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Sie hatten einen drauf gemacht, dass sich die Balken bogen. Nun waren sie blau wie die berühmten Veilchen. In gewissen Gegenden hätte man das bereits als sternhagelvoll bezeichnet.

Es war ja auch allerlei zusammen gekommen in den letzten sieben Stunden, in denen man eine grandiose Wiedersehensfeier vom Stapel gelassen hatte. Man hatte ganz harmlos mit Bier begonnen, war dann nahtlos zu Wein über gewechselt und hatte sich mit fortgeschrittener Stunde nur noch auf harte Sachen konzentriert.

Nun hockten sie albernd und kichernd wie zwei Zwölfjährige im Fond des Yellow Cabs, und der Driver konnte gar nicht oft genug den Kopf schütteln.

Was wusste er schon davon.

Sie hatten sich 1952 zum letzten mal gesehen. Zweiundzwanzig Jahre waren vergangen. Trotzdem hatten sie einander sofort wiedererkannt, als sie vor dem RCA-Gebäude in größter Eile gegeneinanderstießen. Sie hatten beide eine Entschuldigung murmeln wollen, doch dann hatte es sie wie ein Blitzschlag aus heiterem Himmel getroffen, und mit ihm war alle Eile, die sie getrieben hatte, vergessen gewesen.

„Bount!“, hatte Samuel Lorca gebrüllt, dass sich die Leute umgedreht hatten. „Bount Reiniger! Ist das denn die - verdammt, ist das denn die Möglichkeit!“

„Lorca!“, hatte Bount nicht minder laut zurück gebrüllt. Und wieder hatten sich die Leute nach ihnen umgewandt. Aber was kümmerte die beiden Männer diese fremden Leute. „Sam Lorca! Du altes, verstunkenes Stinktier!“

Sie waren einander in die Arme gefallen und hatten sich lachend die Wirbelsäulen zu zertrümmern versucht, indem sie donnernd darauf geschlagen hatten.

Als Lorca zu husten begann, hatte Bount zu klopfen aufgehört.

Das war die Einleitung gewesen. Man stellte danach fest, dass der Andere sich überhaupt nicht verändert hätte, und dass so verdammt viel zu erzählen wäre, und man müsse sich doch nach all den langen Jahren wieder mal zusammensetzen und quatschen und Blödsinn machen wie damals, 1952, als sie einander als Marine-Infanteristen in Korea bei den Ledernacken kennengelernt hatten.

Sie wollten sich verabreden - und plötzlich tauchte die harmlose Frage auf: Warum nicht jetzt sofort? Was du heute kannst besorgen - dergleichen Sprüche gibt es viele. Sie hielten das Rad der Zeit an. Was sie zur Eile getrieben hatte, konnte auf einmal warten. Sie begannen wie zwei gute alte Freunde durch New York zu tingeln, redeten von damals, von heute und von dem, was dazwischen lag.

The Baron Steak House, The Captains Table, China Bowl und Old Hungary waren nur einige Stationen auf ihrem weiten Weg durch die Stadt gewesen.

Und nun hockten sie voll wie zwei Strandhaubitzen im Fond dieses Yellow Cabs und hatten immer noch nicht genug voneinander, von den verrückten Späßen, von dieser herrlichen Nacht, die zwei gute Freunde nach zweiundzwanzig Jahren wieder zusammengeführt hatte.

Samuel Lorca hatte in der Vergangenheit hart an sich gearbeitet. Heute war er verheiratet, kinderlos und ohne Sorgen. Er hatte schon immer eine Vorliebe für außergewöhnliche Berufe gehabt, deshalb war Lorca heute auch nicht Milchmann oder Schreibtischhengst, sondern Reptiliengroßhändler. Doch Lorca begnügte sich nicht bloß damit, dass man ihm die Reptilien frei Haus lieferte. Er zog ein- bis zweimal im Jahr selbst in die Welt hinaus, um in Asien oder Südamerika all das Getier zusammen zu fangen, das sich hier in New York so wunderbar verkaufen ließ.

Lorca war ein Grizzly von einem Mann. Er hatte das gutmütigste Gesicht, das man sich denken kann. Sein Haar war rötlich, die Augenbrauen ebenfalls. Von Giftschlangen war er öfter gebissen worden, als Bount Reiniger in seinem ganzen Leben an Grippe erkrankt gewesen war. Wenn ihn heute eine Kreuzotter anflog, um ihm ihre Giftzähne in die Hand zu schlagen, spürte er davon so gut wie gar nichts. Gegen ihr Gift war er inzwischen immun geworden.

Aber er erzählte beinahe ehrfurchtsvoll von einer Sandviper, die ihm vor vier Jahren in Israel beinahe den Lebensfaden durchgebissen hätte. Vermutlich hätte er diese heutige Sauftour durch New York nicht mehr machen können, wenn man nicht in einem nahegelegenen Krankenhaus das Gegengift gehabt hätte.

Trotzdem liebte dieser verrückte Kerl seinen Job immer noch. Und ganz versessen war er nach wie vor auf das Fangen von Schlangen.

Bount Reiniger und Sam Lorca waren unterwegs zum Lagerhaus des Reptilienhändlers. Mit sichtlichem Besitzerstolz hatte Lorca gemeint, Bount müsse sich noch unbedingt seine lieben Tierchen ansehen.

Das Lagerhaus befand sich in der Nähe der Manhattan Bridge.

Mitternacht war seit einer Stunde vorbei. Eine schwarze, sternlose Nacht wölbte sich über New York. Vom Atlantik her wehte ein nach Tang und Öl riechender kalter Wind in die tiefen Fugen Manhattans hinein.

Als der Taxifahrer auf die Bremse tippte, nickte Samuel Lorca zufrieden. Seine Gesichtszüge entgleisten zu einem breiten Grinsen.

„Da wären wir, Bount.“

Er wies auf ein Gebäude aus grauem Beton mit Flachdach. Über dem breiten Eingangstor stand Lorcas Name.

„Da drinnen wirst du Augen machen, Kumpel!“, versprach der Schlangenfänger. Er wollte die Taxifahrt bezahlen. Aber Bount war ihm zuvorgekommen. Nun begannen sie darüber zu streiten, wem das Recht zustünde, bezahlen zu dürfen.

Der Fahrer setzte eine Miene auf, die darauf schließen ließ, dass er eine kaputte Leber hatte.

„Sagt mal, Jungs, könnt ihr die Sache nicht draußen austragen?“

„Draußen ist es zu kalt“, sagte Lorca kategorisch. Dann wandte er sich wieder an Bount. „Also was ist nun, du sturer Hund? Nimmst du das Geld, oder muss ich es dir in die dämliche Fresse stopfen?“

Reiniger grinste belustigt.

„Ich mag Geld zwar, aber ich habe es nicht zum Fressen gern.“

„Du hast dich kein bisschen verändert, Bount.“

„Du auch nicht, Sam.“

„Hast immer noch diesen verdammten Dickschädel wie damals.“

„Genau wie du.“

„Hör endlich auf, Retourkutschen zu fahren!“

„Okay, Sam. Ich höre auf, wenn du dein Geld wegsteckst. Ich kann es mir zum Glück leisten, dich einzuladen.“

„Ich etwa nicht? Bin ich denn ein armer Schlucker?“

„Besser ein armer Schlucker als ein reicher Kacker.“

„Uhr läuft wieder!“, rief der Taxifahrer dazwischen. Darüber waren die Freunde dermaßen erbost, dass sie den Fahrer verfluchten. Am Ende löste sich aber doch alles in Wohlgefallen auf. Der Fahrer bekam ein Trinkgeld, mit dem er sich die nächste Woche auf die faule Haut legen konnte. Wankend und schwankend kämpften sich die beiden Betrunkenen mit wechselnder Schlagseite aus dem Yellow Cab. Sobald sie ihren Hintern draußen hatten, gab der Fahrer Gas, um zu verhindern, dass sie noch mal zurückkehrten.

Lorca schloss die Tür auf und machte alle Lichter im Lagerhaus an. Man konnte die Reptilien hier drinnen riechen.

Die meisten Behälter waren aus Glas.

Es waren mit Liebe und Fachkenntnis angelegte Terrarien. In ihnen befanden sich Zauneidechsen, Smaragdeidechsen, Kragenechsen, einige prachtvolle Chamäleons.

Wie tot lagen die verschiedenartigen Schildkröten zwischen den Steinen. Von der griechischen Landschildkröte bis zur Sumpfschildkröte war alles in vielfacher Auflage vorhanden.

Zwei junge Nilkrokodile lagen faul und leblos wie Baumstämme im Wasser.

Doch diese Tiere waren für Samuel Lorca lediglich Beiwerk. Sie gehörten zur Gattung der Reptilien, deshalb handelte er auch mit ihnen. Aber seine eigentliche Liebe gehörte den Schlangen.

„Schon mal eine Tigerpython um den Hals gehabt, Bount?“, fragte er grinsend. Und ehe Reiniger darauf antworten konnte, hatte er das lange dicke Ding schon auf den Schultern. Er war froh, betrunken genug zu sein, um sich vor dem beinlosen Biest nicht so sehr zu fürchten, wie er das in nüchternem Zustand getan hätte.

„Prachtvolles Tier“, sagte er, um Lorca eine Freude zu machen.

Der Tierhändler lachte amüsiert.

„Dein Gesicht müsstest du jetzt sehen, Bount. Komisch! Urkomisch, sag ich dir!“

„Wenn du die Güte hättest, mir das bewegliche Transatlantikkabel wieder abzunehmen, hätte ich nichts dagegen“, sagte Bount mit schwerer Zunge.

Grinsend griff sich Lorca den dicken Gartenschlauch, um ihn wieder in seinen Käfig zu werfen.

Da ließ plötzlich ein knöchernes Rasseln Bount Reinigers Blut in den Adern gerinnen. Halbseitig gelähmt wandte er sich um. Verdammt, dieser Sam Lorca ging mit seinen Tieren um wie der Obsthändler mit den Bananen. Sorglos bis zur Unverantwortlichkeit. So besoffen, wie er war, hätte er keines der Terrarien öffnen dürfen. Aber er hatte es getan. Und das tödliche Ergebnis lag nun zusammengerollt auf dem Boden dieses Lagerhauses und rasselte drohend mit dem Schwanz. Gebannt starrte Bount Reiniger auf die prachtvoll gezeichnete Diamantklapperschlange. Sie hatte den Körper bereits in einigen Schlingen zurückgenommen. Die gespaltene Zunge federte immer wieder aus ihrem Maul. Ihr starr wirkendes Augenpaar war auf Bounts Beine gerichtet, die nur wenige Zentimeter von ihrem kleinen, gefährlichen Kopf entfernt waren.

Jede Sekunde konnte das Tier vorschnellen und zubeißen.

Bount stand ein glitzernder, eiskalter Schweiß auf der Stirn. Er war zwar immer noch betrunken, aber er wusste mit einer schmerzhaften Deutlichkeit, in welch ungeheurer Gefahr er sich befand.

„Sam!“, flüsterte er atemlos. „Sam! Ich fürchte, dein Liebling mag mich nicht!“

„Nicht bewegen, Bount!“, zischte der Schlangenfänger aufgeregt.

„Denkst du, ich wäre dazu jetzt fähig?“, gab Bount heiser zurück.

Kein Jahreswechsel, kein Feuergefecht mit einem Gangster hatte jemals so intensiv den Wendepunkt in Reinigers Leben zu verkörpern vermocht, wie es diese Diamantklapperschlange mit dem nervtötend laut rasselnden Knochenschwanz tat.

An Bounts Schläfe pochte eine Ader. Schweißtropfen kitzelten ihn an den Wangen. Er wollte sie wegwischen. Zum Glück waren seine Arme aber mit Blei gefüllt. Er konnte sie nicht heben.

Züngelnd hob die Schlange den Kopf.

Lorca ging auf die Schlange zu, nachdem er einen Halbkreis beschrieben hatte. Mit seinem Rausch schien es schlagartig vorbei zu sein. Sein konzentrierter Blick ähnelte dem der Schlange. Er sah nirgendwo anders hin, nur auf das Reptil, dessen drohendes Gerassel merklich lauter wurde. Wenn es den Höhepunkt seiner Erregung erreicht hatte, würde es blitzschnell zubeißen. Und wenn Bount dann nicht rasch ein Gegengift injiziert wurde, waren Mac Potter, sein Hausfaktotum, und dessen Frau vorübergehend wegen eines tragischen Todesfalls arbeitslos.

„Ruhig, Bount! Ganz ruhig!“, raunte Lorca seinem Freund zu.

Das Gesicht des Schlangenfängers war zu einer steinernen Maske geworden. Er atmete tief und regelmäßig. Nur an seiner Schweiß bedeckten, gekräuselten Stirn war zu erkennen, dass ihn die Situation genauso erregte wie Bount.

Er ging auf das gefährliche Tier zu, als schritte er über frische Hühnereier. Als er die Schlange fast erreicht hatte, beugte er sich behutsam nach unten. Bount drückte ihm im Geist die Daumen. Lorca streckte den rechten Arm aus. Er leckte sich schnell über die Lippen. Totale Konzentration schimmerte in seinen wachsamen Augen. Er wusste, wie er das Reptil packen musste. Und wenn er nüchtern gewesen wäre, hätte Bount jede Menge Vertrauen zu Samuel gehabt. Aber Lorca war blau. Selbst wenn man ihm das im Moment nicht anmerkte; er war trotzdem immer noch blau. Würde er in seinem Zustand schnell genug zufassen können? Er brauchte nicht mal daneben zu fassen. Er brauchte nur um einen lächerlichen Bruchteil einer Sekunde langsamer zu sein als sonst.

Wie die Blätter einer Knospe öffneten sich Samuels Finger. Die Bewegungen waren rund. Die Finger zitterten so wenig wie Bount Reinigers Finger zitterten, wenn er beim Pokern einen Royal Flush in der Hand hatte.

„Ruhig, Bount! Ganz ruhig!“, sagte Lorca noch einmal. „Gleich ist es überstanden!“

Da schnellte der kleine Schädel der Klapperschlange blitzartig nach vorn. Bount presste in dieser Schrecksekunde Augen und Mund zusammen. Gleichzeitig hielt er gebannt die Luft an, während er auf den Schmerz des Bisses wartete.

Doch der Schmerz blieb aus.

Als er Samuel Lorca lachen hörte, öffnete er verwirrt die Augen. Lorcas große Hand umschloss den Leib der Schlange gleich hinter dem Kopf. Wütend schlang das Reptil nun seinen Körper um Lorcas Unterarm.

Der Schlangenfänger hielt sich das Tier dicht vor die Augen und knurrte: „Sag mal, ist das eine Art, meinen besten Freund zu behandeln, du bissiges Luder?“

Bount ließ zischend den Überdruck ab. Die Lähmung löste sich aus seinen Gliedern. Aber das Vibrieren in den Knochen wurde er vorläufig nicht los.

Was Lorca in seinem Lagerhaus sonst noch zu bieten hatte, interessierte ihn so sehr wie ein Zebra die Streifen auf dem Fell des anderen. Da Bount sich so wohl fühlte, als hätte er Termiten unter der Perücke, fing die Stimmung bald schon zu faulen an. Die Freunde beschlossen, für heute Schluss zu machen. Doch es sollten nicht wieder zweiundzwanzig Jahre bis zum nächsten Wiedersehen vergehen. Jeder wusste vom Anderen die Adresse. Die Männer vereinbarten, in zwei Tagen telefonisch wieder Kontakt aufzunehmen.

In diesem Sinne trennte man sich.