20. Kapitel
Dich zu entdecken, nenn ich glücklich sein!
In dein Verlies mich senken, macht mich frei.
John Donne
Das ist ja alles schön und gut, liebe Grace“, meinte Sir Oswald verstimmt. „Aber warum, zum Teufel, reist du den ganzen Weg nach London - über Nacht! allein und ohne Anstandsdame - und nein, der verdammte Hund zählt nicht! -, zusammen mit einem Fremden, den ich noch nie gesehen habe, während du eigentlich mit Sir John und Melly Pettifer irgendwo auf dem Land sein solltest?“
Grace schluckte. Sie hatte ihre kleine Ansprache in der Kutsche sorgfältig ausgearbeitet, und da hatte sie sich in ihrem Kopf eigentlich ganz gut angehört. Nur Großonkel Oswald hatte sie nicht akzeptiert. Ganz und gar nicht.
Schlimmer noch, Prudence und ihr Mann Gideon waren nicht die einzigen Familienmitglieder, die sich zu Besuch bei Großonkel Oswald und Tante Gussie eingefunden hatten. Alle ihre Schwestern und deren Ehemänner waren ebenfalls da. Keiner von ihnen wirkte allzu beeindruckt von dem, was Grace zu erzählen hatte.
Außer Tante Gussie, die Dominic mit offensichtlicher, um nicht zu sagen peinlicher Bewunderung betrachtete.
Dominic hingegen wirkte kein bisschen verlegen. Auch schienen ihn Großonkel Oswalds Fragen nicht im Geringsten in Bedrängnis zu bringen, genauso wenig wie die drohenden Blicke von Grace’ vier riesigen, zornigen und muskulös aussehenden Schwägern. Grace sah zu Edward hinüber und korrigierte sich - drei riesige, zornige und muskulös aussehende Schwäger und ein mittelgroßer, verstimmter Duke, ihr Schwager Edward eben.
Dominic machte sich offenbar so wenig aus Großonkel Oswalds Tiraden, dass er ständig zwischen Grace und ihren Schwestern hin und her sah und nach Ähnlichkeiten zwischen ihnen suchte. Einmal sah Grace doch tatsächlich, dass er Tante Gussie zuzwinkerte.
Sie würden ihn in Stücke reißen.
Und wenn sie es nicht taten, würde Grace es tun. Ihre Rede hätte vortrefflich funktioniert, wenn Dominic ihr nicht immer wieder mit seinen „hilfreichen“ Erklärungen ins Wort gefallen wäre, in dem er beispielsweise versicherte, dass Sheba wirklich eine ausgezeichnete Anstandsdame und ein Harem nicht annähernd die Lasterhöhle sei, wie viele Leute glaubten.
„Tante Gussie“, meldete sich Grace’ Schwager Gideon diplomatisch zu Wort. „Warum geht ihr, du und die Mädchen, mit Grace nicht irgendwohin, wo es gemütlicher ist und plaudert ein wenig? Wir Herren bleiben derweil hier auf ein Wort mit Lord D’Acre.“
„Großartige Idee, mein Junge“, lobte Lady Augusta, und in Windeseile hatte sie die Damen aus dem Zimmer gelotst, sodass Dominic allein mit einer Schar wütender Adeliger zurückblieb.
Drei der Schwäger musterten ihn mit angespannten, kalten Gesichtern und geballten Fäusten. Dominic wusste, was ihn erwartete. Nicht zum ersten Mal stand er einer Gruppe von Englands vornehmsten Rüpeln gegenüber. Der einzige Unterschied war, dass er mittlerweile kein Schuljunge mehr war.
Gideon, Lord Carradice, sprach als Erster. „Nun, D’Acre. Ich denke, Sie müssen uns einiges erklären.“
Dominic inspizierte seine Fingernägel.
„Heraus damit, Mann! Reden Sie!“, brauste Blacklock auf, ein weiterer Schwager.
Aha, militärischer Hintergrund, dachte Dominic.
„Der Kerl braucht eine gehörige Abreibung“, grollte derjenige, der Reyne hieß.
Dominic zuckte mit den Achseln. Er legte seinen Mantel ab und krempelte sich die Ärmel auf.
„Was soll das denn, zum Teufel?“, fragte Carradice gereizt.
„Ich bereite mich darauf vor, mich zu verteidigen.“
„Wie bitte?“
„Meiner Erfahrung nach hören Söhne von Gentlemen im Allgemeinen nicht gern zu. Ich habe jedoch nichts gegen eine handgreifliche Auseinandersetzung, also bringen wir es ruhig hinter uns.“
„Nun, wir haben vor zu reden. Oder besser gesagt, zuzuhören. Wir sind uns nicht ganz im Klaren, was hier vor sich geht. Daher möchten wir ein paar Erklärungen, ehe wir Ihnen die Abreibung verpassen, die Sie wahrscheinlich verdient haben.“
Dominic runzelte die Stirn. Carradice hatte beinahe ironisch geklungen.
„Was sind Ihre Absichten in Bezug auf unsere Schwägerin?“, erkundigte der Duke sich ruhig und würdevoll.
Wieder zuckte Dominic die Achseln. „Ich dachte, das könnte sogar ein Blinder erkennen.“
Gideon verdrehte die Augen. „Verdammt, Mann, hören Sie endlich auf, ständig auszuweichen, sonst sehe ich mich doch noch gezwungen, Sie zu schlagen!“
„Nun ja, ich habe mein Bestes getan, um sie davon zu überzeugen, dass sie meine Geliebte werden soll.“
Vier Männer ballten die Fäuste.
Carradice sah ihn aus schmalen Augen an und hob die Hand, um die anderen von einer überstürzten Reaktion abzuhalten. „Also, entweder sind Sie lebensmüde oder ...“
„Ich werde sie natürlich heiraten“, sagte Dominic. Aus welchem Grund hätte er sie denn sonst wohl nach London gebracht?
Carradice zog die Augenbrauen hoch. „Einfach so? Und was ist, wenn sie Nein sagt? Oder ihre Familie etwas gegen Sie hat?“
Dominic betrachtete erneut seine Fingernägel.
„Wahrscheinlich haben Sie schon gehört, dass sie eine reiche Erbin ist“, bemerkte Reyne.
„Ihr Vermögen interessiert mich nicht“, gab Dominic gleichgültig zurück. „Ich bezweifele, dass es meins übersteigt.“
„Sicher haben Sie auch schon gehört, dass sie stur und streitlustig ist“, meinte Carradice. „Alle Merridew-Mädchen machen ihren Ehemännern das Leben zur Hölle.“
Dominic betrachtete sie einem nach dem anderen. Alle wirkten entspannt, gesund und geradezu selbstgefällig vor Zufriedenheit. „Ja, Sie sehen tatsächlich alle aus wie Pantoffelhelden. Ach ja, jeder hat so sein Kreuz zu tragen im Leben.“ „Lieben Sie sie?“
Dominic erwiderte seinen Blick ausdruckslos. Er hatte nicht die Absicht, darauf zu antworten, denn das ging nur ihn und Grace etwas an.
Carradice sah ihn prüfend an. „Als Sie Grace zum ersten Mal begegnet sind - was an ihr hat für Sie den Ausschlag gegeben, sich für sie zu interessieren?“
Dominic dachte einen Moment nach. „Ihr Fuß.“
„Ihr Fuß?“, riefen alle einstimmig.
„Ja.“ Er schmunzelte verschmitzt. „Sie hat mich getreten. Zweimal! “ Wenn das jetzt nicht zu einer Prügelei führte, dann wusste er es auch nicht.
„Getreten?“ Gideon sah die anderen triumphierend an. „Der Satansbraten hat ihn getreten! Ich wusste es! Wir haben es mit einer Liebesgeschichte zu tun!“
Dominic traute seinen Ohren nicht. „Ich glaube, Sie haben mich falsch verstanden. Ich sagte, sie hat mich getreten.“ Carradice schmunzelte über Dominics verwirrten Gesichtsausdruck. „Ja, das hat sie bei mir auch getan, als ich sie kennenlernte. Deshalb nenne ich sie ja auch Satansbraten. Das ist ein gutes Zeichen. Wissen Sie, wir dachten, sie hätte sich das längst abgewöhnt. Aber sie muss sich diese Angewohnheit für einen besonderen Anlass aufbewahrt haben.“ Carradice und der Duke schüttelten ihm die Hand und verließen das Zimmer.
Dominic sah ihnen fassungslos nach. „Aber ich hatte den Tritt verdient! Ich habe sie nämlich geküsst. Zweimal sogar.“ Blacklock und Reyne lachten. „Lassen Sie sich von mir einen Tipp geben“, sagte Blacklock, als er an Dominic vorbeiging. „Wenn Sie einmal ein Merridew-Mädchen geküsst haben ... gibt es kein Zurück mehr. “
Sir Oswald Merridew sah ihn unter buschigen weißen Augenbrauen her streng an. „Los, DAcre, stehen Sie nicht so da wie ein Baumstumpf. Wenn Sie meine Großnichte heiraten wollen, müssen wir auch über finanzielle Dinge reden. Und ich sage Ihnen ehrlich, Sie sollten lieber gute Vorschläge machen.“
„Anders würde ich das auch gar nicht haben wollen“, gab Dominic steif zurück. „Ich möchte nicht einen Penny von ihrem Vermögen. Es soll schriftlich festgelegt werden, dass sie alles für sich behält.“
Sir Oswald zog die Brauen hoch. „Ich weiß zufällig, dass es um Ihren Besitz nicht gerade gut bestellt ist.“
„Das soll Sie nicht interessieren. Ich verfüge über mein eigenes Privatvermögen, das vom Vermächtnis meines Vaters nicht betroffen ist.“
Der alte Mann nickte und erhob sich dann schwerfällig. „Genau das hat mein Informant auch gesagt.“ Er lachte leise über Dominics überraschtes Gesicht. „Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich mich von Grace’ kleinen Listen täuschen lasse, oder? Von einem Mädchen, das ich seit seinem zehnten Lebensjahr kenne? Ich wusste von Anfang an, was sie und Gussie im Schilde führten. Ich habe aufs Geratewohl Erkundigungen über Sie eingezogen. Ich wäre ein schlechter Vormund, wenn ich nicht ein Auge darauf hätte, mit wem sich mein Mädchen einlässt.“
Eine Stunde später führte er Dominic zur Haustür. „Kommen Sie morgen früh wieder, dann können Sie das Mädchen selbst fragen.“
„Es tut mir so leid, Dominic.“ Sie trat auf ihn zu, strahlend schön in einem blauen Kleid, das genau zur Farbe ihrer Augen passte - ziemlich sorgenvolle Augen allerdings in diesem Moment.
„Was bedrückt dich, Liebste?“
„Ich weiß nicht, was sie dir gestern Abend gesagt oder angetan haben. Aber was auch immer es war, du musst das nicht tun.“
„Was denn?“
„Mich heiraten.“
Dominic runzelte die Stirn. „Verdammt, Weib, du ruinierst mir den Auftritt!“ „Wie bitte?“
Er sank vor ihr auf die Knie. „Grace Merridew, möchtest du meine Frau werden?“
Sie schwieg eine Weile. „Nicht, Dominic. Ich ertrage das nicht.“
Er griff nach ihren Händen. „Heirate mich, Grace!“
„Hör auf! Ich weiß, du hast das nie gewollt. Aber so sehr ich ...“
„Dieser Fußboden ist sehr kalt“, fiel er ihr vorwurfsvoll ins Wort. „Würdest du jetzt bitte sagen, dass du mich heiratest, damit ich endlich aufstehen kann?“
Sie biss sich auf die Unterlippe. „Bist du dir sicher, Dominic?“
Er lächelte. „Natürlich bin ich das.“ Er richtete sich auf und nahm sie in die Arme. „Warum, glaubst du, habe ich dich wohl hier an diesen Ort gebracht? Ich sagte dir doch, ich will dich nie wieder verlieren.“
„Aber du glaubst doch nicht an die Ehe.“
Er schmunzelte. „Nein, aber du tust es, und wenn mich irgendjemand davon überzeugen kann, dann du, Liebste. Und jetzt zum dritten Mal - wirst du mich heiraten?“
„Aber was ist mit Wolfestone? Du wirst es verlieren, wenn du mich heiratest.“ Tränen stiegen ihr in die Augen. „Ach, Dominic, all die Pläne die wir geschmiedet haben ...“
Er drückte ihre Hände. „Wir werden neue Pläne schmieden.“
„Ich will nicht, dass du Wolfestone verlierst.“
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich habe es doch nie richtig besessen. Man kann nicht etwas vermissen, das man nie gehabt hat.“
„Aber du brauchst Wolfestone, Dominic. Und Wolfestone braucht dich.“
Er fluchte. „Was ich brauche, Greys... Grace, bist du, verdammt! Ich brauche kein moderiges altes Schloss und einen heruntergekommenen Besitz - und die Leute in Wolfestone werden es überleben, wie sie schon seit sechshundert Jahren überlebt haben. Irgendjemand anderes wird das Land besitzen. Mit etwas Glück wird das ein guter Mensch sein - aber nicht ich.“ Seine Stimme wurde weicher. „Ich werde mit meiner Liebsten zusammen sein, mit ihr den Mond über den Pyramiden aufgehen sehen oder nach Venedig segeln. Komm.“ Er beugte sich zu ihr. „Du hast doch immer auf Reisen gehen wollen, nicht wahr? Und ich bin der Mann, der dich begleitet. Ich bin mein Leben lang in der Welt herumgereist.“
Grace war zutiefst unglücklich. Er bot ihr das an, was sie sich immer am meisten gewünscht hatte - aber das ging auf Kosten seiner eigenen Träume, seiner noch so zerbrechlichen, ganz neuen Träume. Konnte sie das zulassen? „Natürlich werde ich dich heiraten. Eigentlich sollte ich das nicht tun. Du brauchst ...“
„Ich brauche mein samthäutiges Mädchen, in dessen Augen ein Mann sich mit Freuden verlieren kann. Ich brauche die Frau, die mein Herz höher schlagen und meine Seele jubilieren lässt. Ich brauche mein geliebtes Mädchen, dem ich mein Herz ausschütten und das ich in der Stille der Nacht in meinen Armen halten kann. Das Mädchen, mit dem ich in der frischen Morgenluft im Galopp über die Felder reiten kann und das ich in der Nacht bei mir habe, wenn draußen der Sturm tobt.“
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Das war schöner als jedes Gedicht.
Er zog sie an sich und hielt sie ganz fest. „Es tut mir leid, ich wollte dich nicht zum Weinen bringen. Du bist sicher müde.“ Er küsste sie sanft.
Eine silberhelle Glocke ertönte. „Das Mittagessen ist fertig“, sagte Grace.
„Dann geh, Liebste. Geh und iss mit deiner Familie.“ Er lächelte reumütig und strich ihr zärtlich über die Wange. „Ich habe gar nicht das Recht, dich um irgendetwas zu bitten, solange noch so ein Durcheinander herrscht. Ich fahre jetzt nach Hau... nach Wolfestone und ..."
Er hatte sich rasch korrigiert, aber es war ihr dennoch nicht entgangen - und es schmerzte sie zutiefst. Wolfestone war nicht mehr sein Zuhause.
„Mach dir keine Sorgen, ich werde die Angelegenheit mit Melly und Sir John klären. Ich lege eine großzügige Abfindung für Melly fest, sodass sie sich über das Finanzielle nicht mehr den Kopf zerbrechen muss. Außerdem muss ich dafür sorgen, dass die Reparaturarbeiten, die ich begonnen habe, auch zu Ende ausgeführt werden. Die Pächter sollen den Winter warm und trocken überstehen. Anschließend suche ich Podmore auf, den Vermögensverwalter, und bitte ihn, den Besitz zum Verkauf anzubieten und den Ehevertrag aufzusetzen.“
Grace biss sich auf die Lippe. Dieser Mann kümmerte sich um jeden, nur nicht um sich selbst. Er sprach ganz sachlich und nüchtern, aber sie wusste, wie schwer ihm das alles zusetzte. Wenn sie ihn nicht dazu gedrängt hätte, Kontakt zu den Menschen in Wolfestone aufzunehmen, wenn sie ihm nicht gezeigt hätte, wie sehr er dort hingehörte ...