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Ein Kerl, der so aussah wie dieser, konnte nicht einmal seiner eigenen Mutter sympathisch sein. Ein Ausdruck von Feindseligkeit, von Brutalität und stetem Misstrauen machte aus seinem Gesicht eine ständige Grimasse. Kalt und hart blickten seine Augen unter dicken fleischigen Lidern hervor - so seelenlos wie zwei Glaskugeln. Er war rötlich blond und etwa fünfundzwanzig Jahre alt. Er wirkte schwerfällig, aber Bount Reiniger wusste, dass er sich von diesem Eindruck nicht täuschen lassen durfte.
Die Lippen des Mannes waren zu schmalen Strichen geworden. Nun presste er die Kiefer fest aufeinander, wodurch die Backenmuskeln zu zucken begannen. Sein Blick war starr auf Bounts Waffe gerichtet. Die Hand, die zur Colt Commander unterwegs gewesen war, hatte es sich kurz davor anders überlegt. Aufgeregt atmend hob der Mann beide Arme. So hoch, als wollte er die getäfelte Decke stützen.
Bount Reiniger entspannte sich.
Er hatte mit einem Feuerwechsel gerechnet. Der Bursche sah nämlich ganz danach aus, als könnte er der Unvernunft die Krone aufsetzen.
Aber der Kerl gab sich zahm. Abwartend stand er dicht neben dem offenen Wandsafe. Er war noch nicht dazugekommen, sich den Inhalt unter den Nagel zu reißen, und das schien ihn sehr zu ärgern.
Reiniger machte zwei schnelle Schritte in das Arbeitszimmer. Ringsherum ragten Bücherregale bis zur Decke hinauf. Tierbücher standen in jeder Form und Größe auf den Brettern, die in der Mitte leicht durchhingen. Fachliteratur für einen Tierfänger und Reptiliengroßhändler.
Bount bemerkte in den kalten Augen des Mannes ein jähes Blitzen. Bei Burschen dieses Kalibers bedeutete das größte Gefahr.
Obwohl Bount Reiniger wusste, dass er von jetzt an höllisch aufpassen musste, beging er den Fehler trotzdem.
Jill Lorca war schuld daran.
„Bount!“, rief sie aufgeregt hinter ihm, und Reiniger zuckte wütend herum, weil er der Witwe doch aufgetragen hatte, in ihrem Schlafzimmer zu bleiben. Hier unten war sie in Gefahr.
„Zurück!“, schrie er sie besorgt an.
Dann überstürzten sich die Ereignisse. Der Mann nutzte die kleine Chance. Bount Reinigers kurze Unachtsamkeit genügte ihm, um das Blatt zu seinen Gunsten zu wenden. Es hatte jetzt keinen Sinn, sich den Kopf zu zerbrechen, wer nun mehr Schuld auf sich geladen hatte. Bount oder Jill Lorca. Wohl beide. Bount hätte die Frau nicht beachten dürfen. Jill hätte nicht herunterkommen dürfen. Aber sie war nun mal da und nicht mehr wegzudiskutieren. Und Bount hatte sich durch ihr Auftauchen irritieren lassen.
Der Fremde wäre ein Hornochse erster Ordnung gewesen, wenn er diese Gelegenheit nicht genützt hätte.
Blitzschnell fasste er nach der Commander.
In derselben Sekunde spuckte sie schon Blei. Eine orangefarbene Feuerlanze fauchte aus dem klobigen Lauf. Brüllend laut war die Schussdetonation. In dieses Brüllen des Schusses mengte sich das entsetzte Kreischen von Jill Lorca, die mit einem wilden Satz vom Türrahmen wegschnellte.
Bount Reiniger ließ sich reaktionsschnell auf den Bauch fallen.
Während er fiel, riss er den Abzug seiner Waffe durch. Er nahm sich nicht die Zeit, zu zielen. Sein Gegner sollte nur das Gefühl kriegen, auch in Gefahr zu sein.
Der Mann wechselte die Position. Bount Reiniger wälzte sich ebenfalls zur Seite. Sein nächster Schuss lag bereits genauer. Das Projektil zerfetzte den Ärmel des Jacketts und riss dem Mann die Haut am linken Oberarm auf. Das brachte den Kerl so sehr in Rage, dass er blindwütig um sich zu ballern begann. Bount hatte große Mühe, sich vor den gefährlichen Kugeln in Sicherheit zu bringen.
Plötzlich klirrte Glas.
Ehe Bount Reiniger einen Treffer anbringen konnte, sprang dieser durch das kaputtgeschlagene Fenster nach draußen.
Reiniger federte augenblicklich hoch. Mit wenigen weiten Sätzen erreichte er das Fenster. Knirschend brachen die Glasscherben unter seinen Schuhen. Die unwirtliche Kälte der Oktobernacht legte sich auf sein erhitztes Gesicht.
Der Mann war spurlos verschwunden.
Er war vom dicken Nebel mit Haut und Haaren geschluckt worden. Es hatte keinen Sinn, ihn zu verfolgen. Er konnte in jede Richtung gelaufen sein.
Mit einer ungestümen Geste schob Bount Reiniger die Automatic in das Schulterholster zurück. Er war mit dem Ausgang dieser Auseinandersetzung in höchstem Maße unzufrieden und wandte sich zähneknirschend vom Fenster ab.
Zitternd und mit einem schuldbewussten Ausdruck in den bleichen Zügen trat nun Jill Lorca in das Arbeitszimmer.
„Verzeihen Sie, Bount!“, sagte sie verlegen. „Es war mein Fehler...“
„Wir haben beide gepatzt, Jill. Ich habe mich wie ein blutiger Anfänger benommen. Ich hätte mich von Ihnen nicht ablenken lassen dürfen.“
„Sie hatten nicht damit gerechnet, dass ich herunterkommen würde, nicht wahr?“
„Allerdings.“
„Ich habe es dort oben nicht mehr ausgehalten, Bount“, brachte die Witwe zu ihrer Entschuldigung vor.
„Schon gut, es hat keinen Sinn, dass wir einander jetzt die Augen aushacken.“
Jill blickte mit kummervoller Miene zum Safe.
„Es ist noch alles drin, Jill“, sagte Bount. „Er fand keine Zeit seine Giftfinger in den Safe zu stecken.“
Jill Lorca setzte sich. Sie zog den Schlafrock fröstelnd vor dem üppigen Busen zu und starrte Löcher in den neuen Teppich.
Reiniger durchstöberte die drei übereinanderliegenden Stahlfächer. Keine einzige Banknote befand sich im Safe.
Rechnungen. Lieferscheine. Geschäftsbriefe. Verträge und Vertragskopien. Nichts Wertvolles befand sich im Safe. All das, was Samuel Lorca hier drinnen aufbewahrt hatte, hätte er ebenso gut in die Schreibtischladen legen können.
Bount brannte sich eine Chesterfield an.
„Wenn man nur wüsste, was der Bursche hier gesucht hat“, sagte er nachdenklich.
Jill Lorca war mit ihren Gedanken entweder bei ihrem Mann oder sonst wo. Hier war sie jedenfalls nicht. Was Bount sagte, bekam sie nur mit einem Ohr mit. Langsam und gedehnt, als würde sie im Schlaf sprechen, sagte sie: „Er ist der Mörder meines Mannes, Bount.“, Reiniger verschluckte den Rauch und hustete.
„Sagen Sie das noch mal, Jill!“
„Er ist der Mörder meines Mannes. Ich bin restlos davon überzeugt, dass er Sam umgebracht hat.“
„Wissen Sie auch, weshalb?“
„Wegen der dreihundertfünfzigtausend Dollar.“
„Das Geld wurde aus dem Lagerhaussafe gestohlen“, sagte Bount.
Jill Lorca schüttelte den Kopf.
„Ich glaube, dass sich das Geld niemals im Safe befunden hat, Bount. Sam hatte kein allzu großes Vertrauen zu Safes. Sie sehen ja selbst, was er darin aufbewahrte. Dinge, die wertvoll waren, versteckte er meistens irgendwo anders.“
„Sie meinen also, dieser Kerl hätte Sam wegen des Geldes ermordet...“
,, Ja, Bount.
„Da er es im Lagerhaus aber nicht gefunden hatte, kam er hierher, um es in diesem Safe zu suchen.“
„Ist doch logisch, oder?“
Bount blickte die Witwe grimmig an.
„Wenn Sie in Ihrem Schlafzimmer geblieben wären, Jill, wäre der Fall jetzt bereits abgeschlossen.“
„Tut mir aufrichtig leid, Bount.“
Reiniger winkte ab.
„Na ja. Nun weiß ich wenigstens, wie der Bursche aussieht, den ich zu finden habe.“
Jill quälte noch etwas. Sie nagte aufgeregt an der Unterlippe. Leise, kaum hörbar, sagte sie: „Ich kenne diesen Mann, Bount.“
Reinigers Augen weiteten sich.
„Warum sagen Sie das erst jetzt?“
„Wenn ich Ihnen seinen Namen nenne, werden Sie verstehen, weshalb ich zögerte.“
„Jetzt aber raus damit!“, drängte Bount. „Wie heißt dieser Mann?“
„Lorca“, sagte Jill mit bebenden Lippen. „Art Lorca. Er ist Samuels Bruder.“