17. Kapitel

O schicksalsschwere Nacht! 

Lass die Stunde der Trennung nicht nahen!

Ibn Safr al-Marini

Hiermit verkünde ich öffentlich das Heiratsaufgebot für Dominic Edward Wolfe, Lord D’Acre aus der Kirchengemeinde Wolfestone, und Miss Melanie Louise Pettifer aus der Kirchengemeinde Theale in Reading. Wer auch nur einen Grund kennt, warum diese beiden Menschen nicht in den heiligen Stand der Ehe treten sollten, möge ihn jetzt nennen. Dies ist die erste Verkündigung.“

Als Mr Netterton zu Ende gesprochen hatte, ging ein hörbares Raunen durch die Kirche. Die Einheimischen, die in Scharen in die Kirche geströmt waren, um den neuen Vikar zu sehen, kamen ganz und gar auf ihre Kosten.

„Das ist nicht ihr Name“, hörte Grace jemanden tuscheln. „Nein, er hat sie verwechselt, der Dummkopf. Nervosität ist eine Sache, aber die Namen zu verwechseln - das ist doch unmöglich!“

„Wer ist Miss Melanie Louise Pettifer?“

„Die andere. Ihre Freundin.“

Grace spürte, dass sie rot wurde. Wenn sie die Tuscheleien hören konnte, dann auch Melly und Dominic, die rechts und links von ihr saßen. Natürlich hätten die beiden wie ein Paar nebeneinander sitzen sollen, aber als sie die Kirche betreten hatten, war Dominic von irgendjemandem aufgehalten worden. In der Folge hatten sie und Melly in der Kirchenbank der Familie Wolfe Platz genommen, und Dominic hatte sich erst in letzter Minute zu ihnen gesetzt. Neben Grace.

Sie warf ihm einen Blick zu. Seine Miene war wie versteinert und nicht zu deuten. Melly hingegen sah abgehärmt, elend und verzweifelt aus. Grace drückte ihr tröstend die Hand. Arme Melly, sie saß in der Falle zwischen zwei sturen Männern.

Arme Grace, die in derselben Falle saß.

Als sie zum Altar gingen, um das Abendmahl entgegenzunehmen, versuchte Grace, nicht auf die Einheimischen zu achten, die sie mitfühlend anlächelten und die Gesichter verzogen. Alle schienen zu glauben, dass sie diejenige sein sollte, die Dominic Wolfe heiratete. Das war nicht nur peinlich, es war auch qualvoll.

Denn zufällig stimmte Grace mit ihnen überein. Doch es ging einfach nicht. Auch wenn es ihr das Herz brach, sie musste ebenfalls lächeln und freundlich sein. Sie würde gute Miene zu diesem Spiel machen, und wenn es sie umbrachte.

Sie konnte kein Mitleid ertragen. Wie naiv von ihr, sich im Glauben gewiegt zu haben, auch Grace Merridew hätte endlich die große Liebe gefunden! Sie konnte sich das höhnische Lachen ihres Großvaters nur zu gut vorstellen.

Nach dem Gottesdienst wurde Frey von seinen neuen Gemeindemitgliedern aufgehalten, die mit ihm plaudern wollten. Als Melly, Dominic und Grace unauffällig an ihm vorbeigingen, hörten sie, wie er geschickt Essenseinladungen von mehreren energischen Damen und Herren abwehrte - allesamt Eltern von Töchtern im heiratsfähigen Alter. Sie waren von weit her gekommen, um den neuen unverheirateten Vikar zu sehen und ihn predigen zu hören. Gleichzeitig versuchte er, mit mehr oder weniger unverblümten Bemerkungen von den Dorfbewohnern fertig zu werden, die sich auf seinen Versprecher beim Aufgebot bezogen.

Hin und her jonglierend mit jeweils variierenden Sätzen wie „Vielen Dank für die Einladung, aber ich bedauere außerordentlich, leider habe ich bereits einen Termin im Schloss ... Ja, ein anderes Mal herzlich gern“ oder „Nein, ich habe die Namen nicht verwechselt, zum Donnerwetter!“ machte Frey allmählich einen ziemlich entnervten Eindruck.

Dominic führte Melly und Grace zur Kutsche. Er fühlte sich wie betäubt und innerlich kalt.

„Was ist mit Mr Netterton?“, fragte Melly.

„Was soll mit ihm sein? Er kann später nachkommen“, erwiderte Dominic.

Melly sah besorgt zu Frey hinüber, der von seinen Schäfchen drangsaliert wurde, und stieß Grace an.

„Aber nein, es wäre zu grausam, ihn allein hier zurückzulassen“, sprang Grace ihr bei. „Warum geben wir ihm nicht noch eine Viertelstunde für seine Höflichkeitsgespräche, dann kann Lord D Acre den Schlossherrn herauskehren und ihn zu sich beordern.“

Sie ist so tapfer, dachte er. Sie lächelte und plauderte heiter, obwohl er ihr an den Augen ansah, wie verzweifelt sie war. Wenn sie so tapfer sein konnte, dann sollte ihm das auch gelingen. Er warf ihr einen gespielt fragenden Blick zu. „Den Schlossherrn herauskehren?“

„Ja, Sie wissen schon, mit diesem kalten, grausamen Blick, den Sie so gut beherrschen. Einem Blick, der dem armen Mr Netterton keine andere Wahl lässt, als sofort mit Ihnen zu kommen, weil ihn sonst ein grausames Schicksal ereilt.“ „Ach, den Blick meinen Sie.“ Seine Augen verengten sich zu Schlitzen.

„Genau, das ist er“, lobte sie. „Absolut Furcht einflößend.“ Er bot ihr den Arm, und sie hakte sich bei ihm unter. Sie sah ihn aus tränenfeuchten blauen Augen lächelnd an, und er hätte sie am liebsten in seine Arme gerissen und mit Versprechen getröstet, die er nicht halten konnte.

„Nun, irgendein Spektakel brauchen wir schließlich, nachdem Abdul alle so schrecklich enttäuscht hat“, fuhr sie in heiterem Plauderton fort.

„Er hat - was? Inwiefern?“

„Indem er nicht erschienen ist. Mr Netterton glaubt, dass alle zum Gottesdienst erschienen sind, um den neuen Vikar in Augenschein zu nehmen, und was die Adeligen betrifft, so stimmt das wahrscheinlich auch. Die Dorfbewohner jedoch haben noch nie einen echten Türken gesehen.“

„Echte Türken gehen für gewöhnlich nicht zu anglikanischen Gottesdiensten.“

„Unsinn, das hier ist England, hier gehen viele Menschen nicht in die Kirche. Trotzdem sind sie heute gekommen in der Hoffnung, Abdul zu sehen. Abgesehen davon, vor den Osmanen war Konstantinopel das Herz der katholischen Kirche. Da ist anzunehmen, dass es dort noch ein paar Christen gibt.“

„Nicht Abdul. Ich glaube sogar, er hängt gar keiner bestimmten Glaubensrichtung an. Und Türke ist er eigentlich auch nicht direkt. Seine Mutter war die Tochter einer tscherkessischen Sklavin, sein Vater Ägypter mit griechischen Wurzeln. Je weiter man Abduls Stammbaum zurückverfolgt, desto komplizierter wird es. Er selbst sagt, er wäre ein echter Osmane - er würde jedes Land des Osmanischen Reichs repräsentieren.“

Dominic wollte Miss Pettifer seinen anderen Arm bieten, aber sie unterhielt sich gerade angeregt mit Granny Wigmore. Er wartete einen Augenblick, doch das Gespräch schien noch eine Weile zu dauern. Daher beschloss er, mit Grace ein wenig über den Friedhof zu schlendern. Er drückte ihren Arm an sich und legte seine Hand über ihre, und wie immer tröstete ihn ihre Nähe.

Ein paar Minuten lang gingen sie schweigend nebeneinander her, und allmählich ließ seine Verzweiflung nach. Er spürte, wie auch von Grace die Anspannung abfiel. „Schrecklich, wie sie den armen Frey korrigieren wollten, nicht wahr?“ Sie antwortete nicht, und er legte kurz den Arm um sie. „Mach dir nicht so viele Sorgen, Grace. Alles wird gut, das verspreche ich dir.“ Diese Geschichte musste einfach ein gutes Ende nehmen. Nach einer Weile fragte er: „Woher weißt du nur all diese Dinge? Zum Beispiel, dass alle Abdul angaffen wollten? Du bist genauso lange hier wie ich, und ich habe keine Ahnung, was in den Köpfen der Dorfbewohner vorgeht.“

„Das ist ein Geheimnis. Manche nennen es eine Gabe“, erwiderte sie gespielt rätselhaft.

„Ach ja?“, gab er trocken zurück.

Sie lächelte. „In den letzten Tagen habe ich den Überblick darüber verloren, wie viele Dorfbewohner mich gefragt haben, ob es stimmt, dass Seine Lordschaft einen echten Türken im Schloss hat. Es scheint, die Leute hier haben ein weit zurückreichendes Gedächtnis.“

„Viel zu weit“, stimmte er inbrünstig zu. „Aber, was zum Teufel, hat das mit Abdul zu tun? Er ist doch gerade erst hier eingetroffen.“

Sie sah ihn an, und es ging ihm zu Herzen, wie tapfer sie sich bemühte, ihn aufzuheitern. „Nun, zuerst sprach man darüber, wie sehr du deinen Vorfahren ähnelst. Von großer Bedeutung im kollektiven Dorfgedächtnis ist ein gewisser Sir Simon Wolfe, der an der Seite von Richard Löwenherz während der Kreuzzüge gekämpft hat und zum ersten Lord D Acre ernannt wurde.“

Er schnaubte, weil er die Erinnerungen an seine Vorfahren langsam gründlich leid war. „Und?“

Diesmal war ihr Lächeln vollkommen echt. „Sir Simon hat einen echten Türken als Gefangenen mitgebracht. Die Dorfbewohner sind begeistert, dass du diese Tradition fortführst.“

„Um Himmels willen!“, rief er empört aus.

Sie lachte, und seine Stimmung hob sich. Plötzlich fühlte er sich viel zuversichtlicher. Ihre kleine, feste Hand fühlte sich so gut auf seinem Arm an, so richtig. Er passte seine Schritte ihren kürzeren an. Beim Gehen berührten sich ihre Körper, ganz leicht nur, aber es war eine Verheißung auf das, was die Zukunft bereithalten konnte.

Er würde einen Weg finden.

„Ach, sieh mal.“ Sie blieb vor einer Gedenktafel stehen, die in ein mit Flechten überwachsenes Grabmal eingelassen war, auf dem ein steinerner Engel stand. Das Grab befand sich auf einer großen, vom restlichen Friedhof mit einem Eisenzaun abgetrennten Rasenfläche. Grace las laut die Inschrift: „Martha Jane Wolfe, Lady DAcre, Gemahlin von Gérard Wolfe, Lord DAcre of Wolfestone.“

Unter der Hauptinschrift standen noch sechs kleinere, jede beinhaltete einen Namen und ein Datum. Grace drückte Dominics Arm, als sie die Bedeutung begriff. „Die arme Frau, wie viele Kinder sie verloren hat... Sie ist ganz jung gestorben.“

Dominic sah auf das Grab. Noch eine Unschuldige, die für Wolfestone geopfert worden war. Nun, damit war jetzt Schluss. Er führte Grace von dem Grabmal weg.

„Wirst du es wirklich tun?“, fragte sie auf einmal. Er wusste, was sie meinte.

„Ich will nicht darüber reden.“ Er wusste, was er wollte, doch die Menschen bekamen nicht immer, was sie wollten.

Sie entzog ihm ihren Arm. „Aber du musst eine Entscheidung treffen.“

„Muss ich das?“ Er sah hinüber zu Frey und seinen Gemeindemitgliedern. „Die Dinge sind in Bewegung gesetzt.“ Er konnte den Ausdruck in ihren Augen nicht ertragen. Er würde Frey jetzt seinen Gemeindemitgliedern entreißen und zusehen, dass er von hier wegkam. Entschlossen ließ er Grace stehen und ging auf die Gruppe zu.

Melly wartete still im Hintergrund und beobachtete Frey mit einem Gesichtsausdruck, der Grace das Herz brach. Die arme Melly - gefangen in einem schrecklichen Dilemma und unfähig, irgendetwas dagegen zu unternehmen. Grace konnte sich nicht vorstellen wie es sein musste, mit der Gewissheit zu leben, seinen Vater nicht nur unsagbar enttäuscht, sondern auch noch seinen Tod verursacht zu haben.

Du hast deine Mama umgebracht, Grace.

O doch, ja, sie konnte es sich vorstellen. Und das wünschte sie ihrem ärgsten Feind nicht, schon gar nicht einem zarten, unschuldsvollen Geschöpf wie Melly. Nur - was sollten sie tun?

Grace wusste nur eins. Sie konnte das alles nicht länger ertragen.

Nach der Kirche klopfte Grace an Sir Johns Tür. Melly ging mit Frey im Garten spazieren. Grace konnte die beiden