13. Kapitel
Und hört, warum: Ich will euch jetzt erzählen, was nimmer ihr gehört, in Prosa noch Gesang.
John Milton
Dominic ging lächelnd und mit beschwingten Schritten zu seiner Besprechung mit Jake Tasker. Ihr Gesichtsausdruck, als er an ihren Zehen gesaugt hatte ... Er schmunzelte. Er würde sie in eine ganz neue Welt der Wonnen einführen.
Sein Lächeln erstarb jedoch, als er mit Tasker sprach. „Den Besitz besichtigen? Liebe Güte, nein! Das hat Zeit, bis Abdul hier ist.“
„Nein, Mylord“, beharrte Tasker. „Sie müssen den Besitz und die Menschen kennenlernen, die hier leben. Und die Leute müssen Sie kennenlernen.“
„Das wird Abduls Aufgabe sein. Die Pächter können sich mit ihm treffen. Ich möchte nur einfach auf dem Laufenden gehalten werden.“
Doch Tasker war aus härterem Holz geschnitzt. „So wie Ihr Vater von Mr Eades auf dem Laufenden gehalten wurde?“ Das war ein Schlag unter die Gürtellinie.
Dominic presste die Lippen zusammen. „Die Geschäftsbücher werden mir alles verraten, was ich wissen muss. Schließlich haben wir erst durch meine Überprüfung dieser herausgefunden, was Eades verbrochen hat.“
Tasker schnaubte. „Unsere Leute haben von Anfang an gemerkt, dass er etwas im Schilde führte. Bis Sie hinter seine Betrügereien gekommen sind, war der Schaden schon angerichtet. Viele ehrliche Menschen waren ruiniert.“
Dominic war irritiert über diese unverblümten, offenen Worte, nicht zuletzt, weil er wusste, dass der Mann ja recht hatte. Er versuchte es noch einmal. „Abdul wiederum ist ein Mensch, dem ich seit zehn Jahren restlos vertraue. Er kann die Leute alle treffen und sich mit ihnen auseinandersetzen.“ Tasker machte ein skeptisches Gesicht. „Na ja, vielleicht lassen sich die Leute auf irgendeinen Fremden ein. Aber sie werden ihn nicht freundlich aufnehmen, wenn sie nicht zuerst ihrem Herrn richtig begegnet sind. Das ist eine Frage des Respekts, Mylord. Sie respektieren Ihre Leute, und die werden Ihren Mann respektieren. Aber sie werden keins seiner Worte befolgen, ehe sie es nicht erst aus Ihrem Mund hören.“
„Sie kennen Abdul nicht! Ich habe noch nie erlebt, dass er etwas nicht schafft.“
„Abdul hat aber auch noch nie mit Leuten aus Shropshire zu tun gehabt“, gab Jake schlicht zu bedenken. „Wir sind stur wie die Esel und festgefahren in unseren Gewohnheiten“, erklärte er nicht ohne Stolz. „Seit sechshundert Jahren sind wir hier, und seit sechshundert Jahren sagen uns die Wolfes, was wir zu tun haben. So ist es immer gewesen, und daran kann kein schlauer Fremder etwas ändern. Wenn Sie den Besitz wieder auf die Beine stellen wollen, Mylord, müssen sie alle Leute hinter sich wissen. Und das heißt, Sie müssen jeden Einzelnen von ihnen kennenlernen und sich anhören, was er zu sagen hat.“
Dominic seufzte und ließ die Pferde satteln. Verdammt, er hatte niemals hierherkommen wollen, geschweige denn ... in das alles verwickelt zu werden. Das sollte nur ein oberflächlicher Besuch werden. Er würde den wichtigsten Leute seine Aufwartung machen, ihnen zuhören, mit dem Kopf nicken, und das war es dann. Dann konnte er sie an Abdul weiterreichen - und sie alle vergessen.
Zu seiner Überraschung war der erste Ort, an dem sie haltmachten, eine heruntergekommene Hütte am Waldrand. Tasker stieg vom Pferd, und Dominic tat es ihm widerstrebend nach. „Warum soll ich diese Hütte aufsuchen?“
„Ich hielt es für richtig, weil sie ohnehin am Weg liegt.“ Stur wie ein Esel, das trifft es voll und ganz, dachte Dominic. Tasker hatte eine klare Vorstellung davon, was Dominic sehen sollte. Doch es schien, als würde er sich während seiner Probezeit gewiss nicht bei seinem Herrn anbiedern. Dominic mochte irritiert sein, weil er etwas tun musste, wozu er keine Lust hatte. Aber er war auch erfreut - er hatte den Mann also richtig eingeschätzt.
Tasker klopfte an, und eine Frau von etwa Mitte fünfzig öffnete. Sie trug ein abgetragenes, aber sauberes blaues Kleid und eine blütenweiße Schürze. Sie stützte sich schwer auf einen Stock und betrachtete Dominic ruhig, mit klaren blauen Augen, die er sofort wiedererkannte. Taskers Mutter.
„Miss Beths Junge“, sagte sie sanft. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ach, Mylord, ich bin ja so glücklich, Sie endlich zu sehen. Ich war die Zofe Ihrer Mutter, mehr noch - ihre Freundin.“
Zu seiner Verwirrung humpelte sie auf ihn zu, streckte die Hand aus und strich ihm weich über die Wange, als wollte sie sich vergewissern, dass er es tatsächlich war. Seine Mutter hatte ihn immer ganz genauso gestreichelt.
Mrs Tasker führte ihn in die Hütte. Wie er feststellte, schien die ganze Familie in einem einzigen Raum zu leben. Eine steinerne Feuerstelle in der Ecke sorgte für Wärme und diente gleichzeitig als Küche. Davor standen eine Bank mit einer darauf zusammengefalteten Decke, zwei schön geschnitzte Stühle und ein Tisch, das war alles. Zwei weitere Ecken waren mit Vorhängen abgetrennt, vermutlich die Schlafstätten. Die Hütte war klein, verräuchert und beengt, aber peinlich aufgeräumt und sauber. Jake machte sich daran, Tee zuzubereiten.
Mrs Tasker bat Dominic, sich neben sie auf die Bank zu setzen. „Sie muss so stolz auf Sie gewesen sein. Wie sehr sie sich nach Ihnen gesehnt hat ... Sie weinte jeden Monat, wenn ihr klar wurde, dass sie wieder kein Kind bekommen würde.“
„Mein Vater brauchte einen Erben für Wolfestone“, meinte Dominic steif und wünschte sich meilenweit fort.
„Ach, der.“ Sie machte eine verächtliche Handbewegung. „Das war ja noch nicht alles. Ich meine, sicher, er wollte seinen Erben, doch das war nicht der einzige Grund, warum Miss Beth geweint hat. Sie wünschte sich selbst so sehr ein Baby, wissen Sie. Sie war so ein liebevolles kleines Mädchen und sehnte sich nach einem eigenen Kind. Sie pflegte immer die jungen Mütter auf dem Besitz zu besuchen und stundenlang mit ihren Kleinen zu spielen.“
Dominic starrte angestrengt geradeaus und rang um seine Fassung. Ein liebevolles kleines Mädchen - das beschwor so viele Bilder von seiner Mutter in ihm herauf.
Wieder strich Mrs Tasker ihm über die Wange, und es war beinahe unheimlich, fast glaubte er, die Hand seiner Mutter zu spüren. „Ich bin froh, dass sie einen so hübschen Jungen bekommen hat. Und Sie haben sich um sie gekümmert, nicht wahr?“
Dominic kämpfte gegen seine aufsteigenden Emotionen an und nickte nur. Ja, das hatte er, so gut er konnte.
Mrs Tasker lächelte. „Ja, das sehe ich Ihnen an. Sie haben die Augen Ihres Vaters, aber die Freundlichkeit, die haben Sie von Miss Beth.“
Dominic spürte, wie sich irgendetwas in ihm löste, eine enorme Anspannung vielleicht.
„Hat Sie schließlich dann doch noch ein glückliches Leben gehabt?“
Er nickte. „Vor allem in den letzten zehn Jahren“, erwiderte er mit brüchiger Stimme. Es gab keinen Grund, warum er dieser Frau erzählen sollte, wie schrecklich die ersten acht Jahre gewesen waren.
Sie nickte. „Das freut mich. Nach ihrer Flucht hat sie mir einen Brief geschickt.“ Sie lächelte über sein überraschtes Gesicht. „Ich war ihre Freundin. Glauben Sie etwa, ich hätte nicht gewusst, was sich zwischen ihr und Ihrem Vater abspielte?“ Sie schüttelte den Kopf. „Beinahe wäre ich mit ihr gegangen. Ursprünglich war das auch so vorgesehen, aber es sollte wohl nicht sein.“ Geistesabwesend rieb sie sich ihr Bein, als hätte sie dort Schmerzen. Tasker brachte den Tee, und sie lächelte ihn liebevoll an. „Wenn ich mit ihr gegangen wäre, hätte ich niemals Jakes Vater geheiratet und selbst so einen hübschen Jungen zur Welt gebracht. Also war es vielleicht doch ganz gut so.“
Der Tee war schwach und geschmacklos. Man hatte die Teeblätter wohl benutzt, anschließend getrocknet und erneut verwendet. Der Tee der armen Leute. Dominic trank ihn schweigend, der Geschmack erinnerte ihn an seine Kindheit.
„Hol ihm das Album, Sohn.“
Jake stellte seine leere Tasse ab, nahm ein eingewickeltes Päckchen aus einer kleinen Holztruhe an der Wand und reichte es Dominic. Verwirrt und auch etwas verzagt entfernte der das Papier. Eine Mappe mit schweinsledernem Einband kam zum Vorschein, ungefähr acht mal zwölf Zoll groß. Er sah Mrs Tasker an, die ihm ermutigend zunickte, und so schlug er die Mappe auf.
Sie enthielt Bilder, anmutige und zarte Aquarelle von Wolfestone, das er so nicht wiedererkannt hätte - lauter Blumen, die den harten Stein überrankten. Aquarelle vom Rosengarten, von verschiedenen Menschen, spielenden Kindern, einem schlafenden Hund, alle gemalt mit großer Sorgfalt und viel... Liebe.
„Die Bilder Ihrer Mutter“, erklärte Mrs Tasker. „Das da bin ich.“ Sie zeigte auf ein Blatt. Er hätte sie niemals wiedererkannt. Das Mädchen auf dem Bild war hübsch und voller Lebensfreude, nicht müde und vor Schmerzen vorzeitig gealtert. „Das Album gehört Ihnen“, sagte sie. „Ich habe es für Sie aufbewahrt, seit ich von Ihrer Geburt erfahren habe. Als der alte Lord DAcre starb, wusste ich, dass Sie schließlich doch zu uns nach Hause kommen würden. Es tut mir nur so leid, dass Sie Miss Beth nicht mehr mitbringen konnten.“ Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie fiel ihm um den Hals, völlig vergessend, dass er ein Schlossherr und sie nur eine verarmte Pächterin war.
Dominic ließ die Umarmung wie erstarrt über sich ergehen, und als sie vorbei war, bedankte er sich mit ernster Miene für den Tee. Beim Hinausgehen hielt Mrs Tasker ihn zurück.
„Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, Mylord, aber ich muss es einfach tun, Ihrer Mutter zuliebe.“ Sie zog seinen Kopf zu sich herunter und küsste ihn auf die Wange.
Dominic nickte verlegen und ging schweigend zu seinem Pferd. Er verstaute die wieder eingewickelte Mappe in seiner Satteltasche und saß auf.
„Es hat Sie doch nicht gestört, dass meine Mutter Sie so umarmt hat, oder, Mylord?“, fragte Jake nach einer Weile.
Dominic schüttelte nur den Kopf. Er konnte nicht sprechen, zu aufgewühlt war er in seinem Innern.
„Sie hing furchtbar an Ihrer Mutter“, erklärte Jake. „Als Mr Podmore ihr erzählte, dass Ihre Mutter verstorben sei, hat sie tagelang geweint.“
Dominic hob abrupt den Kopf. „Podmore hat es ihr gesagt?“ „O ja. Mr Podmore sieht immer mal wieder nach meiner Mutter. Sie glaubt, dass er einst eine Schwäche für Miss Beth hatte und gern die Gelegenheit nutzte, mit jemandem zu reden, der sie ebenfalls liebte. Meine Mutter denkt, dass er darin Trost gefunden hat.“
Dominic biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte recht. Seit ihrer Beerdigung hatte er selbst mit niemandem mehr über seine Mutter gesprochen, weil keiner aus seinem Bekanntenkreis sie gekannt hatte. Seit er nach Wolfestone gekommen war, war er bereits zwei Menschen begegnet, die sie nicht nur gekannt, sondern auch geliebt hatten. Und so schmerzlich es jedes Mal war, über sie zu sprechen, so hatte er doch auch Trost darin gefunden.
Was für eine Ironie, diese beiden in Wolfestone gefunden zu haben, ausgerechnet an dem Ort, bei dem er sich geschworen hatte, ihn zu vergessen.
Nachdem sie eine Weile geritten waren, fragte er Jake: „Wie hat sich Ihre Mutter am Bein verletzt?“
Jake antwortete nicht gleich. „Wissen Sie das nicht?“
Eine ungute Vorahnung befiel Dominic. Er schüttelte den Kopf.
„Es passierte in der Nacht, als Miss Beth weglief. Als Ihr Vater merkte, dass sie fort war, tobte er vor Wut.“ Er ritt schweigend ein Stück weiter. „Meine Mutter wollte ihm nicht verraten, wohin Miss Beth gegangen war, da hat er sie die Treppe hinuntergestoßen. “
Grace saß in der Bibliothek und las in dem schmalen Gedichtband, den Dominic ihr geschenkt hatte. Sie hatte schon sämtliche Regale durchsucht in der Hoffnung, weitere arabische Werke zu finden, aber keinen einzigen entdeckt. Seltsam, dass es nur ein einziges Buch in dieser Sprache gab.
Aber wie wundervoll war es, wenigstens dieses zu haben. Sie drückte es an ihre Brust. Was für eine romantische Widmung! Je mehr sie in dem Büchlein las, desto mehr erkannte sie, wie sehr Faisal seine Taube geliebt hatte.
Eins der Gedichte in dem kleinen Lederband war schon jetzt ihr Lieblingsgedicht. Geschrieben vor tausend Jahren, war es noch immer so frisch und schön, dass es sie fast zu Tränen rührte.
Und sie kam wie die helle Morgenröte, die die dunkle Nacht durchbricht, oder wie der Wind, der die Wogen des Flusses streichelt.
Um mich herum der Horizont atmete Wohlgeruch und kündete von ihrer Ankunft, so wie der Duft einer Blume vorauseilt.
Die Tür ging auf, und Mr Netterton trat ein. „Ach, Verzeihung, ich wollte Sie nicht stören, Greystoke. Miss Pettifer ist gerade nach oben gegangen, um sich um ihren Vater zu kümmern. Und ich dachte, ich nutze die Gelegenheit und schreibe ein paar Briefe ... nun ja, ehrlich gesagt ... eine Predigt.“ Er sah einigermaßen verlegen aus. „Die Sache ist, ich habe noch nie einen ganzen Gottesdienst allein gehalten. Nun machen Sie nicht so ein überraschtes Gesicht, den Routineablauf beherrsche ich. Sorgen bereitet mir nur die Predigt. Ich dachte, ich könnte mir hier ein paar Ideen holen. Unter all diesen Büchern sollten doch auch welche sein, in denen die eine oder andere Predigt stehen könnte.“ Er zeigte auf die vielen, verstaubten Regale.
„Ja, ich kann verstehen, dass das etwas nervenaufreibend ist“, stimmte sie zu. „Das ist Ihr erstes Mal, und sicher wollen Sie ja auch einen guten Eindruck auf Ihre neuen Schäfchen machen.“
„Schäfchen.“ Er verzog das Gesicht. „Ich fühle mich eigentlich nicht wie ein Hirte. Und wenn Sie die Wahrheit wissen wollen - ich habe fast jede Predigt verschlafen, die ich je gehört habe. Langweiliges Zeug.“
Sie lächelte ihn an. „Dann wissen Sie ja genau, was Sie zu tun haben.“
Er schien verwirrt. „Wie meinen Sie das?“
„Nun, Sie wissen, wie man eine Predigt nicht schreiben sollte. Warum denken Sie sich nicht eine aus, die Ihnen früher sicher gefallen hätte?“
Er schnaubte. „Die einzige Predigt, die mir gefallen hätte, wäre kurz und bündig gewesen, vielleicht mit ein, zwei Scherzen darin und ohne jeden moralischen Zeigefinger.“
Grace lachte auf. „Genau. Da haben Sie ja Ihre Predigt.“ Er sah sie verblüfft an. „Ach ... das ist eine gute Idee! Wenn Sie nichts dagegen haben, mache ich mir rasch ein paar Notizen.“ Er setzte sich an den Schreibtisch und fing an zu schreiben.
Eine ganze Zeit saßen sie so da. Grace war ganz versunken in die Schönheit der arabischen Poesie, während Mr Netterton Seite um Seite füllte, sie dann alle zusammenknüllte und wieder von vorn anfing.
Nach einer Weile merkte Grace, dass er anscheinend fertig war und geistesabwesend auf die Bücherregale starrte. „Fertig?“
Er schrak zusammen. „Ja. Ja, ich glaube schon.“ Er sah zweifelnd auf das Blatt Papier vor ihm. „Sie ist sehr kurz.“ Sie musste über seinen Gesichtsausdruck lachen. „Keine Sorge, ich bin mir sicher, dafür wird Ihnen jeder dankbar sein. Welches Thema haben Sie gewählt?“
Er sah ein wenig verlegen aus. „Hm, es ist eher eine Art Fabel, nichts aus der Bibel. Über einen Neidhammel, also einen zweibeinigen, nicht den vierbeinigen. Sie spielt in einem anderen Land. Zu einer anderen Zeit.“
„Das hört sich goldrichtig an“, versicherte sie ihm. „Ein nettes ländliches Thema für eine ländliche Gemeinde. Sie werden ohnehin bis ans Ende Ihres Lebens Predigten schreiben, da brauchen Sie nichts zu überstürzen. Irgendwann haben Sie den Bogen heraus.“
Er warf ihr einen erschrockenen Blick zu. „Das ist genau wie in der Schule“, bemerkte er unglücklich. „Ich habe Aufsätze schon damals gehasst. Warum zum Teu... um Himmels willen habe ich nur einen Beruf gewählt, in dem man schreiben muss?“
Das war eine Gelegenheit, die Grace nicht ungenutzt verstreichen lassen wollte. „Sie kannten Lord D’Acre schon aus Schulzeiten, nicht wahr? Wie war er denn damals?“
Frey schmunzelte und war froh über den Themenwechsel. „Anfangs war er ziemlich wild. Er sprach Englisch mit leichtem ausländischen Akzent, und er legte sich mit jedem an, der ihn schief ansah. Genauso haben wir uns übrigens kennengelernt. Wir lieferten uns eine gute, alte Prügelei, wobei ich vergessen habe, worum es ging. Aber wir schlugen heftig auf uns ein, bis keiner von uns mehr stehen konnte. Danach wurden wir die besten Freunde.“ Sie musste so entsetzt ausgesehen haben, wie sie sich fühlte, denn er fing an zu lachen. „Man merkt, dass Sie keine Brüder haben, Greystoke. Jungen sind einfach so. Ungehobelte kleine Rüpel. Erst prügeln sie sich, dass die Fetzen fliegen, danach werden sie Freunde. So etwas kommt andauernd vor.“
„Dann muss ich Ihnen das wohl glauben“, erwiderte Grace. „Jedenfalls waren wir danach unzertrennlich. Wir unternahmen alles zusammen - Schule, Spiele, Streiche ... Wir hätten sogar die Ferien miteinander verbracht, wenn man uns das erlaubt hätte.“ Sein Lächeln erstarb. „Üble Geschichte.“ „Inwiefern?“
Ihm war offensichtlich etwas unbehaglich. „Ich weiß nicht, ob er möchte, dass ich darüber spreche.“
„Das ist doch alles längst Vergangenheit - was macht es da noch aus?“, versuchte Grace ihn zu überreden. Sie wollte alles über Dominic wissen. „Außerdem verrate ich kein Sterbenswort davon.“
Mr Netterton dachte eine Weile nach und nickte dann. „Die Sache ist, sein Vater hatte ihn nach England und nach Eton geholt. Jahrelang wusste er gar nichts von dem Jungen, doch irgendjemand hatte ihn und seine Mutter aufgespürt. Nun ja, Dom ist das Ebenbild seines Vaters, daher bestand kein Zweifel an seiner Abstammung. Sobald der alte Mann ihn gefunden hatte, wollte er ihn zu dem erziehen, was er einst sein würde - der Erbe von Wolfestone und Träger des Titels, all so etwas eben. Doms Mutter war in ... Ägypten, glaube ich. Zu weit weg, um sie in den Ferien besuchen zu können - allerdings hätte ihm sein Vater das ohnehin nicht erlaubt. Sobald er Dom in seinen Klauen hatte, durfte er England nicht mehr verlassen. Er hielt ihn die ganze Zeit äußerst knapp bei Kasse. Er war der ärmste Junge in Eton - oder hätte es zumindest sein müssen. Dom hat dieses unglaubliche Talent, aus allem Geld zu machen - ganz erstaunlich!“ Er grübelte kurz darüber nach. „Wo war ich stehen geblieben?“
„Bei den Ferien.“
„Ach ja. Nun, meine Eltern wären glücklich gewesen, wenn Dom die Ferien bei uns verbracht hätte. Dann wäre es für uns beide nicht so langweilig gewesen. Mein Vater schrieb an Lord D Acre und bat ihn um seine Erlaubnis.“ Er verzog das Gesicht. „Doms Vater lehnte ab. Dom schrieb ihm selbst und bat ihn ebenfalls darum. Aber er sagte jedes Mal Nein.“
„Ich nehme an, er wollte, dass Dominic die Ferien mit ihm verbrachte.“
Mr Netterton schüttelte den Kopf. „Keineswegs. Dom hat seinen Vater nur zweimal im Leben gesehen, und dann verbrachte er nie länger als eine Stunde in seiner Gesellschaft.“ „Wie bitte? Auch nicht in den Ferien?“
„Nein. Er ordnete an, dass Dom die Schule überhaupt nicht verlassen durfte. Niemals. Ich glaube, der alte Mann hatte Angst, Dominic könnte versuchen auszureißen - und damit lag er gar nicht einmal so falsch.“
„War er denn nicht glücklich in der Schule?“
„Nein, das war nicht der Grund. Er war krank vor Sorge um seine Mutter. Seit er nach England gekommen war, hatte er nichts mehr von ihr gehört. Und wissen Sie auch, warum?“ Seine Stimme wurde lauter vor Empörung. „Sein Vater hatte alle ihre Briefe zurückgehalten. Dom hat das irgendwann vom Anwalt seines Vaters erfahren, dem alten Podmore. Der Mann vertrat zwar seinen Vater, schien aber eine Schwäche für die Mutter zu haben. Außerdem glaubte er, dass der alte Lord DAcre dem Jungen Unrecht tat.“
„Das glaube ich allerdings auch!“ Grace war außer sich bei dem Gedanken, wie der junge Dominic in eine Schule in einem für ihn auch fremden Land eingesperrt worden war - und nicht einmal die Briefe seiner Mutter hatte bekommen dürfen.
„Die Schule hatte Anweisung, die Briefe seiner Mutter an den Anwalt weiterzuschicken, und der Anwalt hatte Anweisung, sie schließlich zu vernichten, was er auch tat.“
Grace war entsetzt. „Die Briefe seiner Mutter vernichten! Wie kann man nur so grausam sein?“
Mr Netterton zwinkerte ihr zu. „Ein schlauer alter Fuchs, dieser Podmore. Er fertigte erst Kopien von den Briefen an, ehe er die Originale wie befohlen verbrannte. Die Kopien schickte er mit seinem Absender an Dom. Schließlich hatte die Schule ja nicht den Auftrag, Briefe vom Rechtsanwalt seines Vaters abzufangen.“
Grace klatschte in die Hände. „Was für ein wunderbarer Mann!“
„Ich glaube, er hat Dom davor bewahrt, den Verstand zu verlieren. Verständlich, denn ein Junge, der sich in seinen ersten zwölf Lebensjahren um seine Mutter gekümmert hat, verlässt sie nicht einfach von einem Tag auf den anderen, nur weil irgendein Vater, den er nie kennengelernt hat, das von ihm verlangt!“ Er stieß einen verächtlichen Laut aus.
„Sein Vater muss ein äußerst gefühlloser Mensch gewesen sein“, meinte Grace nachdenklich. Ein Zwölfjähriger war immer noch ein Kind und brauchte seine Mutter. Ihr blutete das Herz bei dem Gedanken an diesen Jungen.
„Er war ein richtiges Ungeheuer“, stimmte Mr Netterton zu. „Wollte Dom nicht einmal Weihnachten oder Ostern mit einem seiner Freunde verbringen lassen. Der arme Kerl kannte gar kein richtiges englisches Weihnachten. In den ersten Jahren hat er mich ständig darüber ausgefragt - man merkte ihm an, er fieberte förmlich darauf, es selbst einmal zu erleben. In Ägypten und in Italien feiert man Weihnachten nicht so wie bei uns, mit allem Drum und Dran. Anfangs klammerte er sich an alle diese Geschichten ...“ Er verstummte kopfschüttelnd.
„Erzählen Sie weiter“, bat sie sanft.
„Nun, er hoffte also weiter. Jedes Jahr ließ ihn sein Vater in dem Glauben, er könnte vielleicht Weihnachten nach Wolfestone eingeladen werden. Dominic wurde ganz aufgeregt -auch wenn er das nicht zugab, aber er war dann immer ... wie soll ich sagen, völlig aufgedreht. Nun ja, verständlich, das erste Weihnachten mit der Familie, Verwandten begegnen, Wolfestone sehen, das er einmal erben sollte ..."
„Und dann?“
„Jedes Jahr erhielt er in letzter Minute eine Absage. Einmal erschien tatsächlich eine Kutsche mit dem Wappen seines Vaters darauf. Da hätten Sie einmal Doms Gesicht sehen sollen! Seine Augen leuchteten förmlich vor Aufregung. Für ihn war es plötzlich wie Weihnachten und Ostern an einem Tag, im wahrsten Sinn des Wortes.“ Er ballte die Fäuste. „Wie sich herausstellte, war es nur ein Lakai, der ihm neue Kleidung brachte - jemand musste seinem Vater berichtet haben, dass er aus seinen alten Sachen herausgewachsen war - und ein Buch über die Familiengeschichte der Wolfes, die er während der Weihnachtsferien studieren sollte.“ Er warf ihr einen finsteren Blick zu. „Der Alte schickte ihm hinterher sogar einen Test darüber. “
„Hat sein Vater denn gar nicht gemerkt, was er ihm damit antat?“
„Ich glaube, das war ihm gleichgültig. Er hat in Dom wohl nie einen Menschen mit Gefühlen gesehen. Er war eben einfach nur der Erbe.“
„Und was für ein Erbe, das er da antreten sollte.“ Jetzt verstand Grace, warum er in Bezug auf Wolfestone so furchtbar verbittert war.
Frey nickte. „Allerdings. Nun, danach hatte Dom für Weihnachten oder Ferien nur noch Hohn und Spott übrig. Er sagte, solche Anlässe wären bedeutungslos, dass er sich keinen Deut darum scherte. Weihnachten wäre nur ein dummer englischer Brauch und er hätte wirklich Besseres zu tun.“
„Menschen überspielen es oft, wenn sie verletzt worden sind“, flüsterte Grace. „Armer kleiner Junge, jegliche Geborgenheit und Freude wurden ihm versagt ..."
„Es war dumm von seinem Vater, ihn von seiner Mutter fernhalten und in einer Schule einsperren zu wollen.“
„Eher ein Verbrechen!“, empörte sie sich.
„Ja, das auch, aber in erster Linie dumm.“ Frey dachte eine Weile nach. „Wenn ich es recht bedenke, habe ich einiges daraus gelernt. Man kann solche Dinge nicht erzwingen, Treue oder Gehorsam, meine ich. “
„Liebe“, fügte Grace leise hinzu.
Mr Netterton nickte erneut. „Damit erreicht man höchstens das Gegenteil.“ Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
„An seinem allerletzten Schultag sollte Dom nach Wolfestone fahren. Sein Vater hatte der Schule mitgeteilt, dass sein Sohn nicht nach Oxford gehen würde - obwohl er im Gegensatz zu mir sicher ein sehr guter Student geworden wäre. Nein, er sollte nach Wolfestone kommen und dort lernen, den Besitz zu verwalten.“ Frey schmunzelte. „Leider beging einer der Lehrer den Fehler, Dom vorher darüber aufzuklären.“
Grace beugte sich gespannt nach vorn. „Was geschah dann?“ „Die Kutsche seines Vaters traf ein, um ihn abzuholen, aber Dom war schon in der Nacht davor verschwunden. Er hatte genug Geld für eine Passage nach Hause angespart.“
„Nach Ägypten?“ Grace war fassungslos. „Ganz allein?“ Mr Netterton nickte stolz. „Den ganzen Weg nach Ägypten, quer über den Kontinent. Frankreich durchquerte er, als Napoleon gerade seine Mannen noch einmal zu Höchstleistungen anspornte, und er verpasste Waterloo nur um wenige Wochen. Was für eine Reise! “
„Seine Mutter muss überglücklich gewesen sein, ihn nach all den Jahren endlich wiederzusehen.“