6

Der gesamte kontinentale Flugverkehr wickelt sich über den La Guardia Airport ab. Pausenlos kreisen die Silbervögel über der Flushing Bay und dem Rikers Island Chanell, bis sie vom Tower die Landeerlaubnis erhalten. Wahre Lärmorgien werden hier tagtäglich gefeiert. Wenn man sich in dieser Gegend wohl fühlen will, muss man entweder taub oder tot sein.

Jackson Heigth’s grenzt an den Flughafen.

Hier war Henry Morgan zu Hause. Und da Betrieb und Wohnung sozusagen eine untrennbare Einheit bildeten, durfte Bount Reiniger berechtigt hoffen, Morgan hier anzutreffen.

Bount hatte Pech und Glück zugleich.

Pech deshalb, weil Henry Morgan nur in Form eines postkartengroßen Farbfotos anwesend war, das ihn mit seiner reizenden Tochter Susan zeigte und auf einer kleinen Anrichte zwischen zwei hohen Türen stand.

Glück hatte Bount deshalb, weil ihm sein Besuch die Bekanntschaft mit Susan Morgan einbrachte.

Sie konnte nicht älter als neunzehn sein. Das Kleid, das sie trug, saß gut und knapp. Ihr langes schwarzes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie war ein sehr nettes, großes, gut aussehendes Mädchen. Schlank und füllig zugleich. Die Züge ihres Gesichts waren regelmäßig und intelligent. Die Lippen waren voll, aber nicht zu breit. Sie verrieten Zurückhaltung und Disziplin. Ihre Augen waren dunkelbraun.

Sie saßen einander in einem Wohnzimmer gegenüber, in dem die Farbe salbeigrün vorherrschte.

An den Wänden hingen ausschließlich Rembrandt-Reproduktionen. Nichts gegen den holländischen Maler, aber es gibt schließlich auch noch andere große Meister, die neben Rembrandt bestehen können. Es stellte sich heraus, dass Susans Vater dieser Rembrandt-Fan war.

„Mit meinem Vater können Sie nicht sprechen, Mr. Reiniger“, sagte das Mädchen mit einer Stimme, die genau zu ihrem Alter passte. „Er ist nicht da.“

„Wann kommt er nach Hause, Miss Morgan?“

„Das hängt von verschiedenen Dingen ab. Mein Vater ist zur Zeit nämlich in Kamerun. Er leitet da eine Tierfangexpedition im Hochland von Adamaua.“

„Seit wann ist Ihr Vater in Afrika, Miss Morgan?“

„Seit vier Wochen.“

Kann ein Mann, der sich im Hochland von Adamaua herumtreibt, gleichzeitig einen Mord in New York begehen? Wohl kaum.

„Ein Brief aus Jaunde“, sagte Susan Morgan ein wenig verstimmt, „und eine Ansichtskarte aus Duala, das ist alles, was ich von meinem Vater in diesen vier Wochen als Lebenszeichen erhielt. Er ist sehr schreibfaul. Ich mache mir Sorgen um ihn, wenn er von zu Hause fortgeht. Besonders, seit dieser Flugzeugabsturz vor zwei Jahren passierte . . .“

„Ich weiß, was damals geschehen ist“, sagte Bount.

Das Mädchen schaute ihn mit den dunklen Glutaugen erstaunt an.

„Sie wissen ...?“

„Brian Barber hat mir die ganze Geschichte erzählt.“

Susan erhob sich.

„Ihn hat es am schlimmsten erwischt“, sagte sie. Dann fragte sie Bount, ob er einen Drink haben wollte. Er nahm die Einladung an und bekam einen Ballantine’s. Dafür revanchierte er sich mit einer Chesterfield. Sie rauchten und tranken. Bount musterte das hübsche Mädchen über den Rand seines Glases. Susan fing seinen Blick lächelnd auf.

„Worüber hätten Sie mit meinem Vater reden wollen, Mr. Reiniger?“, fragte das Mädchen. „Ich führe während seiner Abwesenheit die Geschäfte weiter. Vielleicht kann ich Ihnen helfen.“

„Gewiss führen Sie die Geschäfte ausgezeichnet weiter“, erwiderte Reiniger.

„Aber?“, fragte Susan, die sich auch auf das Aufspüren von Zwischentönen verstand.

„Kein aber“, entgegnete Bount und stippte die Asche von der Zigarette.

Susans Blick begann mit dem von Bount zu ringen.

„Warum sind Sie nicht offen, Mr. Reiniger.“

„Bin ich das nicht?“

„Nein. Sie sind gekommen, weil Samuel Lorca tot ist.“

Bount staunte. Das Mädchen sah nicht nur intelligent aus, es war es auch.

„Ja“, gab er zu, „deshalb bin ich hier.“

„Sie wissen, dass mein Vater ihn seit jenem Absturz nicht mehr riechen konnte.“

„Ja, Miss Morgan. Das weiß ich.“

„Und Sie vermuten, dass jemand bei Lorcas Tod nachgeholfen hat.“

„Sie sagen es.“

„Sie vermuteten, dass dieser Jemand mein Vater gewesen ist. Ich kann mir vorstellen, wie enttäuscht Sie nun sind, weil mein Vater als Mörder nicht in Frage kommt.“ Susan sagte das ohne Spott und Hohn in der Stimme. Sie sagte es absolut sachlich.

Bount zuckte die Achseln.

„Des einen Leid ist des anderen Freud.“

„Mein Vater ist kein Mörder!“, sagte Susan leidenschaftlich.

„Aber er hat Sam Lorca gehasst.“

„Nicht so sehr, dass er darüber den Wert des menschlichen Lebens vergessen hätte. Er wollte Lorca anders treffen.“

„Haben Sie dabei mitgemacht?“

Susan hob energisch den Kopf. Ein Wetterleuchten ging in ihren schönen Augen vor sich.

„Natürlich, Mr. Reiniger. Schließlich hätte ich durch Lorcas Schuld beinahe meinen Vater verloren.“

Wie sie die Sache sah, war sie natürlich auch richtig. Man kann ein Problem stets von zwei Seiten betrachten. Wenn Sam Lorca in der vergangenen Nacht nicht das Zeitliche gesegnet hätte, wäre Bount Reiniger mit dieser Pattstellung einverstanden gewesen. Aber seit Sam Lorcas Tod lag die Sache nicht mehr ganz so einfach. Das schwerwiegende Problem Mord verlangt nach anderen, vor allem härteren Spielregeln.

Bount bat das Mädchen, ihn anzurufen, wenn Henry Morgan aus Kamerun zurückkam. Ohne Bedenken sagte Susan zu. Danach stieß Bount seine Zigarette in den Ascher, leerte sein Glas und verabschiedete sich von dem Mädchen, von dem er rein menschlich gesehen sehr angetan war. Er bedauerte, dass er Susan nicht unter anderen Umständen kennengelernt hatte.

Kurz darauf saß Bount Reiniger in seinem Flitzer und ritt damit nach Kings Point zurück.

Eingekeilt zwischen die Fahrzeuge, die die gefürchtete Rush hour in die Straßenschluchten der Stadt spie, fuhr er im Schneckentempo seinem Bungalow entgegen. Es gab auf dem Nachhauseweg unzählige Stauungen, die ihn zwangen, den SE immer wieder zu stoppen. Während dieser Zwangspausen hatte Bount genügend Zeit, wie ein Wiederkäuer den fast ungekaut verschlungenen Mordfall wieder hochzuholen, um ihn gründlich zu zerkauen.

Was er nun verdaute, war folgendes: Sowohl Brian Barber als auch Henry Morgan waren dem verblichenen Samuel Lorca seit zwei Jahren in keiner Weise mehr grün gewesen.

Barber war nur noch ein Wrack. Das er einen Mord an einem gesunden, kraftstrotzenden Lorca begehen konnte, war so gut wie ausgeschlossen.

Henry Morgan krebste in Afrika herum. Also musste man ihn noch mehr als Brian Barber aus dem Kreis der Verdächtigen ausklammern.

Somit schied das Motiv der Rache aus.

Dann mussten also die 350 000 Dollar an Lorcas gewaltsamem Ende Schuld haben.

Frage: Wer hatte das Geld nun?

Ohne sich auf diese Frage eine einigermaßen zufriedenstellende Antwort geben zu können, erreichte Bount Reiniger die Kings Point Avenue. In Nummer 13 war er zu Hause.

„Du hast immer noch Kummer, Bount“, sagte Mac Potter, als er Reiniger den Drink reichte, den er für ihn zubereitet hatte.

„Ja, Mac“, seufzte Bount nachdenklich. „Und ich fürchte, dass sich daran lange nichts ändern wird.“