12. Kapitel
Gelegenheit, du mächtige Verführerin!
John Dryden
Grace erreichte das Ufer und stieg aus dem Wasser.
Sie hörte ihn aufstöhnen, und aus diesem Grund drehte sich zu ihm um. Wieder stöhnte er. „Haben Sie Schmerzen?“, rief sie.
„Höllische Schmerzen“, sagte er, aber er sah nicht aus wie jemand, der krank war. Sein Blick schweifte über sie, dabei funkelten seine goldbraunen Augen vor Vergnügen.
Sie schlang die Arme um sich. „Drehen Sie sich um!“
„Unmöglich.“
Sie kehrte ihm den Rücken zu und wollte ihre Kleidung aufsammeln.
Erneutes Aufstöhnen. „Wie ein in Seidenpapier gewickelter Pfirsich“, meinte er, als sie sich bückte.
Sie richtete sich abrupt auf und hielt sich ihre Sachen vor den Körper. „Hören Sie bitte mit diesem Unsinn auf!“
„Das ist kein Unsinn, sondern Poesie. Sie sind lebendig gewordene Poesie.“ Er begann ebenfalls aus dem Wasser zu waten, und sie fing an zu ahnen, welchen Anblick sie für ihn bieten musste. Seine Unterhose war fast durchsichtig und schmiegte sich an seinen Körper wie Seidenpapier - allerdings nicht um einen Pfirsich, wie er gesagt hatte ...
„Bleiben Sie da stehen!“, entfuhr es ihr.
Seine Augen funkelten belustigt. „Gern.“ Prompt posierte er für sie als griechische Statue. Nur sah keine von Lord Elgins Marmorstatuen auch nur annähernd so aus wie dieser Mann. Er war größer, männlicher - und er lebte und atmete.
Sie konnte ihn immer noch auf ihren Lippen schmecken.
„Hören Sie auf damit!“ Sie musste wider ihren Willen lachen. „Bedecken Sie sich.“
„Das geht nicht. Erst muss meine Unterhose trocknen, sonst ist meine Reithose bei meiner Rückkehr nach Wolfestone an gewissen Stellen ganz nass. Die Leute werden sich fragen, was ich um alles in der Welt gemacht habe.“ Er sah sie an. „Und dann werden sie auch auf Ihrem Kleid nasse Flecke sehen und zwei und zwei zusammenzählen ..."
Sie nagte nachdenklich an ihrer Unterlippe. Am liebsten wollte sie auf der Stelle von Kopf bis Fuß ordentlich angezogen sein, aber er hatte nicht unrecht.
„Meiner Meinung nach haben Sie zwei Möglichkeiten - entweder Sie ziehen Ihre nassen Sachen aus und ziehen die trockenen über Ihre nackte Haut.“ Er betrachtete sie unter halb gesenkten Lidern. „In dem Fall müssen Sie natürlich Ihre Unterwäsche irgendwo verstecken, wenn Sie zum Schloss zurückgehen. Ich könnte sie Ihnen abnehmen und in meine Tasche stecken. “
Um nichts in der Welt hätte sie ihm ihre Unterwäsche gegeben.
„Oder Sie setzen sich in die Sonne und lassen Ihre Unterwäsche trocknen, bevor Sie sich anziehen. Genau das werde ich tun.“ Er streckte sich im Gras aus, und sie vermied es, angestrengt dort hinzusehen, wo sie am liebsten hingesehen hätte.
„Also gut, dann mache ich das auch“, beschloss sie. Er klopfte auf das Gras neben ihm, aber sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich gehe dort drüben hin.“ Sie setzte sich hinter einen Busch, der sie vollkommen verdeckte.
„Ach, wie Pyramus und Thisbe“, meinte er seufzend. „Wie traurig.“
„Ganz und gar nicht“, gab sie zurück. „Schließlich sind wir keine Liebenden, die unter einem schlechten Stern stehen!“
„Aber Liebende sind wir“, erwiderte er und trat hinter dem Busch hervor.
Sie verschränkte die Arme vor sich, obwohl ihr klar war, dass das sinnlos war nach dem, was sie im Teich getan hatten. Sie schwieg eine Weile. „Ich kann nicht“, sagte sie schließlich.
Er setzte sich in geringer Entfernung von ihr ins Gras. „Es ist schon gut, ich weiß das. Sie sind noch nicht so weit. Ich kann warten.“
Sie schüttelte den Kopf. „Es ist zwecklos zu warten. Ich werde meine Meinung nicht ändern.“
Er lächelte nur. Sie erschauerte, aber nicht vor Kälte oder Furcht. Sie wandte ihm den Rücken zu. Noch immer spürte sie seinen Blick auf sich ruhen wie eine warme Berührung, doch zumindest konnte sie ihn so nicht mehr sehen. Sie schlang die Arme um ihre Knie und schaukelte im frischen grünen Gras vor und zurück. Ihre Gedanken überschlugen sich.
Im Grunde standen sie unter keinem so schlechten Stern. Melly wollte ihn nicht, auch wenn ihre Verlobung immer noch gültig war. Sie wollte ihn, aber er benahm sich wie ein ungebundener Mann, der er nicht war. Das verunsicherte sie.
Was wollte er? Mit ihr schlafen, ja. Ein paar Momente vorübergehenden Vergnügens, ja. Doch was sonst noch?
Sie kannte ihn nicht sehr gut, und was sie über ihn wusste, war nicht ermutigend. Er wollte kein Zuhause. Er wollte keine Kinder. Niemals.
Sie hatten nie über eine Ehe gesprochen, nicht einmal über Liebe. Er hatte sie gerade „meine Liebste“ genannt, aber das war nur ein Kosewort gewesen, und er hatte sich in einem Ausnahmezustand befunden. Sie verspürte noch immer ein prickelndes Gefühl in ihren Brüsten von seinen Liebkosungen. Sie beugte sich nach vorn.
Er hielt sie für eine angestellte Gesellschaftsdame. Sie wusste, Männer verfügten über eine gewisse Doppelmoral in Bezug auf Frauen aus unterschiedlichen Gesellschaftsklassen. Vielleicht wollte er ja nur mit ihr herumtändeln, so wie Adelige seit Jahrhunderten mit Dienstmädchen herumtändelten. Das Recht der ersten Nacht.
Natürlich konnte sie ihm verraten, wer sie in Wirklichkeit war. Jetzt, da Sir John so krank war, brauchte sie eigentlich den Schein nicht mehr zu wahren. Aber sie wollte sich nicht enttarnen. Noch nicht.
Sie hatte sich noch nie in der Lage befunden, dass ein Mann wirklich auf sie reagierte, auf Grace selbst. Nicht auf Miss Merridew, den Liebling der feinen Londoner Gesellschaft, und auch nicht auf Miss Merridew, die reiche Erbin, sondern auf die einfache, ganz normale Grace. Ein Mädchen, das in einem kalten, trostlosen Haus aufgewachsen war und genau wie ihre Schwestern von ihren Träumen gezehrt hatte.
Doch Träume konnten trügerisch sein.
Zwei ihrer Schwestern hatten es zugelassen, sich von ihren Träumen täuschen zu lassen. Sowohl Prudence als auch Faith hatten zuerst den verheerenden Fehler begangen, ihre tiefe Sehnsucht nach Liebe mit der Wirklichkeit zu verwechseln und auf Männer hereinzufallen, die prinzipienlose Filous waren.
Sie hatten sich von ihren Träumen von der Liebe blenden lassen - und waren ein schreckliches Risiko eingegangen, indem sie sich selbst und ihr Glück in die Hände unwürdiger Männer gelegt hatten. Um ein Haar hätten sie sich ihr Leben für immer ruiniert. Zum Glück war es nicht so weit gekommen, doch seitdem war Grace vorsichtig geworden.
Sie war noch nicht bereit, dasselbe Risiko einzugehen. Nicht für einen Mann, den sie erst seit ein paar Tagen kannte und der sich, trotz seiner sanften Worte und Liebkosungen, durchaus als ein weiterer, nicht vertrauenswürdiger Lebemann entpuppen konnte.
Sie brauchte mehr als sanfte Worte und zärtliche Liebkosungen. Der Vorgeschmack auf künftige Wonnen, den er ihr im Teich geboten hatte, durfte sie nicht beeinflussen. Auch nicht, dass sich seine Küsse angefühlt hatten wie die eines Mannes, für den sie wie der erste Schluck Wasser nach langer Zeit in der Wüste war ...
Nein, das durfte ebenfalls keine Rolle spielen.
Er mochte die Verkörperung aller ihrer geheimsten Träume sein, aber noch konnte sie ihren Gefühlen nicht trauen. Nicht, solange er noch mit Melly verlobt war. Nicht, solange sie noch so wenig über ihn wusste.
„Ich habe andere Pläne“, verriet sie ihm nach einer ganzen Weile. Sie erhob sich und ging hinter den Busch, um ihr Kleid anzuziehen.
„Soll ich Ihnen mit Ihrem Korsett helfen?“
„Nein, danke“, erwiderte sie steif. Sie hatte gar kein Korsett angelegt, als sie beschlossen hatte, zum Schwimmen zu gehen.
Aber das wollte sie ihm nicht auf die Nase binden.
Als sie vollständig bekleidet wieder hinter dem Busch hervorkam, schmunzelte er. „Aha, ich sehe, Sie haben das Korsett weggelassen. Wie erfreulich.“ Er hatte sich ebenfalls ziemlich schnell wieder angezogen.
Grace verschränkte errötend die Arme vor der Brust. „Warum etwas verbergen, was ich längst gesehen, ja, sogar gekostet habe?“
Seine sanfte Stimme drohte ihre Entschlusskraft ins Wanken zu bringen, daher drehte sie sich um und eilte den Pfad entlang.
Er folgte ihr. „Was für andere Pläne?“
Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, worauf er sich bezog. Die Art, wie er sie angesehen hatte, war so ... verwirrend gewesen. „Ich möchte reisen. Ich möchte in der Morgendämmerung mit dem Schiff in Venedig anlegen, ich möchte den Mond über den Pyramiden aufgehen sehen, ich möchte vor der Sphinx stehen und mich klein und unbedeutend fühlen. Ich möchte mit einer Feluke den Nil hinunterreisen und auf einem Kamel reiten.“
„Auf einem Kamel?“
„Ja, warum nicht? Ich könnte mir vorstellen, dass das sehr aufregend ist. Wüstenschiff - ist das nicht ein wunderbarer Ausdruck für ein Kamel?“
„Kamele stinken, spucken und feixen.“
„Feixen?“ Sie musste lachen.
„Kein Mensch auf der Welt kann so feixen wie ein Kamel, das schwöre ich Ihnen“, erwiderte er. „Außerdem sind sie so unglaublich stur! Was die Bezeichnung .Wüstenschiff1 betrifft, so kommt sie zweifellos von der wiegenden, schaukelnden Gangart - wie ein Schiff auf stürmischer See. Hoffentlich werden Sie nicht seekrank.“
Sie überhörte das geflissentlich. Er zog sie ohnehin nur auf, das merkte sie ihm an. „Sind Sie schon einmal auf einem Kamel geritten?“
„Oft sogar. Ich sage Ihnen, ich ziehe ein Pferd jederzeit vor.“ „Ja, aber ein Kamel ist so exotisch.“
„Nicht in Ägypten.“
Sie strahlte ihn an. „Richtig.“ Sie hatten die Auffahrt zum Schloss erreicht, und er brachte Grace dazu, sich bei ihm unterzuhaken. „Wenn ich nicht mit Mel... Miss Pettifer hergekommen wäre, würde ich jetzt wohl in diesem Moment die Koffer packen, um mit der Cousine des britischen Generalkonsuls nach Ägypten zu reisen“, fuhr sie fort.
„Tatsächlich?“
„Ja, es war schon alles arrangiert. Wir wollten mit dem Schiff nach Alexandria ... “ Sie warf ihm einen scheuen Blick zu. „Würden Sie mir bitte von Alexandria erzählen?“
Er sagte nichts. Stirnrunzelnd blieb er stehen, als wäre er tief in Gedanken versunken.
„Natürlich nur, wenn die Erinnerung nicht zu schmerzlich ist“, fügte sie rasch hinzu.
„O nein, sie ist nicht schmerzlich. Mir ist nur gerade etwas viel Wichtigeres eingefallen.“ Er drehte sich mit ernster Miene zu ihr um. „Wissen Sie, dass Ihre Sommersprossen nur bis zum Halsausschnitt reichen? Darunter befindet sich keine einzige.“ Er zeichnete mit dem Zeigefinger den Rand ihres Ausschnitts nach, und ihre Haut begann zu prickeln. „Ich war zu dem Zeitpunkt ..er sah ihr tief in die Augen,.....etwas ablenkt, aber jetzt ist es mir wieder eingefallen. Ist das nicht faszinierend?“ „Absolut nicht.“ Sie wich ein paar Schritte zurück. „Ich sagte Ihnen bereits, ich habe andere Pläne. Und ich verrate Ihnen noch etwas, Lord D’Acre - ich tändele nicht mit den Verlobten anderer Mädchen herum. Auch nicht mit Ehemännern. Ehrlich gesagt, ich tändele überhaupt nicht herum.“ Sie lächelte ihn angestrengt an. „So, und deswegen können Sie mich jetzt vollständig ignorieren. “
„Ich möchte Sie nicht ignorieren, Greystoke“, murmelte er. Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. „Dann eben nicht. Aber wenn Sie auf eine Tändelei aus sind - ich glaube, die Tickel-Mädchen wären nicht abgeneigt; versuchen Sie doch da einmal Ihr Glück.“
„Ich will kein Tickel-Mädchen.“
„Sind Sie sicher? Sie sind sehr hübsch. Ich finde, Tansy ist die hübscheste, aber Tilly hat das bezauberndere Lächeln, und ihr Teint ist ein Traum.“
„Ich ziehe Sommersprossen vor. Vor allem dort, wo sie aufhören.“
Sie errötete und bemühte sich, das zu überspielen. „Ach, aber natürlich, es muss Tessa sein. Sie ist bei Weitem die kurvenreichste der drei. Ich weiß, bei solchen Affären legen Männer großen Wert auf üppige Kurven.“
„Tatsächlich?“
„So habe ich es jedenfalls gehört.“ Sein Blick verunsicherte sie allmählich.
Seine Miene war rätselhaft. „Ich habe kein Interesse an den Kurven der Tickel-Mädchen. Auch nicht an ihrem Lächeln, ihrem Teint oder an dem, was sie sonst noch vorzuweisen haben. Ich mag kleine graue Hitzköpfe mit Sommersprossen.“
„Nun, die ... uns ... mich können Sie aber nicht haben! “ Sie eilte allein die Auffahrt hinauf.
„Ach, das kann ich nicht?“, rief er ihr nach. „Ich bin ein Wolfe - wir warten nicht auf eine Einladung. Wir suchen uns unsere Beute aus und erlegen sie. Betrachten Sie das durchaus als Warnung, Miss Beutestück! “
Im Schloss traf Dominic Frey in einem der Salons an. Sein Freund aß Zitronenplätzchen und nippte vorsichtig an einer Tasse Tee, die ihm zwischendurch immer wieder von Miss Pettifer nachgeschenkt wurde. Dominics Mundwinkel zuckten. Er kannte Freys Einstellung zu Tee.
Frey erklärte ihm rasch den Grund für seine Anwesenheit. „Es tut mir leid, dass ich dich schon so bald belästigen musste, Dom, aber ich fürchte, das Pfarrhaus ist unbewohnbar.“
„Inwiefern?“
„Wie man mir sagte, gab es wohl vor ein paar Tagen einen heftigen Sturm. Er scheint die Hälfte der Dachschindeln abgedeckt zu haben. Das Dach leckt ziemlich schlimm. Alles ist nass und moderig - ein übler Gestank. Ein völlig unpassender Zeitpunkt, aber das ist wohl höhere Gewalt. Ich habe gehofft, an deine Gastfreundschaft appellieren und vorübergehend hier in Wolfestone wohnen zu können, Dom.“
„Aber selbstverständlich, Frey, du bist uns herzlich willkommen. Obwohl wir etwas spartanischer eingerichtet sind, als du es gewohnt bist.“
„So schlimm ist es gar nicht - Miss Pettifer hat mich sehr herzlich empfangen.“ Er lächelte sie an, beinahe einfältig, wie Dominic fand.
Sie errötete und murmelte etwas Unverständliches.
„Dann hast du meine Verlobte ja bereits kennengelernt.“ „Wie bitte ...?“ Frey klappte buchstäblich der Kiefer herunter, und sein Tee ergoss sich über seine elegante taubengraue Hose.
Mrs Stokes übertraf sich selbst mit dem Essen an diesem Abend. Triumphierend servierte sie Forelle mit Mandeln, Hühnerfrikassee, grüne Bohnen, Reis, Kalbsbouillon, überbackene Kartoffeln, gebratene Wachteln, eine Pastete aus Speck und Äpfeln, die überraschend gut schmeckte, einen üppigen Salat, eine Platte mit Zitronenkäsekuchen und noch viele andere Leckereien.
„Nun ja, Miss, ich gebe mir alle Mühe, Sir John dazu zu bewegen, etwas zu sich zu nehmen“, erklärte sie, als Grace ihr Komplimente wegen des Essens machte. „Er isst ja weniger als ein Spatz.“
Grace zog die Brauen hoch. „Ich hätte gedacht, da wäre Hühnersuppe eigentlich eher etwas für ihn.“
Mrs Stokes errötete. „Sie haben mich ertappt, Miss. Ich habe Sir John Hühnersuppe, Brot und Butter bringen lassen -aber er hat natürlich nichts angerührt, der arme Mann. Es ist wegen des Vikars“, gestand sie. „So ein großer, hagerer Mann! Da merkt doch jeder, dass er dringend etwas von unserer guten Shropshire-Hausmannskost braucht!“
Grace lachte. Wie es aussah, würden sie wohl alle von Mr Nettertons schlaksiger Figur profitieren.
Doch trotz des überreichen Angebots schien Melly nichts von alldem zu reizen, wie ihr auffiel. Sie stocherte in ihrem Essen herum und aß nur ein paar Bissen von dem Huhn und den grünen Bohnen. Sie lehnte sogar den Zitronenkäsekuchen ab, der, wie Grace wusste, ihre Leibspeise war.
„Geht es dir nicht gut, Melly?“, erkundigte sie sich leise, nachdem der letzte Gang abgetragen worden war.
„Doch“, erwiderte Melly überrascht. „Warum? Sehe ich schlecht aus?“
„Nein, aber du isst kaum etwas.“
„Ach so, das.“ Melly wich ihrem Blick aus. „Ich habe heute Abend nur keinen Hunger, das ist alles.“
Grace runzelte die Stirn. Sir Johns Appetitlosigkeit war schon schlimm genug, hoffentlich hatte Melly sich nicht mit derselben Krankheit angesteckt. Aber abgesehen davon, dass sie kaum etwas gegessen hatte, sah sie eigentlich sehr gesund aus - geradezu blühend sogar.
Das sind bestimmt die Sorgen, dachte Grace. Mellys Vater machte gesundheitlich keine Fortschritte - im Gegenteil, er wurde immer weniger und war nur noch ein Schatten seiner selbst. Natürlich wurde Melly immer besorgter. Das wurden sie alle.
„Grace?“ Ein Flüstern in der Dunkelheit. „Bist du noch wach?“ „Ja“, erwiderte Grace. „Was ist, Melly?“
„Ach, nichts. Ich habe mich nur gefragt, ob du schon schläfst.“ Lange Zeit schwiegen beide. „Du magst Lord D’Acre, nicht wahr?“, fragte Melly plötzlich leise.
Was soll ich darauf antworten? dachte Grace. Mögen war eindeutig das falsche Wort. Es gab Augenblicke, da hätte sie ihn am liebsten erwürgt, dann wiederum sehnte sie sich beinahe schmerzlich nach ihm. „Er ... er ist ein interessanter Mann.“
„Ich habe euch gesehen, als ihr heute Nachmittag zurückkehrtet. Dein Gesicht hat förmlich geleuchtet.“
„Zu viel Sonne“, murmelte Grace.
„Nein, Grace. Er kam wenige Augenblicke nach dir die Auffahrt hoch. Du warst mit ihm zusammen, nicht wahr?“
Mit ihm zusammen? Grace presste die Hand auf ihren Mund. Was meinte Melly damit? „Ich habe ihn zufällig am Teich getroffen“, erklärte sie mit, wie sie hoffte, unbefangener Stimme.
„Ich habe dein Gesicht gesehen. Und ich habe gemerkt, wie ihr euch beim Abendessen angesehen habt. Du bist verliebt, nicht wahr, Grace.“ Das war keine Frage. Schließlich war Melly eine ihrer ältesten Freundinnen. Sie beide tuschelten schon seit Jahren über die Liebe.
Grace seufzte. „O Gott, Melly, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich so etwas noch nie empfunden habe. Ich hätte nie gedacht ...“
Wieder herrschte lange Zeit Stille. „Ich werde mit Papa sprechen“, sagte Melly schließlich. „Ich werde alles für dich in Ordnung bringen, Grace, das verspreche ich dir.“
„Ach, hier sind Sie. Ich dachte, Sie betreiben Ihre Sprachstudien für gewöhnlich in der Bibliothek.“ Dominic schlenderte auf die Terrasse, wo Greystoke mit einem Buch auf dem Schoß in einem Sessel in der Morgensonne saß. Sie hatte die Beine untergeschlagen, ihre Pantoffeln lagen auf den Steinfliesen.
Sie sah auf und lächelte ihn an, und wie immer setzte sein Herz dabei einen Schlag aus. „Ich weiß, aber es ist so ein herrlicher Morgen, da wollte ich ein wenig hier draußen sitzen. Allerdings kann ich mich nicht so richtig konzentrieren, die Sonne macht mich ganz schläfrig“, gestand sie. Sie klappte ihr Buch zu, stellte die Füße auf den Boden und breitete ihre Röcke darüber aus, um zu verbergen, dass sie barfuß war. „Vielleicht versuche ich es später noch einmal.“
„Sie sind immer noch entschlossen, nach Ägypten zu reisen?“ Er beobachtete, wie sie verstohlen nach ihren Schuhen tastete.
„Ja, so ist es.“ Sie hatte sich fest vorgenommen, vernünftig zu bleiben.
Er kam zu ihr und kniete sich vor sie. „Es scheint mir ein ziemlicher Aufwand zu sein, arabische Grammatik zu lernen, nur weil man sich die Pyramiden ansehen will.“
„Was machen Sie da?“, entfuhr es ihr erschrocken, als er unter ihre Röcke fasste.
„Ich suche Ihre Pantoffeln für Sie.“ Er fand den abtrünnigen Schuh, dann legte er die Hand um ihren nackten Fuß. Während er ihr tief in die Augen sah, begann er ihre Zehen zu küssen. Sie hielt schockiert den Atem an, doch allmählich breitete sich ein unbeschreibliches Gefühl in ihr aus. Erst sog er nur ganz zart an ihren Zehen, fast spielerisch, doch schließlich wurde das Saugen stärker, rhythmischer, und er sah ihrem Gesicht an, wie sehr sie das erregte.
Der Streit zweier Gartenarbeiter in der Nähe holte sie in die Wirklichkeit zurück, und Dominic spürte, dass sie versuchte, sich ihm zu entziehen. Er küsste sie noch einmal zart auf den Rist und schob danach den Pantoffel über ihren Fuß. Tödlich verlegen zog sie die Füße wieder unter ihre Röcke.
Schmunzelnd verfolgte er ihre hektischen Bewegungen. „Aus den Augen heißt nicht, aus dem Sinn, Greystoke. Schließlich weiß ich, was sich unter Ihren Röcken befindet, nicht wahr? Und Ihre Zehen schmecken genauso köstlich wie alles an Ihnen.“
Sie sah erregt und verwirrt aus, bemühte sich aber, eine missbilligende Miene aufzusetzen. „Weshalb sind Sie hergekommen?“
Beiläufig warf er ein kleines, in Leder gebundenes Buch auf den Tisch neben ihrem Sessel. „Das habe ich neulich in der Bibliothek gefunden, und als ich es in Händen hielt, musste ich an Sie denken. Vielleicht liest sich das spannender als ein Grammatikbuch.“
Sie schlug es auf. „Das ist Arabisch!“, rief sie aus. „Es scheinen Gedichte zu sein ... es sind Gedichte!“ Sie las ein paar davon, und ihre Miene hellte sich auf. „Wunderschöne noch dazu.“ Sie sah ihn mit leuchtenden Augen an. „Haben Sie welche davon gelesen?“
Er schüttelte den Kopf. „So ein Unsinn interessiert mich nicht“, log er. „Es gehört Ihnen, Sie können es behalten.“
Ihr Lächeln verzauberte ihn. „Vielen Dank, ich werde es immer in Ehren halten“, sagte sie sanft. Sie drückte das Buch kurz an ihre Brust, dann klappte sie es wieder auf. „Hier, sehen Sie nur, da steht eine Widmung. Die Tinte ist schon sehr verblasst, aber man kann sie noch gut lesen: ,Für meine Taube, mein Herz, meine Geliebte, für immer Dein, Faisal.'“ Sie seufzte verträumt. „Wie romantisch. Ich frage mich, wer Faisal wohl war? Oder seine geliebte Taube? Und wie ist das Buch nach Wolfestone gelangt?“
Er zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Ich muss jetzt gehen, ich bin mit Jake Tasker verabredet.“ Er nutzte ihre Arglosigkeit aus und küsste sie rasch auf ihren warmen, weichen Mund. „Viel Freude mit den Gedichten!“
„Sie waren gestern überrascht, als Sie erfuhren, dass ich Lord D’Acres Verlobte bin“, sagte Melly zu Mr Netterton. Ihr Vater schlief, deshalb hatte sie eine Kanne Tee in den Salon bringen lassen.
„Ich? Ja, wahrscheinlich ... ich meine, ich hatte Sie mir ..." Er verstummte und räusperte sich. „Ja, ich war ein wenig überrascht.“
„Sie wollten sagen, Sie hatten sich etwas ganz anderes als mich vorgestellt, nicht wahr?“, entgegnete sie würdevoll. „Sie müssen mich sehr merkwürdig finden.“
„Nein“, widersprach Mr Netterton und nippte misstrauisch an seinem Tee. „Ich habe mich gefragt, warum mein Freund Dominic, den ich sonst für so klug halte, so dumm sein kann ... “
Melly nagte an ihrer Unterlippe. Sie musste langsam lernen, mit solchen unbedachten Kränkungen umzugehen.
„... mit jemandem wie Ihnen eine reine Zweckehe führen zu wollen. Was für eine Verschwendung.“
Melly schloss verlegen die Augen, weil er sogar die Bedingungen für diese Verbindung kannte. Das war für sie die schlimmste Demütigung - dass Lord D Acre sie nicht einmal als Zuchtstute wollte.
Und dann ging ihr plötzlich die Bedeutung seiner Worte auf. Sie sah Mr Netterton verblüfft an. „Sie meinen, es wäre eine Verschwendung?“, flüsterte sie.
„Allerdings, das meine ich.“ Er griff nach einem Plätzchen. „Jeder richtige Mann würde mir da zustimmen. Dominic ist ein Narr.“