„Sehen Sie mich genau an, Sir John. Ich habe mir die Haare gefärbt und mir Sommersprossen aufgemalt.“ Grace versuchte, nicht auf die große Beule an seinem Bauch zu starren. Aber bestimmt war es nur Grannys Breiwickel, die die Beule so riesig wirken ließ.

Langsam dämmerte es ihm, dass sie die Wahrheit sagte. „Ja, jetzt erkenne ich Sie wieder. Sie haben uns hinters Licht geführt? Aber warum?“ Er sah sie schockiert und verwirrt an, und einen Moment lang hatte Grace ein schlechtes Gewissen, weil sie den alten, schwer kranken Mann so aufregte. Doch dann gab sie sich einen Ruck. Es musste sein.

„Melly wusste die ganze Zeit Bescheid.“ Sie holte tief Luft. „Ehrlich gesagt hat Melly mich sogar darum gebeten, es zu tun.“

„Aber warum?“

„Sie ist todunglücklich, Sir John. Sie will nicht heiraten, und Dominic Wolfe ebenfalls nicht. Das wissen Sie.“

„Die beiden wissen doch gar nicht, was gut für „Sie wissen aber ganz genau, was sie wollen und was nicht! Melly, zum Beispiel. Sie würde es wahrscheinlich abstreiten, aber meiner Meinung nach empfindet sie inzwischen eine große Zuneigung für Frey - Mr Netterton, meine ich.“

„Ich mag den Jungen ja selber“, bemerkte Sir John. „Aber er ist nun mal arm wie eine Kirchenmaus. Dazu unterstützt er noch seine verwitwete Mutter und seine Schwestern finanziell. Ich werde meine Melly nicht zu einem Leben in Armut verurteilen, indem ich sie Frey Netterton heiraten lasse.“

„Er wird nicht immer arm sein. Er ist der Erbe seines Onkels, und sein Onkel ist sehr ..."

Sir John winkte ab. „Langlebige Familie, diese Nettertons. Ceddie wird bestimmt hundert Jahre alt, möchte ich wetten. Er trinkt nicht, raucht nicht und spielt nicht.“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Wenn man bedenkt, wie wild er in unserer Jugendzeit war ... inzwischen ist er todlangweilig geworden.“ Er merkte, er war vom Thema abgekommen. Er sah Grace trotzig an. „Jedenfalls soll Melly nicht ein armseliges Leben im Pfarrhaus führen, wenn sie Schlossherrin werden und ein Leben im Luxus führen kann. “

„Auch nicht, wenn sie das armselige Leben im Pfarrhaus glücklicher macht?“

„Papperlapapp. Die Ehe ist keine Garantie für Glück. Geld hingegen sorgt für Sicherheit und Behaglichkeit.“

„Garantiert ist nur, dass Sie sie ins Unglück stürzen, wenn Sie sie mit einem Mann verheiraten, der sie gar nicht will.“ „Lord D Acre mag sie jetzt noch nicht wollen, aber ...“

„Er liebt mich. Mich.“ Das ließ sie erst einmal wirken. „Und ich liebe ihn.“

Er sah sie scharf an. „Er hat jedoch eingewilligt, meine Melly zu heiraten. “

"warum?“

„Weil er nur so sein Zuhause wiederbekommt“, erklärte sie stolz. „Es geht ihm um den Ort, an dem seine Familie sechshundert Jahre lang gelebt hat.“

„Das ist ihm doch völlig gleich...“

„O nein, es ist ihm ganz und gar nicht gleichgültig, glauben Sie mir. Er lässt es sich nur nicht so anmerken. “ Sie überlegte, wie sie am besten zu dem alten Mann Vordringen konnte. „Er gehört hierher. Er ist erst jetzt dahintergekommen, aber er braucht es, ein Teil von Wolfestone zu sein, genau wie seine Leute hier ihn brauchen ... Und deshalb gehe ich von hier fort. “

„Gut.“

Grace war sprachlos. „Ich dachte, Sie lieben Melly.“

„Das tue ich auch, und darum will ich nur ihr Bestes, selbst wenn sie nicht weiß, was das ist. Noch nicht.“ Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Diskussion beendet.

„Dann sage ich Ihnen jetzt Lebwohl“, meinte Grace verbittert. „Ich kann nicht behaupten, dass ich keinen Groll gegen Sie hege, Sir John, dennoch werde ich für Ihre Genesung beten. Eins aber müssen Sie wissen - Sie machen einen Fehler, diese Verbindung erzwingen zu wollen, einen weitaus größeren Fehler als Ihnen jemals bewusst sein wird.“

Wieder und wieder in jener Nacht

Umfing ich sie und küsste sie,

Bis das Banner der Morgenröte

Uns zum Aufbruch rief

Und der endlose Kreis unserer Umarmungen

Durchbrochen war.

O schicksalsschwere Nacht!

Lass die Stunde der Trennung nicht nahen!

Mit bebenden Händen klappte Grace den kleinen, in Leder gebundenen Gedichtband zu. Dieses Gedicht, „Liebesnacht“, von dem andalusischen Dichter Ibn Safr al-Marini, liebte sie am meisten. Es war so wunderschön und so traurig.

Sie saß mit untergeschlagenen Beinen in dem großen Sessel in der Bibliothek. Das Abendessen war längst vorbei, es war ihre letzte Nacht in Wolfestone. Sie hatte alles für ihre Abreise bei Tagesanbruch vorbereitet. Dominic hatte sie nichts davon gesagt. Sie wusste, er würde das nicht so einfach hinnehmen, und das konnte sie nicht ertragen. Alle anderen wussten jedoch Bescheid, sie hatte sich bereits von ihnen verabschiedet.

Melly, außer sich vor Kummer und Schuldgefühlen, hatte eine Ausrede benutzt und war nach oben zu ihrem Vater gegangen. Grace war klar, dass es eine Ausrede war, da Mellys Vater um diese Zeit immer schon schlief. Also hatte Grace sich in die Bibliothek zurückgezogen und Trost in ihrem geliebten Buch mit den mittelalterlichen Gedichten gesucht.

Lass die Stunde der Trennung nicht nahen! wiederholte Grace in Gedanken. Doch es war bereits zu spät. Der Kreis ihrer Umarmungen war längst durchbrochen. Dominic heiratete Melly. Schon sehr bald würde das Aufgebot zum zweiten Mal verkündet werden.

Sie konnte es nicht ertragen, das alles mit anzusehen. Dafür war sie nicht edelmütig genug.

Sie sah sich im Zimmer um. Durch harte Arbeit war Vernachlässigung in Schönheit verwandelt worden. Grace schloss die Augen. Sie liebte diesen Ort. Sie liebte Dominic. Wie sollte sie es nur durchstehen, von hier fortzugehen?

Sie spürte seine Anwesenheit noch ehe sie ihn sah. Sie hob den Kopf. Dominic war lautlos eingetreten und beobachtete sie mit ernster Miene.

„Ich weiß nicht, ob deine Augen schöner sind, wenn sie schimmern wie die Sonne auf dem Meer, oder wenn sie aussehen wie Glockenblumen im Morgentau.“ Während er gesprochen hatte, war er auf sie zugegangen, und nun stand er unmittelbar vor ihr.

Sie konnte sich nicht bewegen, ihre Beine fühlten sich an, als wären sie aus Blei. „Wie lange bist du schon hier?“

Anstatt zu antworten, beugte er sich zu ihr und küsste sie auf den Mund. Sie schmeckte Leidenschaft, Zärtlichkeit und Verzweiflung.

Grace schloss die Augen und erwiderte seinen Kuss von ganzem Herzen. Der letzte Kuss. Als Dominic sie schließlich für einen Moment freigab, stemmte sie die Hände gegen seine Schultern. „Damit muss jetzt Schluss sein.“

„Warum?“

„Weil ich es im Moment nicht aushalten kann. Ich will jetzt nicht darüber reden - sag mir einfach nur, warum du hier bist.“

„Komm mit mir nach oben und leg dich zu mir. Wir können dort reden.“

„Das will ich nicht. Hier sind zu viele Leute. Man könnte uns erwischen, und dann wäre ich ruiniert.“

Seufzend richtete er sich auf und drehte sich um. Einen Augenblick lang dachte sie, er würde den Raum verlassen, und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie wollte nicht, dass er so von ihr ging.

Aber er schloss nur die Tür ab. Als er zu ihr zurückkam, hob er sie aus dem Sessel, so mühelos, als wäre sie ein Kind. Sie nahm all ihre Kraft zusammen. „Ich sagte nein, Dominic.“ Es hörte sich eher kläglich an.

Mit unschuldsvoller Miene setzte er sich mit ihr aufs Sofa, nur dass Sitzen wohl nicht ganz die treffende Bezeichnung für diese Haltung war. Er lehnte sich zurück gegen die Armlehne des Sofas, und Grace lag halb über ihm. Sie machte einen halbherzigen Versuch sich aufzusetzen, aber er hielt sie fest, dort, wo sie war. Und um die Wahrheit zu sagen, sie fühlte sich wie im Himmel in seinen Armen. Im Himmel und gleichzeitig in der Hölle. Er heiratet Melly, rief sie sich in Erinnerung. Wie immer versetzte der Gedanke ihr einen Stich mitten ins Herz.

„Und ich kann es nicht ertragen, dich so traurig zu sehen“, sagte er.

„Und ich ertrage diese ganze Situation nicht.“

Er küsste sie. „Ich weiß. Aber die einzige einfache Lösung wäre, Sir John und Melly zu erschießen. Was ich natürlich sofort tun würde. Nur müsste ich dann auch Frey umbringen, was schon weitaus schwieriger wäre - du weißt ja, er ist mein ältester Freund und selbst ein teuflisch guter Schütze. Es könnte also riskant werden. Und dann sind da noch all die möglichen Zeugen, die ich natürlich auch erschießen müsste. Aber danach hätte ich mich dieser vielen Leichen zu entledigen, und ich hasse es, Gräber zu graben.“

Gegen ihren Willen musste sie lachen.

„Du lachst, aber ich hasse es wirklich“, bekräftigte er. „Du wirst jetzt sicher denken, dass ich schließlich der Schlossherr bin und jederzeit ein paar Kleinbauern damit beauftragen könnte. Was du jedoch nicht bedenkst, ist, dass ich die Kleinbauern hinterher ebenfalls töten müsste, um meine schrecklichen Verbrechen zu vertuschen. Und dann wäre niemand mehr da, um sie zu vergraben. Außer mir.“ Er verzog das Gesicht. „Und das wäre ganz schrecklich. Ich liebe dich, Miss Merridew, und ich würde sogar für dich töten - aber graben? Lieber nicht!“

Inzwischen lachte Grace herzlich. Und weinte zur gleichen Zeit. „Du bist albern. Wie kannst du in einer solchen Situation nur so “

Er küsste sie. Sie erwiderte seinen Kuss mit all der Liebe, der Sehnsucht und der seelischen Qual, die sie in ihrem Herzen empfand. Danach löste sie sich aus seinen Armen, stand auf und schloss die Tür auf.

Dort blieb sie noch einmal stehen. „Gute ... gute Nacht.“ Ehe er reagieren konnte, ging sie hinaus und lehnte sich einen Moment gegen die geschlossene Tür. „Lebwohl, mein Liebster“, flüsterte sie und hastete die Treppe hinauf in ihr Zimmer.

Sie musste fort von ihm. Wenn er sie so ansah, mit all dieser Sehnsucht und Verzweiflung in seinem Blick, wurde sie nur schwach. Und wenn er sie nur ein weiteres Mal küsste, was allein eine Frage der Zeit war, würde sie rettungslos verloren sein.

Jetzt verstand sie, wie er es gemeint hatte mit seiner Bitte, sie möge seine Geliebte werden. Es war keine Beleidigung gewesen, keine Herabwürdigung - nein, so hatte er es sich nicht gedacht. Er hatte ihr sein Herz angeboten.

Doch das war Grace nicht genug. Kinder, die Gesellschaft ihrer Freunde und Familie - war sie bereit, das alles für ihn aufzugeben? Nein. Sie würde es höchstens vielleicht in Betracht ziehen, wenn es gar keine andere Möglichkeit gab.

Die Hochzeit mit Melly konnte immer noch verhindert werden. Er würde sie auch mit Sicherheit verhindern, wenn er tief im Herzen nicht weiterhin glauben würde, dass Liebe und Ehe unvereinbar waren.

Aber das glaubte er nun einmal, und sie hatte keine Ahnung, wie sie ihm beweisen konnte, dass er sich irrte. Also musste sie fortgehen.

Ägypten und die Pyramiden riefen. Ihr ältester und zuverlässigster Traum.

Grace wurde wie jeden Morgen von dem Vogelgezwitscher in der frühen Morgendämmerung geweckt. Einen Moment lang blieb sie liegen, um es zu genießen. Die Vögel schienen hier süßer als anderswo zu zwitschern, fand sie. Sie schlüpfte aus dem Bett und zog sich so schnell und leise wie möglich an. Im fahlen Dämmerlicht konnte sie Mellys Umrisse auf deren Bett ausmachen. Grace war sich nicht ganz sicher, ob sie schlief oder nicht, nahm aber eher an, dass sie wach war. Da Melly aber nichts sagte, schwieg Grace ebenfalls.

Plötzlich überkam sie eine tiefe Traurigkeit. Zwischen ihnen beiden hatte sich mittlerweile eine solche Kluft aufgetan. Vielleicht war sie ja eines Tages imstande, das alles zu verstehen, aber im Moment noch nicht. Dazu war sie viel zu zornig und zu unglücklich.

Sie hatte sich schon am vergangenen Abend von Melly verabschiedet, als sie zu Bett gegangen waren. Sie hatten beide geweint - um ihre Freundschaft und um alles andere.

Grace wollte nach London fahren zu ihrer Schwester Prudence. Sie liebte alle ihre Schwestern, aber jetzt brauchte sie am meisten Prudence, die Älteste. Fast ihr ganzes Leben lang war Prudence wie eine Mutter für sie gewesen. Inzwischen teilte sie sich diese Rolle mit Tante Gussie, aber immer wenn Grace Liebeskummer hatte oder krank, wütend und traurig war, wandte sie sich an Prudence. Und jetzt hatte Grace Liebeskummer und war wütend und traurig, deshalb brauchte sie dringend den Trost ihrer großen Schwester.

Ihr Koffer befand sich bereits unten. Sie packte ihr Nachthemd und ein paar letzte Kleinigkeiten in eine Tasche. Mit Abdul hatte sie verabredet, sich eine der Kutschen auszuleihen, mit denen er gekommen war, dazu einen Kutscher und einen Stallburschen. Sie hatte ihn dafür bezahlen wollen, aber er hatte nur stolz abgewinkt.

Von den meisten hatte sie sich ja schon am Vorabend verabschiedet, weil sie sich am liebsten still davonstehlen und ... niemanden sehen wollte.

Auf Dominic war sie wütend, obwohl ihr klar war, dass es für ihn keinen anderen ehrbaren Ausweg gab. Er saß ebenfalls in der Falle.

Grace hasste es, was diese Situation aus ihr machte - eine Furie. Sie war ja sogar auf Sir John wütend, und das war nun wirklich ungerecht. Der arme Mann sah dem Tod bereits ins Antlitz - und wollte nur verzweifelt die Zukunft seiner Tochter absichern.

Sie wünschte, sie wäre niemals hierhergekommen. Es war so viel einfacher, von der Liebe zu träumen, als sich in ihren Schlingen zu verfangen. Die Liebe war die reinste Folter. Warum hatte ihr das niemand vorher gesagt?

Sie schloss die Tür hinter sich und schlich auf Zehenspitzen die Treppe hinunter, törichterweise immer genau in die Mulden tretend, die seine Vorfahren auf den Stufen hinterlassen hatten. Folter.

Zu ihrer Überraschung war Mrs Stokes bereits auf und hielt Grace’ Lieblingsfrühstück für sie bereit - eine Scheibe Speck und ein pochiertes Ei auf Toast, gefolgt von Kaffee und einem Toast mit Honig. „Dachten Sie etwa, Enid und ich würden Sie ohne ein gutes Frühstück auf diese lange Reise gehen lassen? So, und nun essen Sie, solange es noch heiß ist, Miss.“

Grace starrte den Honigtopf an, und die Erinnerungen stürmten auf sie ein. Folter. „Haben Sie vielleicht etwas anderes für mich? Heute ist mir irgendwie nicht nach Honig“, sagte sie zu Mrs Stokes. Heute nicht. Wahrscheinlich nie wieder.

„Es gibt auch Blaubeermarmelade, wenn Sie möchten, Miss, eine Spezialität von hier. Billy Finn hat die Blaubeeren gerade erst gestern in den Hügeln gesammelt, und die Marmelade daraus habe ich selbst gemacht“, berichtete Mrs Stokes. „Blaubeeren helfen gut, wenn Sie irgendetwas plagt.“

„Ja, gern, Mrs Stokes, vielen Dank“, brachte Grace mühsam hervor, obwohl kein Obst der Welt gegen den Schmerz helfen würde, der sie plagte.

Nach dem Frühstück nahm sie ein paar Äpfel und Möhren und ging zu den Stallungen, um sich von den Pferden zu verabschieden, die sie so lieb gewonnen hatte. Auf dem Hof spannten die Stallburschen gerade die Kutschpferde ein. Grace eilte ins Innere des Stalls.

Die Stuten warteten schon wie jeden Morgen auf sie. Sie reckten die Hälse über ihre Boxentüren und wieherten leise. Zuerst verabschiedete sie sich von dem Fohlen, aber das beachtete sie gar nicht, weil es gierig bei seiner Mutter trank. Sein kleines Schwänzchen wedelte aufgeregt hin und her. Grace lachte und gab seiner Mutter und deren Schwester in der Nachbarbox jeweils einen Apfel.

Dominics Pferd bekam eine Möhre. „Pass gut auf ihn auf, Hex.“ Er nahm die Möhre, aber als Grace ihn streicheln wollte, legte er erschrocken die Ohren nach hinten. „Ihr passt gut zueinander - beide groß, schön, edel und dickköpfig.“

Sie hörte, wie die Kutsche zum Vordereingang des Schlosses rollte und verabschiedete sich hastig von der zierlichen silbergrauen Stute, die sie inzwischen fast als ihr Eigentum betrachtete. „Lebwohl, Silberfee, mein Liebling. Ich werde unsere morgendlichen Ausritte vermissen.“ Silberfee nahm ihr behutsam den Apfel ab und kaute ihn genüsslich, während Grace ihr die samtigen Nüstern streichelte und sie zum Abschied umarmte.

Mit schwerem Herzen ging sie davon. Wie einfach wäre es gewesen, ihre Meinung zu ändern, Silberfee zu satteln und wie gewohnt auszureiten ... nur ... Folter.

Abdul wartete in der Halle auf sie. „Sie erweisen mir eine große Ehre, Abdul“, sagte sie.

Er lächelte schief. „Vielleicht, Sitt. Ich bin aber auch gekommen, um mit Ihnen zu schimpfen.“

„Mit mir schimpfen?“

„Sie laufen weg, dabei müssen Sie bleiben und kämpfen.“ „Es gibt nichts, was ich tun könnte.“

Er hob verzweifelt die Hände. „Ich kann nicht verstehen, wie die Engländer es geschafft haben, den größten Teil der Welt zu beherrschen. Sie, er und dieses andere Mädchen - Sie alle sagen: ,Ich kann nichts tun. Auf die Art werden Sie alle drei unglücklich werden. Pah! Bringen Sie den alten Mann um, und alles ist gut. “

Er konnte das nicht ernst gemeint haben. Grace lächelte, schüttelte den Kopf und wollte an Abdul Vorbeigehen, doch er hielt sie am Arm fest.

„Sitt, ich kenne Dominic Wolfe seit zehn Jahren, seit er zum Mann herangewachsen ist, und ich sage Ihnen, noch nie hat er eine Frau so angesehen, wie er Sie ansieht. Er hat immer Frauen umgarnt, die er nicht haben konnte - Frauen mit alten oder abwesenden Ehemännern, Frauen, die nie mehr von ihm wollten, als er zu geben bereit war.“ Er schüttelte sie leicht. „Noch nie hat er sich nach einer Jungfrau verzehrt.“

Sie errötete wegen seiner Direktheit, außerdem war sie keine Jungfrau mehr. Sie entzog ihm ihren Arm. „Sie reden mit der falschen Person, Abdul.“

Wieder hob er die Hände. „Pah - er ist stur wie ein Maultier! Aber hinter dieser Fassade, junge Sitt, ist er ... wie sagt man das?“ Er bewegte die Hände im Kreis umeinander herum. „Durcheinander?“

„Ja, völlig durcheinander. Nicht nur, dass er sich für eine Jungfrau interessiert. Er hat sich im Leben immer nur um sich selbst gekümmert - außer damals, als er mich gekauft hat, weil er meine Männlichkeit retten wollte. Gott und Dominic Wolfe seien bedankt. Ich sollte zum Eunuchen gemacht werden. Sie wissen, was das ist?“

Sie nickte und wurde flammend rot.

„Jedes Mal, wenn ich zwischen den Schenkeln einer Frau liege, frohlocke ich über Dominic Wolfes Mitgefühl - und da ich ein gesunder Mann bin, frohlocke ich ziemlich oft! Aber er ... er ist von dunklen Schatten umgeben. Von zu vielen, und ich sage mir immer, Abdul, hier liegt deine Aufgabe. Aber er ist wie ein Blatt, das fliegt.“ Mit den Händen ahmte er ein Blatt nach, das ziellos im Wind trieb. Dann begannen seine schwarzen Augen zu funkeln. „Aber jetzt auf einmal, hier an diesem Ort, an dem er angeblich nicht sein will, interessiert er sich plötzlich für diesen Jungen, diesen alten Mann, diese Frau und ihre Familie, den Bauern mit dem undichten Dach und so weiter und so fort. Er lässt mich stundenlang arbeiten, um den Besitz wieder aufzubauen - dabei hatte er sich geschworen, ihn endgültig zu zerstören.“

„Das freut mich.“ Sie bückte sich, um ihr Gepäck aufzuheben.

Er riss es ihr aus den Händen. „Pah! Fragen Sie sich einmal selbst, was der Grund für diese Veränderung ist, Sittl“

Sie schüttelte den Kopf und gab sich bewusst begriffsstutzig.

Er schnaubte. „Sie, nur Sie allein! Sie rühren an etwas in ihm, Sie wecken eine Seite an ihm, die ich noch nie gesehen habe. Und deshalb müssen Sie bleiben und kämpfen. Kämpfen um Ihr Glück, um seinen Besitz und um das Herz und das Glück von Dominic Wolfe! “

Sie sah ihn lange Zeit schweigend an. „Ich habe Dominic Wolfe bereits mein Herz geschenkt“, sagte sie ruhig. „Es hat nichts geändert. Und jetzt muss ich gehen, bitte.“ „Selbstverständlich, Sitt“, sagte er höflich, als hätte ihr Gespräch niemals stattgefunden, und trug ihr Gepäck hinaus.

Grace sah hinauf zu dem Wasserspeier. „Lebwohl“, flüsterte sie ihm zu. „Pass auf ihn und die Menschen hier auf. Schenke ihm die Einsicht, wie sehr er hier hingehört.“ Tränen brannten in ihren Augen. „Mach ihn glücklich.“

Sie eilte nach draußen und blieb wie angewurzelt stehen. Alle Bediensteten hatten sich an den Stufen zum Eingang versammelt, um sich von ihr zu verabschieden, dabei war der Tag noch nicht einmal richtig angebrochen.

Mrs Stokes und Enid traten vor und reichten ihr einen Korb. Mrs Stokes Gesicht war rot und verquollen, Enid weinte ungeniert. „Nur ein paar Sachen, falls Sie unterwegs hungrig werden, Miss.“

Die drei Tickel-Mädchen schenkten ihr einen Beutel mit Äpfeln und noch ein paar Zitronen von ihrer Mutter. Denn die Zitronen haben wirklich gut gegen Ihre Sommersprossen geholfen, Miss.“ Sie brachen in Tränen aus.

Billy Finn, der eine Uniform von leicht orientalisch anmutendem Aussehen trug, hielt ihr einen selbst gepflückten Wildblumenstrauß hin. „Da ist auch Rosmarin dabei, Miss, damit Sie nicht vergessen, zu uns zurückzukommen.“

Grace dankte ihm und umarmte ihn. „Ich werde dich vermissen, Billy“, flüsterte sie.

Alle stellten sich in einer Reihe auf, schüttelten ihr die Hand, überreichten ihr kleine Geschenke und wünschten ihr eine gute Reise. Sogar der alte Großvater Tasker humpelte herbei und drückte ihr einen Topf mit einer eingepflanzten Rose in die Hand. „Solche Rosen hat die Mutter Seiner Lordschaft immer gezüchtet. Sie liebte Rosen, und ich glaube, Sie tun das ebenfalls“, sagte der alte Mann. Grace dankte ihm mit brüchiger Stimme.

Zum Schluss kam Granny Wigmore. Sie sah frisch und rosig aus, und von allen Leuten hier war sie die Einzige, die nicht traurig wirkte. Sie umarmte Grace. „Auf Wiedersehen, gute Dame. Sie werden zu uns nach Wolfestone zurückkehren, haben Sie keine Angst. Ich weiß es, hier.“ Sie legte sich die Hand auf ihr Herz und reichte Grace einen kleinen Beutel aus Seide. „Schlafen Sie darauf, und Sie werden süße Träume haben.“ Grace küsste sie auf die Wange. „Passen Sie auf ihn auf, Granny.“

„Das werde ich, Mädchen, das werde ich.“

Abdul half ihr beim Einsteigen in die Kutsche, was auch nötig war, da Grace vor lauter Tränen kaum etwas sehen konnte. „Könnten Sie bitte Lord DAcre von mir Lebwohl sagen, Abdul?“, bat sie ihn. „Ich habe es gestern Abend nicht mehr geschafft.“

„Selbstverständlich, Sitt.“ Und auf Arabisch fügte er hinzu: „Gott gewähre Ihnen eine sichere und angenehme Reise.“ Er wickelte eine Reisedecke um sie und verstaute die vielen Geschenke, die sie erhalten hatte, bis auf Billy Finns Blumen, die sie nicht aus der Hand geben wollte. Die ganze Zeit über starrte sie aus dem Fenster und betrachtete die Gesichter der Menschen, die ihr in so kurzer Zeit so ans Herz gewachsen waren.

Sie sah zu den oberen Fenstern des Schlosses und entdeckte hinter einem Melly in ihrem Nachthemd, die unglücklich zu ihr hinunterblickte. Grace hob die Hand. Melly begann zu weinen und drückte ihre Handfläche an die Fensterscheibe.

Ein paar Fenster weiter stand Frey in einem wunderbar bestickten Morgenmantel. Er musste durch das Rollen der Kutschenräder auf dem Kies geweckt worden sein. Als sich ihre Blicke trafen, hob er ernst die Hand und schlug das Zeichen des Kreuzes - ein letzter Segen für ihre Reise. Sie dankte ihm stumm, und dann setzte sich die Kutsche mit einem Ruck in Bewegung.

Wie gebannt sah sie zu einem dritten Fenster, doch es war dunkel, leer und abweisend. Keine Bewegung war dahinter zu sehen, kein großer, dunkelhaariger Mann mit leuchtenden goldbraunen Augen.

Blind vor Tränen winkte sie den anderen noch einmal zu. Billy Finn rannte ein paar Schritte neben der Kutsche her, doch als sie um die Ecke bog, verlor Grace ihn aus den Augen. Sie sah sich ein letztes Mal um, doch Wolfestone und seine Bewohner verschwammen in einem Nebel aus Tränen.