6. Kapitel
Männer verlangt es nach Frauen, aber Frauen verlangt es nach dem Verlangen der Männer.
Madame de Staël
Ich wünschte, wir wären niemals hierhergekommen“, meinte Melly schläfrig. Die beiden jungen Frauen lagen in ihren Betten. „Ich bin mir sicher, durch diesen Kutschenunfall ist Papas Zustand noch schlechter geworden. Und dieser Arzt... Er hat ihn so stark zur Ader gelassen, dass mir ganz übel wurde. Ich konnte gar nicht hinsehen.“ „Verständlich“, murmelte Grace tröstend. „Aber dein Vater schläft jetzt, und das solltest du auch tun. Es war ein langer, anstrengender Tag. “
Eine ganze Weile herrschte Stille, und Grace dachte schon, Melly wäre eingeschlafen, doch dann sprach sie weiter. „Er ist nicht so schlimm wie ich dachte.“
Es bestand kein Zweifel, wen sie damit meinte.
„Er sieht sehr gut aus, findest du nicht auch? Bis auf diese seltsamen Augen.“
„Ja.“ Grace fand seine Augen wunderschön, seltsam, ja, aber bezwingend. „Melly, hast du es dir anders überlegt mit der Hochzeit?“
„Nein!“ Melly setzte sich auf und sah zu Grace hinüber. „Nein! Ganz bestimmt nicht. Nur weil er sich ganz nett verhalten hat und gut aussieht, will ich ihn noch lange nicht heiraten!“ Sie legte sich wieder hin. „Er ist kein ... kein bequemer Mann. Nicht wie ein Ehemann sein sollte, falls du verstehst, was ich sagen will.“
„Nicht so ganz.“ Grace glaubte, sie durchaus zu verstehen, aber sie wollte, dass Melly es ihr genau erklärte. Wenn auch nur die geringste Möglichkeit bestand, dass ihre Freundin es sich doch anders überlegte, dann wollte Grace es vorher wissen, ehe es zu spät war.
„Er ist ein wenig zu ernst, manchmal auch beinahe etwas Furcht einflößend, und ich glaube, er kann recht aufbrausend sein. In seiner Nähe wäre ich wahrscheinlich immer nervös, und ich denke, das würde einen Mann wie ihn ziemlich ärgern. Außerdem will er weder mich noch Kinder, und das könnte ich nicht ertragen.“
Richtig, Mellys Kinderwunsch hatte sie vorübergehend ganz vergessen. Obwohl er eindeutig ein Mann war, dem die Frauen gefielen. „Vielleicht ändert er seine Meinung ja noch.“
„Hm, vielleicht“, sagte Melly verschlafen.
Grace wartete auf eine weitere Bemerkung, aber ihrem ruhigen, gleichmäßigen Atmen nach zu urteilen war ihre Freundin nun tatsächlich eingeschlafen.
Grace fiel das wesentlich schwerer. Ihre Gedanken kreisten immer wieder um die Ereignisse des Tages, vor allem um die, die mit Lord D Acre zu tun gehabt hatten.
Sie wusste nicht genau, was sie für ihn empfand; sie war völlig durcheinander. Wie konnte ein Kuss - nun ja, ein paar Küsse - plötzlich alles auf den Kopf stellen? Und doch fühlte es sich genau so an.
Sie warf sich von einer Seite auf die andere und fand einfach keinen Schlaf. Bestimmt war der Käse schuld, sie hätte ihn nicht essen sollen. Und diese Pasteten waren zwar köstlich, aber auch ziemlich salzig gewesen. Ein Glas Wasser hätte ihr jetzt sicher geholfen, zur Ruhe zu kommen, aber sie hatte keins zur Hand. Sie hätte einen Krug mitnehmen sollen, bevor sie zu Bett gegangen waren. Doch Grace war es gewohnt, derartige Dinge den Bediensteten zu überlassen, und so hatte sie es schlichtweg vergessen. Je mehr sie an Wasser dachte, umso durstiger wurde sie.
Schließlich gab sie auf. Sie stand auf, schlüpfte in ihre Hausschuhe und legte sich ein Schultertuch um. Ehe sie das Zimmer auf Zehenspitzen verließ, entzündete sie eine Kerze am Kaminfeuer.
Im Haus war alles still und ruhig. Schatten tanzten an den Wänden, als Grace die steinerne Treppe hinunter und in die Küche eilte. Während sie ein Glas kaltes Wasser trank, sah sie aus dem Fenster. Ein schwacher Lichtschein fiel aus dem Stall. Was hatte das um diese Uhrzeit zu bedeuten? Das Licht flackerte. Feuer? Grace ging nach draußen, um nachzusehen.
Sie spähte in den Stall. Das Licht fiel aus einer der Boxen. Nein, ein Feuer war das nicht, aber vielleicht ein Einbrecher? Sie sah sich um und entdeckte eine Mistgabel. Vorsichtig griff sie danach und schlich mit klopfendem Herzen weiter.
Die Tür zur Box stand offen. Ein Pferd lag darin, und eine dunkle, im Gegenlicht nicht zu erkennende Gestalt beugte sich darüber. Pferde legten sich nur ganz selten hin. Irgendetwas stimmte hier nicht.
„Was machen Sie da?“, fragte sie so energisch wie möglich. „Stehen Sie auf, damit ich Sie sehen kann, und seien Sie gewarnt - ich bin bewaffnet! “
„Und bezaubernd gefährlich.“ Lord D’Acre richtete sich auf und sah sie an.
Grace hätte vor Erleichterung beinahe die Mistgabel fallen gelassen. „Ich dachte, Sie wären ein Einbrecher! Was tun Sie hier um diese Zeit?“
„Die Stute bekommt ihr Fohlen. “
Sofort legte Grace die Mistgabel hin und zog ihr Tuch fester um sich. „Geht es ihr gut?“
„Ich hoffe es“, erwiderte er knapp. „Sie ist noch jung, und ich glaube, es ist ihr erstes Fohlen. Beim ersten Mal kann man das nie so genau wissen. Es könnte ... unangenehm werden. Wenn Sie sich den Anblick also ersparen wollen, sollten Sie jetzt lieber gehen.“
Er beugte sich wieder über die Stute, und nun konnte Grace die ganze Box überblicken. Schlagartig vergaß sie Melly, Sir John, vergaß das Problem mit Lord DAcre und alles andere um sich herum. Sie hatte nur noch Augen für das, was sich vor ihr abspielte.
Die Stute lag auf der Seite. Sie schien große Schmerzen zu haben, ihr silbergraues Fell war dunkel vor Schweiß. Lord DAcre kauerte neben ihr und beruhigte sie mit Worten und Berührungen. Ehe Grace etwas sagen konnte, ging ein Zittern durch den Pferdekörper, und der in ein Tuch gewickelte Schwanz des Tieres hob sich. Grace stockte der Atem. Sie konnte zwei winzige Hufe hervorlugen sehen.
Angespannt verfolgte sie die Szene. Sie hatte noch nie eine Stute fohlen sehen. Ein neuerliches Zittern, dann folgten den Hufen ein kleines Maul und schließlich der ganze Kopf.
Grace hielt den Atem an. Lass es leben. Lass Mutter und Kind leben, betete sie stumm.
Dann ging alles plötzlich ganz schnell. Ein dunkles nasses Bündel, glitschig vor Blut und Schleim, glitt ins Stroh, das den Boden der Box bedeckte. „So ist es brav, meine Schöne“, murmelte Lord DAcre. Er beugte sich über das Fohlen, und Grace hielt wieder den Atem an. Lebte es?
Er gab einen zufriedenen Laut von sich, und sie konnte sehen, wie nun einer der kleinen Hufe zuckte, erst zaghaft, dann deutlich energischer. Das Fohlen lebte! „Gut gemacht, meine Schöne. Du hast einen wunderhübschen kleinen Sohn.“ Lord DAcre richtete sich auf und verließ leise die Box, damit Mutter und Kind sich in Ruhe annähern konnten.
Einen Moment lang blieb die Stute erschöpft liegen. Grace beobachtete sie wie gebannt. Plötzlich hob die Stute den Kopf und schnupperte neugierig an ihrem Fohlen. Sie rückte näher heran und begann, sein nasses, klebriges Fell liebevoll mit der Zunge zu säubern. Ab und zu hielt sie inne und stupste es sanft mit der Nase an.
Es war das Schönste, was Grace je gesehen hatte.
Das Fohlen wand sich unter der Zunge seiner Mutter. Die Stute wieherte leise und das Fohlen spitzte die Ohren, als es zum ersten Mal die Stimme seiner Mutter hörte.
Lord DAcre stellte sich neben Grace und betrachtete die beiden ebenfalls. Grace sah ihn an und lächelte verklärt. „Es ist ein Wunder“, flüsterte sie. „Ein echtes Wunder.“ In ihren Augen schimmerten Tränen.
Ihre Blicke verfingen sich ineinander. „Ja“, erwiderte er langsam. „Es ist ein Wunder.“ Er strich ihr mit dem Finger über die tränenfeuchte Wange. „Genau wie Sie.“ Dann zog er sie in seine Arme und küsste sie lange und zärtlich.
Es war ein süßer, ganz schlichter Kuss, das Teilen eines Gefühls, ein Miteinander-im-Einklang-Sein ... und er traf Grace mitten ins Herz.
Nach einer Weile besann sie sich wieder darauf, wer er war und wer sie war, und sie löste sich aus seiner Umarmung. Sie sah zu, wie die Stute ihr Fohlen leckte und es dabei immer besser kennenlernte.
„Woher weiß sie so genau, was sie tun muss?“ „Mutterinstinkt“, gab er leise zurück. „Einer der machtvollsten Instinkte der Welt.“ Er sagte es beinahe andächtig und aus tiefster Überzeugung.
„Melly würde das gefallen“, murmelte sie.
„Sie mag Pferde?“
Erst durch seine Frage wurde ihr bewusst, was sie da eben gesagt hatte. Eigentlich hatte sie nichts davon erwähnen wollen, denn das war Mellys Aufgabe und nicht ihre. Doch jetzt, nachdem sie ohne nachzudenken gesprochen hatte, ergab sich auf einmal die Gelegenheit, die Dinge ein wenig voranzutreiben. Sollte sie noch mehr sagen?
Sie nagte an ihrer Unterlippe. Wie fürsorglich die Stute ihr Fohlen behandelte. Oben lag Melly in ihrem Zimmer und träumte. Melly, die so sehr davon träumte, Mutter zu werden. Träume, die sich nie erfüllen würden, wenn sie diesen Mann heiratete. Ja, sie sollte sich für ihre Freundin einsetzen. Deshalb hatte Melly sie schließlich gebeten, sie zu begleiten - um sie vor einer ungewollten Ehe zu bewahren.
„Nein, Melly Pettifer mag keine Pferde, sie hat Angst vor ihnen. Aber das da.“ Sie zeigte auf die Stute, die ihr Fohlen wieder sanft anstupste. „Das ist es, wovon Melly Pettifer träumt.“ Er warf ihr einen scharfen Blick zu. „Wie meinen Sie das?“ „Mutterschaft.“ Sie hielt seinem Blick stand. „Sie liebt Kinder. Sie sehnt sich nach dem Tag, an dem sie endlich ihr eigenes Baby im Arm halten kann. Ich kenne sie seit sieben Jahren. Sie hat sich immer Kinder gewünscht.“ Sie zog das Tuch fester um sich und trat einen Schritt zurück. „Immer.“ Er streckte die Hand aus, um sie zurückzuhalten, aber sie wich weiter zurück. „Nein. Ich bin nicht diejenige, mit der Sie reden müssen.“ Damit drehte sie sich um und verließ den Stall.
Grace riss die Augen auf und schreckte aus dem Schlaf hoch. Noch ein Traum, wie ihr klar wurde. Ein mattes Licht fiel durch die Vorhänge, der Morgen graute. Sie gab den Versuch auf, wieder einschlafen zu wollen. Sie wusste, sie hatte geschlafen, aber fast die ganze Nacht war sie von Träumen heimgesucht worden. Träume, in denen Dominic Wolfe eine viel zu große Rolle gespielt hatte. Leidenschaftliche, erregende Küsse, dazwischen immer wieder Sätze wie: „Die Ehe ist nichts weiter als ein geschäftliches Arrangement.“ Holprige Kutschfahrten, Fohlen, ein dunkler Kopf, der sich mit unerträglicher Zärtlichkeit über eine verletzte Hand neigte. Babys, silbergraue Pferde, Holzhacken und ein weißes Hemd und nasse Breeches, die sich an einen straffen, festen Körper schmiegten.
Wer war er? Im einen Moment küsste er sie mit einer Leidenschaft, die Grace auch einen Tag später noch ganz schwindelig machte, wenn sie nur daran dachte. Und schon im nächsten sprach er mit kühler Leidenschaftslosigkeit davon, dass die Ehe nur etwas rein Geschäftliches wäre. Dann wiederum kümmerte er sich mit solchem Mitgefühl um eine Stute und ihr Fohlen und küsste Grace danach mit so großer Zärtlichkeit ...
Was wollte er? Er begehrte Grace. Das stand fest.
Und sie begehrte ihn.
Dennoch schien er keinen Widerspruch darin zu sehen, Melly zu heiraten und Grace zu begehren.
Grace sah hinüber zu dem anderen Bett. Melly schlief noch ganz fest, das arme Ding. Sie war bestimmt ganz erschöpft vor Sorge.
So konnte es nicht weitergehen. Sie hatte versprochen, Melly zu helfen, und Melly war ihre älteste Freundin. Nur - wie sollte diese Hilfe aussehen? Es war alles nicht mehr so einfach, wie es anfangs den Anschein gehabt hatte.
Wenn Melly auch nur ansatzweise gewillt war, Lord D Acre doch zu mögen, konnte Grace sich nicht guten Gewissens einmischen, nicht jetzt. Auch wenn - vor allem wenn - sie ihn für sich selbst wollte.
Und das tat sie. So verwegen er auch war, so unmoralisch er auch schien, sie wollte ihn, wie sie sich zu ihrer Schande eingestehen musste.
Sie hatte immer geglaubt, nicht zu einer solchen Leidenschaft fähig zu sein, wie ihre Schwestern sie bei ihren Ehemännern gefunden hatten. Sie hatte gedacht, niemals sich selbst und ihr Glück in die Hände eines Mannes legen zu können.
Das hatte sie jedenfalls angenommen, bis dieser Mann ihr ein paar Küsse geraubt hatte. Einen Splitter aus ihrer Hand gesaugt hatte. Und sie dann geküsst hatte, bis ihr ganz schwindelig geworden war.
An nur einem einzigen Tag hatte er ihre Welt auf den Kopf gestellt.
Trotzdem sprach er immer noch davon, Melly zu heiraten.
Ihre Pläne, nach Ägypten und an andere exotische Orte zu reisen, hatten auf der Annahme beruht, dass sie sich niemals verlieben würde. Keine ganz abwegige Annahme, denn ihr Debüt war nun schon drei Jahre her, und sie hatte sich alle Mühe gegeben, sich zu verlieben, wenigstens ein klein wenig. Erfolglos.
Sie hatte gedacht, die Küsse eines Mannes könnten sie nicht weiter berühren, und so war es auch stets gewesen. Selbst als die nettesten Männer sie geküsst hatten und ihre Küsse auch sehr angenehm gewesen waren, hatte sie dabei nichts empfunden.
Bis jetzt. Bis sie einen Mann geküsst hatte, von dem sie nicht einmal wusste, ob sie ihm vertrauen konnte. Der nicht daran glaubte, dass Liebe und Ehe miteinander vereinbar waren, und der es für völlig in Ordnung hielt, mit Melly verlobt zu sein und Grace zu küssen.
Er hätte der absolut falsche Mann für sie sein müssen, und doch fühlte sich alles so richtig an, wenn er sie im Arm hielt. In diesen Momenten fühlte sie ... alles. Mehr als sie je für möglich gehalten hätte.
Nein, es ging nicht. Er schien entschlossen zu sein, Melly zu heiraten. Melly, die zwar gesagt hatte, sie wollte ihn nicht heiraten, fand ihn trotzdem nett. Und gut aussehend. Nun, da sie ihn kennengelernt hatte, söhnte Melly sich ja vielleicht mit dem Gedanken an eine Ehe aus. Grace hätte das nicht gewundert. Jede Frau würde diesen Mann heiraten wollen, dachte sie verzweifelt. Er war weitaus attraktiver als es ihm guttat. Und eindeutig attraktiver als es ihr guttat!
Lord D’Acre änderte womöglich seine Einstellung zu Kindern. Er hatte gesagt, die Ehe diente dem Zweck, Erben in die Welt zu setzen. Außerdem schien er mit Kindern umgehen zu können. Der Junge, der am vergangenen Abend das Essen gebracht hatte, hielt jedenfalls große Stücke auf ihn.
O Gott, sie sollte einen Schlussstrich ziehen und verschwinden. Sie konnte ihre Freundin nicht hintergehen, und sie würde auch nicht hierbleiben, um sich das Herz brechen zu lassen. Sie sollte mit Mrs Cheever nach Ägypten reisen und Dominic Wolfe mit seinen bezwingenden goldbraunen Augen und seinen schwindelerregenden Küssen endgültig aus ihren Gedanken verbannen.
Schließlich war Ägypten schon immer ihr Traumland gewesen. Seit ihrer Kindheit hatte sie sich danach gesehnt, die Pyramiden und die Sphinx einmal mit eigenen Augen zu sehen. Im goldenen ägyptischen Sand zu stehen und die Mysterien der Geschichte betrachten und berühren zu können.
Sie hatte ihre Reise nach Ägypten geplant wie andere junge Frauen ihre Flitterwochen.
Sie hatte Vorträge über Ägypten und die aufregenden Ausgrabungen dort besucht, so viel sie konnte darüber gelesen, und sie lernte sogar Arabisch. Bei einem dieser Vorträge war sie Mrs Cheever begegnet, einer reichen, älteren Witwe, die eine ähnliche Leidenschaft für die Pyramiden und die Geheimnisse der antiken Welt hegte wie sie. Mrs Cheever wollte im Herbst nach Ägypten reisen, um ihren seit Kurzem ebenfalls verwitweten Cousin Henry Salt zu besuchen, den britischen Konsul dort, um wie eine Schwalbe dem englischen Winter zu entfliehen, so hatte sie scherzhaft gesagt. Warum begleitete Grace sie nicht einfach? Sie würden so viel Spaß haben!
Noch war Zeit dafür. Wenn sie jetzt abreiste, konnte sie sich immer noch Mrs Cheever anschließen. Grace war fast einundzwanzig, und Ägypten wartete auf sie, so wie sie es sich immer erträumt hatte.
Doch in der letzten Nacht hatte sie nicht schlafen können, weil sie von einem goldäugigen Mann geträumt hatte, der sie so geküsst hatte wie sie es sich niemals erträumt hätte.
Ach, es war alles so verwirrend! An Schlaf war nun endgültig nicht mehr zu denken, sie musste sich bewegen. Und frühstücken.
Eine weitere gründliche Mundspülung mit Essigwasser konnte auch nicht schaden.
Sie zog sich rasch an. Am vergangenen Tag hatte sie in einer Kommode, die sie leer geräumt hatten, um ihre eigenen Sachen in ihr unterzubringen, ein altes graues Reitkostüm entdeckt. Grace hatte es sofort anprobiert. Es war für eine größere Frau geschneidert worden, aber ansonsten passte es. Es wirkte etwas altmodisch, war jedoch in einwandfreiem Zustand, dank des Lavendels und der Mottenkugeln in der Schublade.
Grace ritt für ihr Leben gern, hatte aber kein Reitkostüm für diese Reise mitgenommen. Melly ritt nicht, und daher würde ihre Gesellschaftsdame es ebenfalls nicht tun, so hatte sie gedacht. Jetzt war Sir John jedoch für längere Zeit ans Bett gefesselt, sodass er niemals dahinter kommen würde, und Melly schlief noch und brauchte sie nicht. Also stand es Grace für den Augenblick frei, zu unternehmen wozu sie Lust hatte.
Sie raffte die Röcke und eilte zu den Stallungen. Drei helle Pferdeköpfe und der Kopf eines dunklen Tieres streckten sich neugierig über die Halbtüren ihrer Boxen. Er musste das dritte Pferd gefunden und eingefangen haben.
Die silbergraue Stute, die sie am Vortag geritten hatte, wieherte zur Begrüßung und schüttelte die Mähne. Grace war entzückt.
„Du erkennst mich wohl wieder, Süße!“ Sie streichelte das samtweiche Maul und gab der Stute eine Möhre. „Es tut mir leid, sie ist ein bisschen holzig.“ Die Stute schien das nicht zu stören. Sie kaute mit sichtlichem Genuss, während Grace auch allen anderen Pferden Möhren gab - und eine zusätzliche für die junge Mutter. Das Fohlen stand bereits und trank bei dieser, dabei wedelte es glücklich mit seinem kleinen Schwanz. Neugeborene Fohlen sind so viel niedlicher als neugeborene Menschenkinder, dachte Grace. .
Sie hatte ein Tuch mitgebracht, um den alten Damensa abzuwischen, der ihr am vergangenen Tag aufgefallen war. Er war in einem besseren Zustand als sie anfangs gedacht hatte. Sie sattelte ihre Stute und legte ihr das Zaumzeug an. Dabei
zupfte das Tier sanft an Grace’Jacke. „Nein, Süße, die Möhren sind alle. Wie du wohl heißen magst? Ich kann ja nicht immer nur Süße zu dir sagen.“ Sie liebte diese Stute schon jetzt. „Vielleicht sollte ich dich Silberfee nennen, weil dein Fell so glänzt wie Silber. Gefällt dir der Name?“ Den Futtertrog zu Hilfe nehmend setzte sie sich auf den Sattel und ritt aus dem Stall.
Nach dem Sturm am Vortag wirkte die Welt wie frisch gewaschen, und in der würzigen, klaren Luft lag eine erste Ahnung vom bevorstehenden Herbst. Die Stute war ausgelassen, und ihre gute Laune steckte an. Daher begann Grace ihren Ausritt mit einem gestreckten Galopp über die Felder. Der Duft der Gräser und der feuchten Erde war berauschend. Grace achtete nicht sonderlich darauf, wohin sie ritt. Die grauen Mauern von Wolfestone waren von überall im Tal aus zu sehen, also würde sie sich schon nicht verirren.
Nach einer Weile entdeckte sie eine Herde braun-weiß gefleckter Kühe, und sie beschloss, zu dem hübschen Bauernhof ganz in der Nähe zu reiten. Wo Kühe waren, gab es hoffentlich auch Milch, vielleicht sogar Butter und Käse.
Und so war es auch. Mrs Parry, die mütterlich aussehende Ehefrau des Bauern, war nur zu gern bereit, eine junge Londoner Dame zu verköstigen, die zurzeit im Schloss weilte. Sie führte Grace in die Stube und gab ihr ein Glas frische, sahnige Milch. Dazu bot sie ihr von ihrem selbst gebackenen Honigkuchen an.
Ja, natürlich, sie würde umgehend Milch, Käse und Butter zum Schloss schicken lassen. Der junge Jimmy konnte das erledigen, sobald er in der Molkerei fertig war. Wünschte die junge Miss vielleicht auch ein paar frische Eier? Und wie wäre es mit einem Topf Honig und ein paar Gläsern von Mrs Parrys Zwetschgenmarmelade?
Die junge Miss wollte tatsächlich gern von allem etwas haben. Ob Mrs Parry ihr wohl empfehlen könnte, wo sie am besten Speck kaufen sollte? Und Brot? Und Kaffee?
„Nun, wegen des Specks sollten Sie zu den Wigmores gehen, Miss, die haben erst vor Kurzem ein Schwein geschlachtet. Folgen Sie einfach diesem Pfad zum Dorf, dann sehen Sie schon bald eine Kate mit einer Eberesche und einer Weide da-vor, die so miteinander verwachsen sind, dass sie einen Torbogen bilden. Sie ist natürlich eine Hexe, die alte Granny Wigmore, allerdings eine weiße, also brauchen Sie keine Angst zu haben. Sie ist eine großartige Heilerin, unsere Granny.“
Grace nickte. Der Aberglauben auf dem Land war ihr wohlvertraut. Ihr Großvater hatte ihn verabscheut, das war natürlich ein Grund mehr für die Merridew-Mädchen gewesen, ihm große Sympathien entgegenzubringen, auch wenn sie nicht wirklich davon überzeugt waren. Großonkel Oswald wiederum liebte es, Heilkräuter auszuprobieren, die seine diversen Gebrechen lindern sollten.
„Wahrscheinlich sitzt Granny draußen vor ihrer Kate. Sie schläft nicht viel und möchte immer wissen, was so alles vor sich geht.“ Mrs Parry zwinkerte ihr zu. „Brot und Kaffee bekommen Sie im Dorf. Sie werden den Duft von frisch gebackenem Brot schon riechen, sobald Sie dort eintreffen, also gehen Sie einfach immer Ihrer Nase nach. “
Grace dankte ihr und stand auf. „Ach, noch etwas, Mrs Parry - wenn Sie Leute kennen, die für ein paar Wochen Arbeit suchen, dann schicken Sie sie hinauf zum Schloss.“
Mrs Parry strahlte. „Miss, das ist wunderbar! Es gibt viele, die für etwas zusätzliches Geld dankbar sein werden. Wir haben harte Zeiten hier in Wolfestone erlebt. Diese Neuigkeit will ich gern verbreiten. Mein Jimmy bringt Ihnen nachher einen Korb mit den von Ihnen gewünschten Sachen. Ich stelle noch einen Krug mit meiner besten Buttermilch mit dazu, nur für Sie.“
„Buttermilch?“
„Für Ihren Teint, Miss“, erklärte Mrs Parry. „Waschen Sie sich dreimal am Tag mit meiner Buttermilch und Sie werden sehen, dann verschwinden die lästigen Sommersprossen im Nu.“
Grace bedankte sich mit ernster Miene und ging. In ein oder zwei Tagen würde sie diese lästigen Sommersprossen mit Henna auffrischen und ihren Haaransatz nachfärben müssen.
Schon bald sah sie nach einer Wegbiegung die Kate, die Mrs Parry ihr beschrieben hatte. Das Häuschen stand in einem üppigen Blumen- und Kräutergarten, und der Torbogen aus einer Eberesche und einer Weide war unverwechselbar. Er war uralt, knorrig und auf eine seltsame Weise wunderschön.
Wie angekündigt saß eine alte Frau vor der Kate in der frühen Morgensonne. Sie hatte ein lebhaftes Gesicht mit rosigen Wangen und schlohweißes, etwas verfilztes Haar. Kaum hatte sie Grace entdeckt, war sie auch schon auf den Beinen und eilte ans Tor.
„Sie müssen Mrs Wigmore sein! Ich bin Grace M...“ Sie verbesserte sich hastig. „Miss Greystoke.“ Grace saß ab und reichte ihr die Hand.
Zu ihrer Überraschung ergriff die Alte ihre Hand und küsste sie. „Willkommen, gute Dame. Ihr Anblick erquickt meine alten Augen, o ja. Wolfestone braucht Sie, dringend sogar.“ Sie holte ein Stückchen Apfel aus ihrer Schürze und gab es der Stute. „Es ist ein gutes Omen, dass Sie zurückgekehrt sind.“
Grace vermutete, dass die alte Dame sie mit jemandem verwechselte und lächelte. „Sie haben mir neulich Nacht erklärt, wo ich den Arzt finden könnte, erinnern Sie sich?Vielen Dank nochmals, die Wegbeschreibung war ausgezeichnet. Nun, ich habe gehofft, bei Ihnen etwas Speck kaufen zu können ... “ „Ja, ich habe welchen hier.“ Die Alte zog ein mit einem Tuch eingewickeltes Päckchen aus ihrer Schürze. „Ich habe genug, um jeden oben auf dem Schloss mit Frühstück versorgen zu können. Der junge Billy Finn bringt Ihnen nachher eine wunderbare Speckseite, dann brauchen Sie sie nicht auf dem Pferd mitzunehmen.“
„Aber ... “ Stirnrunzelnd schlug sie das Tuch auseinander. Darin lag ein appetitlich aussehendes Stück Speck.
Mit gichtigen alten Fingern umfasste sie Grace’ Hand. „So, gute Dame, nun werden Sie sicher wissen wollen, welche Familien Sie hier am dringendsten benötigen. “
„Aber ... “
Die alte Frau ignorierte ihren Einwand. Sie beschrieb mehrere Häuser, die Grace auf dem Weg ins Dorf finden würde. „Die Finns, die Taskers, die Tickels und alle anderen. Gehen Sie einfach los, gute Dame, Sie finden sie schon. Die Leute von Wolfestone brauchen Sie wirklich über alle Maßen.“ Achselzuckend willigte Grace ein. Bei der Gelegenheit konnte sie vielleicht gleich Leute einstellen, die wirklich Arbeit suchten. Sie wandte sich zum Gehen. „Vielen Dank, Mrs Wigmore"
Eine knorrige, uralte Hand hielt sie zurück. „Ich muss Ihnen noch etwas sagen. Ein Stück weiter von hier, mitten im Wald, liegt Gwydions Teich. Davor sollten Sie sich hüten. Es mag ein verwunschener Ort sein, aber für weibliche Wesen ist er gefährlich. Gwydion ist einer der alten Götter, und wenn ein junges Mädchen so töricht ist, in seinem Teich zu baden, dann ...“ Die Alte schüttelte Unheil verkündend den Kopf.
„Dann ertrinkt es?“, fragte Grace. Sie war ganz fasziniert von diesem Beweis uralten Aberglaubens.
„Schlimmer! Dann raubt er ihm seine Tugend.“
Grace lachte.
„Junge Dame, Sie glauben mir nicht, aber es ist wahr. Sehen Sie sich nur die Tickel-Mädchen an. Ihre Mutter - das arme, dumme Geschöpf - war Kürschnerin aus der Nähe von Ludlow und wusste es nicht besser. Sie ließ die Mädchen in Gwydions Teich planschen, als sie noch klein waren, und was ist aus ihnen geworden? Sie besitzen keinen Funken Moral mehr! Das ist natürlich nicht ihre Schuld, aber trotzdem dienen sie als warnendes Beispiel für alle Frauen, o ja.“
„Nun, vielen Dank, dass Sie mich alarmiert haben.“ Grace wandte sich erneut zum Gehen.
Wieder hielt die Alte sie zurück. „Sie jedoch müssen zum Teich gehen und sich etwas von dem Wasser holen.“
„Muss ich das? Warum?“
„Füllen Sie im Mondschein etwas Teichwasser in eine Flasche ab und waschen Sie dann morgens und abends Ihr Gesicht damit. Die Sommersprossen werden verschwinden, so sicher wie ich Agnes Wigmore heiße!“ Sie beschrieb ihr ausführlich den Weg zum Teich, erst danach ließ sie Grace’ Hand los.
Grace dankte ihr für den Speck und den guten Rat und machte sich wieder auf den Weg. Sie ritt in Richtung Dorf, und da sie es nicht eilig hatte, hielt sie bei jedem Haus an, das Granny Wigmore ihr genannt hatte, bei den Finns, den Taskers und den Tickels.
Überall wurde sie auf das Wärmste willkommen geheißen, aber der Zustand der jeweiligen Häuser entsetzte sie. Die Leute hier lebten in bitterer Armut. Mrs Finn hauste mit fünf kleinen Kindern in einer heruntergekommenen Bretterbude. Sie wusch Wäsche für andere Leute, dennoch galt ihr ältester Sohn Billy als der Haupternährer der Familie. Großer Gott, und der Junge war noch nicht einmal zehn.
Die Tickel-Mädchen wohnten mit ihrer Mutter und ihrer bettlägerigen Großmutter zusammen. Auch sie nahmen Wäsche an, und die Mädchen gingen putzen, wo immer sie Arbeit fanden.
Die Taskers waren offenbar einmal wohlhabend gewesen, waren aber, wie Grace erfuhr, ungerechterweise von ihrem Bauernhof vertrieben worden, weil sie zum ersten Mal seit Hunderten von Jahren mit der Pacht säumig waren. Jetzt waren sie in eine Hütte am Waldrand gezogen und versuchten, so gut es ging über die Runden zu kommen.
Die Kleidung der Leute war abgetragen und geflickt; in keinem der Häuser konnte Grace irgendwelche Lebensmittel entdecken. Man hieß sie herzlich willkommen, bot ihr aber nur Wasser an. Die Hütten waren nur spärlich möbliert, dafür aber sauber und ordentlich. Und wohin sie auch sah, waren Reparaturarbeiten dringend nötig - undichte Dächer, löchrige Fußböden und feuchte Wände. Wer um alles in der Welt war hier der Grundherr? Grace befürchtete es zu wissen.
Melly hatte gesagt, er wäre reich.
Aber auf wessen Kosten?
Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als Grace das Dorf erreichte, aber es gab vieles, worüber sie nachsinnen musste. Im Dorfladen erstand sie mehrere warme, ofenfrische Brotlaibe, Kaffee und Tee. Sie gab beim Ladenbesitzer eine Bestellung auf, die ihn dazu brachte, über das ganze Gesicht zu strahlen und sich unter Verbeugungen von ihr zu verabschieden, als wäre sie eine Fürstin. Grace dachte an die leeren Vorratskammern in den Häusern, in denen sie vorhin gewesen war, und schwor sich, etwas zu unternehmen.