhört, aber ...“

Sir John winkte mit einer dünnen Hand ab. „Sie wollen mir sagen, dass Melly DAcre nicht liebt und er sie auch nicht? Das weiß ich doch alles.“ Frey wollte etwas erwidern, aber wieder fiel Sir John ihm ins Wort. „Sie werden sagen, dass es ungerecht meinem Mädchen gegenüber ist, sie schon als Kind einem Mann versprochen zu haben, den sie nicht kennt, und dass sie sich ihren Ehemann selbst aussuchen sollte.“

„Nun ... ja, Sir.“

„Dann sagen Sie es nicht. Ich weiß das alles, aber ich habe meine Gründe.“ Er sah Frey aufrichtig an. „Ich bin fertig, mein Junge. Pleite. Ich besitze keinen Schilling mehr und bin bis über beide Ohren verschuldet. Wenn ich Melly die Folgen meiner Dummheit ersparen will, muss ich sie verheiraten. Ich würde die Sache lieber nicht erzwingen, aber wenn ich muss ...“

„Ich verstehe.“ Frey verstand sogar nur zu gut. Armut war eine böse Falle, und er konnte es Sir John nicht verübeln, dass er Melly davon fernhalten wollte. Trotzdem hatte Frey das Gefühl, noch einen Versuch unternehmen zu müssen. „Ist Ihnen bewusst, dass Lord D’Acre nicht vorhat, eine normale Ehe zu führen? Er gab mir zu verstehen, es würde sich um eine reine Zweckehe handeln, die nie vollzogen werden wird. “

Der alte Mann zuckte die Achseln. „Das hat er mir gegenüber auch geäußert. Er wird schon noch Vernunft annehmen. Und wenn nicht ...“ Er verstummte. „Können Sie sich meine Melly vorstellen, wie sie sich mühsam ihren Lebensunterhalt als Gouvernante verdient? Oder sich gegen die lüsternen Söhne der feineren Gesellschaft zur Wehr setzen muss?“

Frey war entsetzt. „Nein, Sir.“

„Daher - auch wenn es nur eine reine Zweckehe ist, es hätte schlimmer kommen können. DAcre ist jung, sieht blendend aus und hat ein gutes Herz. Selbst wenn er sie nicht liebt, so wird er mein Mädchen doch nicht schlecht behandeln.“

Frey seufzte. „Ja, ich weiß.“

Sir John betrachtete ihn prüfend. „Woher wissen Sie das?“ „Ich bin mit ihm zur Schule gegangen. Wir sind Freunde.“ „Aha, dann glauben Sie also auch, dass sie bei ihm in Sicherheit sein wird?“

„Ja“, gab Frey widerstrebend zu. „In Sicherheit, ja, aber nicht glücklich.“

Sir John winkte mit einer ungeduldigen Handbewegung ab. „Von meiner Warte her betrachtet, mein Sohn, ist Glück purer Luxus.“

„Ja, Sir“, stimmte Frey bitter zu. Von seiner Warte her ebenfalls.

Sir John warf ihm einen harten Blick zu, sagte aber nur:

„Also werden Sie am Sonntag das Aufgebot verkünden.“ „Wenn Lord DAcre einverstanden ist...“

„Das wird er sein. Verkünden Sie das Aufgebot.“

„Jawohl, Sir John.“

Frey kehrte in den Speisesaal zurück. Er sah erst Dominic an, dann Melly, schließlich fuhr er sich mit dem Finger in den Kragen, als sei er ihm plötzlich zu eng. „Er möchte, dass ich Miss Pettifer so bald wie möglich mit Lord DAcre traue, und dazu soll ich das Aufgebot verkünden.“

„Wie bitte?“, ertönte es aus drei Kehlen gleichzeitig.

Frey fuhr fort. „Er hat bereits an den Pfarrer bei Ihnen zu Hause geschrieben, Miss Pettifer, und ihn angewiesen, das Aufgebot auch in Ihrer Heimatgemeinde zu verlesen. Ich habe den Brief hier, von mir als Zeugen gegengezeichnet. Ich soll ihn schnellstmöglich absenden. “

Melly brach in Tränen aus und rannte aus dem Saal. Grace folgte ihr.

Dominic fluchte und trat ans Fenster. Blicklos starrte er in die Nacht hinaus.

„Er sieht furchtbar aus, Dom“, sagte Frey. „Ich glaube, er liegt im Sterben, und er weiß es. Er versucht nur, die Zukunft seines einzigen Kindes abzusichern. Das kannst du ihm nicht zum Vorwurf machen. Ihre Lage ist so ...“

Dominic warf ihm einen undurchsichtigen Blick zu. „Ich kenne ihre Lage, verdammt!“

Die beiden Männer standen nebeneinander am Fenster und sahen hinaus. „Er will, dass ich am Sonntag mit dem Verkünden des Aufgebots anfange.“

Dominic fluchte erneut. „Verdammt, ich würde sie mit einem Haus und einem eigenen Einkommen absichern. Aber der sture alte Narr hört mir einfach nicht zu, und sie versucht gar nicht erst, ihn umzustimmen. Er glaubt, sie könnte nicht selbst auf sich aufpassen.“

„Nun ja, sie ist noch sehr jung und behütet ...“

„Komm mir nicht damit. Meine Mutter war auch jung und behütet. Sie musste nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf ein Baby aufpassen, noch dazu in einem fremden Land!“ „Und sieh nur, was das für ein Ende genommen hat. Doch Melly weiß ebenfalls, dass er im Sterben liegt, Dom, das sieht man ihren Augen an. Sie fügt sich, um ihrem Vater Seelenfrieden zu schenken.“

Dominic warf ihm einen harten Blick zu, danach nahm er sein rastloses Umherwandern wieder auf. „Verdammt, sie kann doch unmöglich sich selbst und ihr zukünftiges Glück -und mich! - nur für den Seelenfrieden ihres Vaters opfern!“

„Sie ist eben von nobler Gesinnung.“

Dominic schnaubte verächtlich.

„Was sollen wir also machen?“

Dominic ging mit finsterer Miene vor ihm hin und her. „Um Himmels willen, ich habe ihm gesagt, das Mädchen würde gut versorgt werden - worüber kann er sich da noch beklagen?“ „Es ist ja gut und schön, von Absicherung zu sprechen, Dom. Aber Miss Pettifer wäre dennoch die Zielscheibe vieler höhnischer und gehässiger Bemerkungen.“

„Wie bitte?“ Dominic runzelte die Stirn.

„Man wird verbreiten, dass du nur einen Blick auf sie geworfen und sofort eine ordentliche Summe Geld gezahlt hast, nur um nicht die Ehe mit ihr vollziehen zu müssen.“

„Was für ein Unsinn! Ich meine, das Mädchen ist unscheinbar, aber so schlimm ...“

„Unscheinbar! Bist du denn blind? Wie kannst du eine so cremeweiße Haut, so große, dunkle Augen unscheinbar nennen? Und diese süße, bezaubernde Art wie ..." Frey verstummte.

Dominic betrachtete ihn und zog die Brauen hoch. „Ich verstehe“, meinte er gedehnt. „Du hast recht, sie ist nicht unscheinbar.“

„Nein“, brummte Frey, „das ist sie nicht. Und er versucht nur, für seine Tochter vorzusorgen. “

„Indem er sie zu einer lieblosen, kinderlosen Ehe verurteilt!“

Frey ballte die Fäuste und sah wieder in die Nacht hinaus. Für manche Probleme gab es einfach keine Lösungen. Oder eher - manchmal war Geld die einzige Lösung.

Lange Zeit schwiegen beide.

„Ich verstehe, warum du nicht glücklich über diese Heirat bist. Aber was sollen wir tun, Dom?“, fragte Frey nach einer

Weile. „Ihr Vater ist unnachgiebig. Ich muss am Sonntag zum ersten Mal das Aufgebot verkünden.“

„Dann habe ich bis dahin noch Zeit, um diese Sache abzuwenden“, gab Dominic seufzend zurück. „Und wenn mir das nicht gelingt, dann verkünde das Aufgebot. Und danach - zur Hölle mit uns allen! “ Wie nach einem makabren Trinkspruch leerten er und Frey ihre Gläser.

„Ich dachte, du wolltest mit deinem Vater sprechen“, sagte Grace in die Dunkelheit hinein.

„Das habe ich auch“, erwiderte Melly nach einer Weile. „Ich habe es versucht, Grace, wirklich.“ Grace hörte sie am anderen Ende des Zimmers seufzen. „Gerade eben erst habe ich wieder mit ihm geredet, aber er will mir einfach nicht zuhören.“ Sie schluchzte auf. „Es tut mir leid, Grace, es tut mir so leid.“ Gedämpftes Schluchzen erklang in der Dunkelheit.

Grace umarmte ihr Kopfkissen und biss sich auf die Unterlippe.

Das Aufgebot sollte am Sonntag verkündet werden. Am Sonntag würde alle Welt erfahren, das Melly Pettifer und Dominic Wolfe heiraten wollten.

Es stand nun allein in Mellys Macht, die Meinung ihres Vaters ändern. Aber sie war wie gelähmt vor Angst und schaffte es nicht einmal, es wenigstens zu versuchen. Melly konnte nicht über ihre Ängste hinausdenken.

Grace konnte es, doch das tröstete sie nicht im Geringsten. Sie lag im Bett, und die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf. Die bösartigen Worte ihres Großvaters hallten in ihr wider. „ Du bist Schuld am Tod deiner Mutter. Und genau deshalb wirst du irgendwann allein und ungeliebt sterben ... “

Sie zog sich das Kissen über den Kopf, um die Stimme zu ersticken. Eigentlich spielte es keine Rolle. Sie war geliebt worden, wenn auch nur für einen flüchtigen Augenblick. Er hatte kein Wort darüber verloren, hatte ihr keine Liebeserklärung gemacht, aber sie hatte Lust und Leidenschaft in Dominics Armen gefunden.

Manche Menschen fanden so etwas ihr ganzes Leben lang nicht.

Sie hingegen schon. Was war schon dabei, wenn ihr das alles wieder genommen wurde? Sie hatte immer noch ihre Pläne, auf die sie zurückgreifen konnte. Sie würde den Mond über den Pyramiden aufgehen sehen.

Doch der Mond war weit weg und kalt, nicht warm und golden wie Dominics Augen. Und die Pyramiden waren aus Stein, nicht aus warmem Fleisch und Blut.

Er hatte ihr im Grunde nie gesagt, dass er sie liebte.

Die ersten Tränen sickerten in Grace’ Kopfkissen. Sie wischte sie fort und hieb mit der Faust auf das Kissen. Sie würde nicht weinen. Nein! Sie würde planen, nachdenken und es wenigstens versuchen.

Im Zimmer über der Eingangshalle warf sich ein gebrechlicher, alter Mann im Bett herum, gequält von Schmerzen und Angst. Angst davor einzuschlafen und im Schlaf zu sterben, noch bevor die Zukunft seiner Tochter abgesichert war.