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Bount Reiniger hatte das Herumstehen satt. Er setzte sich in seinen Mercedes, fuhr aber nicht weg. Er nützte die Verschnaufpause zum Telefonieren. Er rief zu Hause an, fragte Mac ob alles in Ordnung wäre und ob jemand angerufen hätte.

„Alles friedlich, Bount“, sagte Mac Potter. „Ich dachte schon, unser Telefon hätte ’nen Schaden.“

Anschließend rief Bount Captain Rogers an. Von ihm erfuhr er, dass die Fahndung nach Art Lorca noch kein Ergebnis gezeitigt hatte. Zwei Cops standen da, wo Lorca bis gestern noch gewohnt hatte.

„Möglich, dass er den beiden in die Hände läuft“, meinte Toby Rogers voll Hoffnung in der Stimme. Er baute darauf, aber er wusste, dass er sein Häuschen zu neunzig Prozent auf Sand errichtet hatte.

Auf die Frage: „Und was tut sich bei dir?“, erzählte Reiniger dem Freund, wo er sich befand und wen er hier kennengelernt hatte.

„Hat es denn noch einen Zweck, mit dem Mädchen zu reden, Bount?“, fragte der Captain darauf. „Wenn dieser Barry Carrera wirklch so gerissen ist, wie du sagst, dann hat er jetzt genügend Zeit, das Mädchen zu präparieren. Die wird keinen Ton sagen, wenn sie aus dem Studio kommt.“

„Mal abwarten!“, erwiderte Bount hartnäckig. „Ich glaube nicht, dass Carrera das Mädchen jetzt bearbeitet. Sie hat zu singen. Sie muss ihren Job tun. Er wird sie nicht daran hindern. dass ich hier auf sie warte, kann er nicht wissen.“

„Und wenn sie das Gebäude gemeinsam verlassen?“

„Dann werde ich ihnen eben folgen. Irgendwann werden sie sich trennen. Das ist der Moment, in dem ich zuschlage.“

„Steht wohl alles im Handbuch für Privatdetektive, wie?“, spottete Rogers.

„Das gibt es wenigstens. Aber ein Handbuch für arbeitsscheue Bullen habe ich noch nicht gesehen“, erwiderte Reiniger giftig. Dann unterbrach er blitzschnell die Verbindung.

Zwei Minuten später trat Barry Carrera aus dem Gebäude.

Er war allein.

Er hatte es eilig, seinen Jaguar zu erreichen. Kaum war die Tür zugefallen, röhrte schon der starke Motor auf. Bount sah ihn mit verkniffenem Mund am Lenkrad drehen.

Sekunden später fädelte sich der goldene Flitzer in den spärlich vorbei flutenden Verkehr ein. Das war im vorhinein ein halber Punkt für Reiniger. Er stieg aus seinem Mercedes, um sich auch die zweite Hälfte des Punktes zu holen.

Es vergingen noch zehn Minuten, bis Samantha York aus dem Gebäude trat. Sie schaute weder links noch rechts, begab sich mit einem beeindruckenden Hüftengewackel zu ihrem ockerfarbenen Thunderbird und schloss auf.

„Darf ich mich für ein paar Minuten zu Ihnen in den Wagen setzen?“, fragte Bount hinter ihr.

Sie zuckte erschrocken herum. Ihre hellblauen Augen hatten sich geweitet. Nun senkten sich die getuschten Wimpern wieder.

„Ich wollte Sie nicht erschrecken, Miss York.“

„Sie sind Reiniger, nicht wahr?“

„Barry Carrera hat also mit Ihnen über mich gesprochen.“

„Natürlich.“

„Darf ich mich trotzdem zu Ihnen setzen?“

„Muss das sein?“

„Ich fürchte ja.“

„Ich habe wenig Zeit.“

„Ich auch“, erwiderte Bount lächelnd.

Samantha strich nervös über ihr Gatsby-Kleid und seufzte.

„Okay, Mr. Reiniger. Ich fürchte, ich bin nicht hartnäckig genug, um Sie abzuweisen.“

Bount setzte sich auf den Beifahrersitz. Samantha wandte ihm ihr hübsches Gesicht zu.

„Barry hat mir verboten, mit Ihnen zu reden, Mr. Reiniger.“

„Ich hoffe, Sie halten sich nicht an dieses unsinnige Verbot.“

„Barry meint es gut mit mir.“

„Ich meine es nicht minder gut mit Ihnen, Miss York.“

„Sie suchen Art Lorca.“

„Ja, Miss York.“

Das Mädchen senkte den Blick.

„Eigentlich sollte ich ihn hassen, nach alldem was er mir angetan hat. Aber ich kann es nicht. Ich kann nicht hassen. Das ist nicht meine Art.“

„Darüber brauchen Sie nicht traurig zu sein, Miss York. Es ist keine Schwäche, wenn man nicht fähig ist, jemanden zu hassen. Im Gegenteil. Das zeichnet Sie aus.“

„Es war eine scheußliche Zeit mit Art Lorca. Ich wollte, es hätte sie nicht gegeben.“

„Aber nun hat es sie mal gegeben, und Sie müssen damit fertig werden. Manche Menschen haben schlimmere Dinge zu bewältigen.“

Das Mädchen nickte.

„Sie haben recht, Mr. Reiniger. Ich sollte froh sein, mit einem blauen Auge davongekommen zu sein.“

Bount empfand Mitleid mit Samantha York. Sie schien mit der Wahl ihrer Partner keine glückliche Hand zu haben.

Es wäre zwar nicht richtig gewesen, zu behaupten, sie sei vom Regen in die Traufe gekommen, aber der ideale Partner war ein Windhund wie Barry Carrera auch nicht gerade.

Samantha war ein Mädchen, das ausschließlich von Gefühlen beherrscht wurde. Sie war zwar nicht dumm, aber sie musste das tun, was sie fühlte, nicht das, was sie dachte. Sie schenkte sich Barry Carrera vermutlich genauso rückhaltlos, wie sie sich zuvor Art Lorca geschenkt hatte. Sie war immer mit ganzem Herzen bei der Sache, und das war schlecht. Zumindest in Lorcas und Carreras Fall.

„Geben Sie mir einen Tipp, wo ich Art Lorca finden kann, Miss York“, sagte Bount.

„Er wohnt...“

„Da stehen zwei Cops. Ich brauche eine andere Adresse, Samantha. Eine, die die Polizei nicht kennt.“

„Glauben Sie wirklich, dass er seinen Bruder ermordet hat, Mr. Reiniger?“

„Ich bin davon überzeugt. Trauen Sie ihm eine solche Tat etwa nicht zu?“

Samantha übte wieder dieses unnachahmlich sanfte Achselzucken.

„Ich weiß es nicht. Er hat nie schlecht über seinen Bruder gesprochen.“

„Er brauchte immer Geld. Samuel Lorca wollte ihm keines mehr geben. Vielleicht kam es zu einem Streit zwischen den beiden. Art drehte durch ..“

Samantha seufzte.

„Er ist ein schlechter Mensch, Mr. Reiniger. Ich war blind, als ich ihn kennenlernte.“

„Sie müssen nicht darüber sprechen, wenn Sie nicht wollen.“

„Es wird sehr schwer sein, ihn zu vergessen.“

„Ich bin davon überzeugt, dass Sie es eines Tages schaffen werden. Sie sind jung, Samantha. Ein beruflicher Erfolg wird Sie schneller darüber hinwegkommen lassen. Sie werden mit sich selbst so viel zu tun haben, dass Sie keine Zeit mehr haben werden, an Art Lorca zu denken.“

„Ich wollte, ich könnte Ihnen sagen, wo Art sich versteckt, Mr. Reiniger. Sie sind nett.“

„Dann nennen Sie mich Bount.“

„Okay, Bount.“ Sie war ein Mädchen, das Leute um sich brauchte, die sie gern hatten. Ihre Brauen zogen sich zusammen. Die Stirn kräuselte sich. Sie dachte angestrengt nach. „Was halten Sie von Barry Carrera, Bount?“, fragte sie unvermittelt.

„Er wird Ihnen den Erfolg bringen, den Sie brauchen“, antwortete Bount ausweichend.

„Wie passt er zu mir?“

„Das ist eine heikle Frage, Samantha.“

„Beantworten Sie sie ehrlich, Bount! Bitte!“ Sie war unsicher. Nach dem Reinfall mit Art Lorca war sie ein gebranntes Kind, das das Feuer zwar fürchtete, aber ganz ohne Feuer nicht leben konnte.

„Barry Carrera ist ein äußerst attraktiver Mann“, wich Bount immer noch aus.

„Das sind Sie auch.“

„Er gefällt gewiss vielen Frauen.“

„Sie meinen, es muss ihm sehr schwerfallen, mir treu zu sein?“

„So ungefähr.“

Samantha lächelte.

„Er sieht keine andere Frau an, Bount.“

Wie naiv du bist! dachte Bount Reiniger. Aber es war nicht seine Aufgabe, diesem Mädchen über Barry Carrera die Augen zu öffnen.

„Ich fürchte, wir reden mehr und mehr aneinander vorbei, Samantha. Ich bin nicht an Barry Carrera interessiert, sondern an Art Lorca. Er hat sich einen neuen Schlupfwinkel gesucht. Den muss ich finden.“

„Er hat kaum einen Freund“, meinte die Schlagersängerin nachdenklich. „Niemand würde ihn bei sich aufnehmen. Niemand außer - Emilio Sacca. Vielleicht würde ihm Emilio diesen Gefallen erweisen. Ich weiß es nicht.“

„Wer ist Emilio Sacca?“, fragte Bount, schnell nachhakend.

„Ein Mann, der Art Lorca das Wasser reichen kann.“

„Wo wohnt er?“

„Das weiß ich nicht. Aber ich weiß, wo er arbeitet.“

„Ist mir neu, dass solche Typen arbeiten“, sagte Bount.

„Kennen Sie den Supermarkt in der Metropolitan Avenue gegenüber dem Linden Hill Cemetery ?“

„Nein.“

„Wenn Sie vom East River kommen, fahren Sie bis zur Kreuzung Metropolitan Avenue/Flushing Avenue. Dann haben Sie rechts den Linden Hill Cemetery und links den Supermarkt, in dem Emilio Sacca als Regalbetreuer arbeitet.“

„Jetzt finde ich hin“, sagte Bount und stieg aus dem Thunderbird.

Samantha wünschte ihm viel Erfolg, und dasselbe wünschte er ihr. Dann trennten sie sich.