3
Das
Gefangenendilemma
Es war nicht das Sexleben von Käfern, das Homer Layton untersuchen wollte, sondern die Bewegung von Elektronen in einem Medium aus Wasser und kristallisiertem Diopsid. Der Kristall war sein Laboratorium. Der Effekt, den er zu erklären versuchte, fand über eine Entfernung von wenigen Atomdurchmessern statt und wurde hervorgerufen von der Wechselwirkung zwischen einem dünnen Strom aus Elektronen und einem einzelnen Wasserstoffatom. Für die Beobachtung des Effekts verwendete er eine Trockenbatterie, ein Beugungsgitter und einen Schwarzweißfilm mit Hochkontrastauflösung. Die Gesamtkosten des Experiments bewegten sich innerhalb des Rahmens einer Highschool-Wissenschaftsmesse.
Richtig teuer wurde es später, wenn es darum ging, die gewonnenen Daten auszuwerten und zu verstehen, was die sonderbaren Ergebnisse des Experiments bedeuteten. Das gefilmte Muster von Elektronen, die aus der Aura des Atomkerns kamen, wiesen auf eine besondere Bewegung hin, eine Pekuliarbewegung auf atomarem Niveau. Das erste Experiment dieser Art hatte Homer vor zehn Jahren an der Columbia University durchgeführt und seitdem fragte er sich nach seiner Bedeutung.
»Die wirtschaftlichste Methode, das Rätsel zu lösen, besteht aus der Anwendung der Einstein-Methode«, hatte Homer zu Loren gesagt, im September, an Lorens erstem vollen Tag in Amerika, seinem ersten Tag am Projekt. Homer und er waren von Spanien gekommen und am vergangenen Abend am Kennedy Airport gelandet.
»Nun, wie würde Einstein vorgehen, um das Geheimnis der Pekuliarbewegung zu knacken?« Homer richtete einen erwartungsvollen Blick auf Loren.
»Äh …«, sagte Loren.
»Genau. Er würde die Schuhe ausziehen, die Füße auf den Tisch legen und mit reiner Denkkraft an das Problem herangehen. Er bräuchte … einen Morgen. Gesamtkosten der Analyse: zwei Eier, oder was er sonst zum Frühstück hatte, Treibstoff für den Motor namens Gehirn. Warum bin ich nicht dazu imstande?«
»Nun …«, sagte Loren.
»Genau. Nicht genug Denkkraft. Deshalb brauche ich Hilfe. In Form von Assistenten und Computern. Außerdem sind auch noch ein Computertechniker, Büros und Gehaltsabrechnungen nötig. Statt der Einstein-Methode verwende ich die Layton-Methode. Ich gehe das Problem mit einem Haufen Zaster an. Und wo finde ich einen Haufen Zaster?«
»Ich weiß nicht, Homer.« Loren versuchte sich daran zu erinnern, was das Wort »Zaster« bedeutete.
»Natürlich weißt du es nicht. Deshalb sage ich es dir. Einen Haufen Zaster bekommt man beim Verteidigungsministerium. Man stellt einen Antrag. Eines Tages, als ich das Glück auf meiner Seite glaubte, schrieb ich einen und schickte ihn los. Und bevor wir uns versahen, schwammen wir plötzlich in Geld.«
»Nett.«
»Sehr nett.« Homer verzog das Gesicht. »Allerdings … Wenn man nicht aufpasst, muss man einen Preis dafür zahlen. Wenn man beim Verteidigungsministerium Geld für die Untersuchung der Pekuliarbewegung von Elektronen beantragt, darf man erwarten, dass sie die ganze Sache für sich ausnutzen und von einem erwarten, dass man eine Pekuliarbewegung-Bombe baut. Die kleinen Veränderungen durch unsere Geldgeber nehmen einem den ganzen Spaß an der Arbeit.«
»Ich verstehe.«
»Der Trick besteht also darin, den Antrag möglichst abstrakt zu formulieren. Man beschreibe das Projekt als reine Gedankenarbeit, als etwas, das mit der Realität so wenig zu tun hat, dass niemand auf den Gedanken kommen kann, eine Waffe daraus zu entwickeln.«
»Wie eine mathematische Untersuchung«, sagte Loren.
»Oder eine Computersimulation. Das dachte ich zumindest. Was könnte abstrakter sein? Die Konstruktion eines mathematischen Modells in einem Maschinengehirn, ein harmloser Ausflug in die Welt des Kleinen und Winzigen. Fast wie ein Gedicht hab ich’s geschrieben und dem Verteidigungsministerium geschickt.
Und plötzlich erreicht uns jede Menge Geld. Woher sollte ich wissen, dass ›Simulation‹ plötzlich ein Zauberwort im Pentagon ist? Man wollte nicht nur eine Simulation, sondern zwei. Wir bekommen Gelegenheit, ein Computerprogramm zu entwickeln, das Partikel simuliert, die sich an einem Atomkern vorbeischlängeln, und wenn wir schon einmal dabei sind, können wir auch gleich ein zweites Programm entwickeln.«
»Den Kristallkugel-Simulator.« Diesen Teil kannte Loren bereits. Sie hatten während des Flugs darüber gesprochen.
»Ja. Eine Kristallkugel, die das Gleichgewicht der Macht bei jedem Stadium der Abrüstung voraussagt, damit wir nichts übersehen. General Buxtehudes Adjutanten kommen hierher, halten einen wundervollen Vortrag und erzählen uns, alle Computersimulationen seien im Grunde genommen gleich. Wir sollten imstande sein, den Abrüstungssimulator zu programmieren und ihn mit kleinen Änderungen hier und dort auch für die Simulation von Elektronenbewegungen zu verwenden, zum Beispiel am Samstag. Mein bestes Angebot, antworte ich, ist fifty-fifty. Die Hälfte der Zeit dürfen wir auf Kosten der Regierung über Teilchenphysik nachdenken und die andere Hälfte widmen wir dem Machtgleichgewicht.«
Sonia und Ed nahmen an Lorens Einführung teil. »Wir haben einen sehr eleganten Ausdruck für die andere Hälfte der Arbeit«, wandte sich Sonia an Loren. »Für die Arbeit am Abrüstungssimulator. Wir sprechen von ›auf den Strich gehen‹.« Sie nahm Lorens Lächeln als Zeichen dafür, dass er verstand, was diese Worte bedeuteten.
»Wir konstruierten also zwei Simulatoren«, setzte Ed Barodin die Erklärungen fort. »Eigentlich sogar noch mehr, aber schließlich blieben zwei übrig: Simula-6 für die Simulation von Partikelbewegungen und Simula-7 für die Simulation des Machtgleichgewichts. Homer hat die Programme konzipiert und Sonia und ich haben sie geschrieben.«
Homers Augen funkelten. »Mit dem Simula-6-Programm können wir alle nur erdenklichen Hypothesen über das Geschehen auf dem Partikelniveau untersuchen. Wir spekulieren und Simula-6 teilt uns mit, ob sich die beobachtete Realität damit erklären lässt. Bei den Spekulationen sind unserer Fantasie keine Grenzen gesetzt. Nehmen wir an, ein Elektron zerfällt zu einem Muon, das sich in der Präsenz von Licht sofort in ein Elektron zurückverwandelt. Edward übersetzt diese Annahmen in Programmdaten und füttert Simula-6 damit. Und Simula-6 antwortet: Wenn so etwas geschähe, wäre die Elektronenbewegung nicht nur seltsam, sondern absonderlich. Aber wir beobachten eine seltsame Bewegung der Elektronen, keine absonderliche. Also ziehen wir die entsprechende Hypothese zurück und versuchen es mit einer anderen.
Wenn wir die richtige Hypothese präsentieren, sagt die Simulation: Na so was, ihr habt den Nagel auf den Kopf getroffen. Die Spekulation, die ihr gerade eingegeben habt, erklärt die Pekuliarbewegung. Das simulierte Bewegungsmuster, das wir im Ausdruck finden, stimmt mit dem beobachteten überein. Dann wissen wir Bescheid. Dann ist das Rätsel der seltsamen Bewegung, der Pekuliarbewegung, gelöst, und mit ihm ein großes Stück vom größeren Rätsel der Quantenrealität.« Homer erwärmte sich immer mehr für das Thema. »Dies könnte eine große Sache sein«, betonte er. »Eine verdammt große. Wenn wir es schaffen, wenn wir tatsächlich das Rätsel der Pekuliarbewegung lösen, dann sind wir ganz oben und spielen die erste Geige! Dann liegt uns die Welt zu Füßen. Princeton wird grün vor Neid. Lincoln Labs ebenfalls. Berkeley … Du scheinst verwirrt zu sein, Loren.«
»Die erste Geige?«
»Genau. Und wir bekommen Preise. Und jede Menge Ruhm und Ehre.«
Sonia kam Loren zu Hilfe. »Homer ist wegen der Pekuliarbewegung sehr aufgeregt. Wenn wir nachweisen können, dass sich Teilchen nicht nur in einzelnen Schritten bewegen, sondern auch in sich überlappenden einzelnen Schritten, wobei es gelegentlich zu Wechselwirkungen mit ihren früheren Instanzen kommt, wie Homer glaubt … Dann müssen gewisse Theorien der Teilchenphysik aufgegeben werden. Wir hätten es mit einer ganz neuen Wissenschaft zu tun.«
Homer nickte. »Dafür, meine jungen Freunde, lohnt es sich, ›auf den Strich zu gehen‹.« Er fügte den Worten ein schiefes Lächeln hinzu.
»Die Hälfte unserer Zeit können wir nach Herzenslust spekulieren«, fuhr Edward fort. »Doch die andere Hälfte müssen wir Simula-7 widmen. Diese Zeit ist ebenfalls Spekulationen gewidmet, die allerdings nicht von uns stammen, sondern vom Auftraggeber, der zum Beispiel fragt: Was würde geschehen, wenn beide iranischen Ölhäfen zufälligerweise in die Luft flögen, oder wenn die CIA einen kleinen Zwischenfall für den einen oder anderen widerlichen Diktator arrangiert.«
Loren nickte. »Dann werft ihr Simula-7 an und analysiert Aktion und Reaktion.«
»Ja.«
»Eigentlich nicht so schlimm, wenn es darum geht, die Miete zu zahlen. Ich meine, es klingt so, als könnte man Spaß dabei haben.«
Sonia verzog das Gesicht. »Wenn man nicht zu oft an all das Blut denkt, das aus dem Computer tropft. Während der Rest der Welt über eine neue Ära des Friedens nachdenkt, müssen wir den Krieg in Betracht ziehen. Das ist nötig, wenn man das Gleichgewicht der Kräfte für bestimmte Abrüstungsvorschläge überprüfen will: Man simuliert eine Konfrontation mit den übrig bleibenden Waffen, um festzustellen, was sich dabei ergibt. Simula-7 simuliert den Krieg. Das Programm stellt sich das Unvorstellbare vor und gibt an, wie viele Tote zu erwarten sind. Bei einigen Ergebnissen ist von ›Megatoten‹ die Rede, ein Begriff, den ich zum ersten Mal gehört habe, als ich mit diesem Projekt begann.« Sie schauderte.
»Aber es findet alles im Innern eines Computers statt«, erwiderte Loren. »Es ist nur eine Simulation. Niemand kommt zu Schaden.«
»Ja«, sagte Sonia. »Das muss man sich immer wieder ins Gedächtnis rufen.«
*
Homer legte die Zeit für die beiden Projekte fest: der Morgen für Simula-7, der Nachmittag für die Pekuliarbewegung. Doch diese Einplanung blieb nur einige Wochen gültig, bis der Verbindungsmann des Pentagon kam, Oswald »Curly« Burlingame. Er richtete sich im zweiten Stock von Clark Hall ein Büro direkt neben ihnen ein und verkündete, sie sollten ihn wie ein Mitglied des Teams behandeln. Um ihn zu meiden, verlegten sich Homer und seine Assistenten darauf, abends mit der Arbeit zu beginnen und bis morgens zu bleiben. Sonia, die Loren beim Lernen neuer englischer Wörter half, nannte Burlingame ein »Arschloch«.
Die Untersuchung der Pekuliarbewegung war nicht etwas, an dem man stückchenweise arbeiten konnte, mit kleinen Fortschritten jeden Tag. Erst befürchtete man, dass es überhaupt keine Fortschritte geben würde, und dann half ein plötzlicher Durchbruch dabei, das Problem in Nullkommanichts zu lösen. Aber: Der Durchbruch ließ noch immer auf sich warten. Stundenlang saßen sie da und starrten auf dieselben Gleichungen. Viel Spaß machte das nicht. Manchmal gingen sie zu den Abrüstungssimulationen über, nur um sich ein wenig abzulenken.
Für Ablenkung sorgte Simula-7 genug. Die vom Pentagon gelieferte Hardware bestand aus besonders teuren Spielzeugen. Ed und Loren verbrachten eine Nacht damit, im Computerraum einen riesigen Plasmaschirm aufzubauen. Es war der größte Bildschirm, den sie je gesehen hatten: zwei Meter vierzig mal drei Meter sechzig. Sie stellten ihn auf zwei zusammengeschobene Tischtennisplatten. Nach einigen Stunden Programmierung zeigte der Schirm Lagekarten der Welt in Echtzeit. Man konnte sich in ein bestimmtes Gebiet zoomen und bekam Informationen über Truppenstationierungen, Raketenstellungen und Bevölkerung.
Die Computertechnikerin Kelly Corsayer starrte auf das riesige Display. »Die roten Dreiecke verstehe ich. Das sind alte sowjetische Silos und einige mit Raketen bestückte Unterseeboote. Und die blauen Markierungen gehören zu uns. Aber was hat es mit den schwarzen auf sich?«
»Sie sorgen dafür, dass das Spiel interessant bleibt, meine liebe Kelly«, sagte Edward grimmig. »Sechs Raketen der ehemaligen Sowjetunion. Niemand weiß, was aus ihnen geworden ist. Vielleicht liegen sie irgendwo in einem Lagerhaus, aber das glauben wir nicht. Wir glauben, dass sie an bestimmte Gruppen weitergegeben worden sind.«
»Meine Güte.«
»Natürlich wissen wir nicht genau, wo sie sind. Hier kommt Simula-7 ins Spiel. Das Programm ersinnt schreckliche Möglichkeiten und warnt uns vor ihnen. Zum Beispiel …« Edward wandte sich der Konsole zu und seine Finger huschten über die Tastatur. »Angenommen, wir lassen im Nahen Osten ein bisschen die Muskeln spielen, was den ›bestimmten Gruppen‹ nicht gefällt …« Die sechs Dreiecke veränderten ihre Position und rückten näher an die Vereinigten Staaten heran. Edward deutete auf eins an der mexikanischen Westküste. »Sie wiegen etwa so viel wie ein Mähdrescher, können also von einem Lkw relativ problemlos herumkutschiert und an einem abgelegenen Ort aufgestellt werden. Infrage käme auch ein Fischerboot mittlerer Größe.« Er zeigte auf ein schwarzes Dreieck vor der Küste von South Carolina. »Während wir noch mit unserem kleinen Abenteuer im Nahen Osten beschäftigt sind …« Edwards Finger tanzten erneut auf den Tasten und das mexikanische Dreieck glitt fort von seinem Startplatz, zog dabei eine feuerrote Markierungslinie hinter sich her. Es kroch über amerikanisches Territorium und näherte sich San Diego. Eine Art Knacken kam aus dem Lautsprecher und die Stadt verwandelte sich in einen langsam größer werdenden grauen Fleck.«
»Huch«, sagte Kelly.
»Huch, ja. Das geschieht, wenn die ›bestimmten Gruppen‹ ein bisschen verärgert sind. Wenn sie sich richtig ärgern …« Edward gab noch einmal etwas über die Tastatur ein und die restlichen schwarzen Dreiecke gerieten in Bewegung, näherten sich amerikanischen Städten. Das Knacken aus dem Lautsprecher wiederholte sich und es entstanden weitere graue Flecken: New York, Washington, Chicago, Los Angeles und San Francisco.«
»Himmel.« Kelly erbleichte.
»Eigentlich nicht so schlimm, denn es sind nur sechs, nicht mehr. Sechs Atomexplosionen auf einem Kontinent lassen noch die Möglichkeit von Leben im Rest der Welt zu. Glaube ich jedenfalls. Es sei denn, wir schlagen zurück. Wir wissen nicht genau, wer die ›bestimmten Gruppen‹ sind; also können wir nur ganz allgemein zurückschlagen und unser Arsenal gegen Länder einsetzen, die uns in der Vergangenheit geärgert haben.« Er schrieb noch einmal. Blaue Dreiecke verließen ihre Positionen in den USA und glitten in alle Richtungen.«
»Schluss damit …«
Mit einem letzten Tastendruck legte Ed ein langsames Wogen auf den Schirm, das nach einer Unterwasserszene aussah. Ein kleiner Cartoon-Fisch schwamm von der einen Seite durchs Display.
Kelly, noch immer grau im Gesicht, wich zurück.
Loren sah von seiner Konsole am anderen Ende des großen Bildschirms auf. »Wieder bereit für die Karibik, wenn ihr wollt.« Homer und Sonia traten näher. »Los geht’s.«
Sie beobachteten stumm, wie die Simulation eine Reihe von Aktionen und Gegenaktionen zeigte. Die von Amerika ergriffenen Maßnahmen stammten aus einer Hypothesen-Datenbank, die einige Vorschläge aus Washington enthielt und andere, von Homer und seinen Assistenten ausgearbeitete Möglichkeiten. Die wahrscheinlichen Reaktionen wurden von Simula-7 berechnet. Homer sah sich das Ergebnis an und schüttelte den Kopf. Verschiedene Bildschirmfenster gaben Auskunft über Tote und Materialverlust aller Beteiligten. Schließlich sagte er: »Zum Glück ist es nur eine Simulation.« Das sagte er immer.
Der Laserdrucker summte und druckte das letzte Szenario mitsamt den Ergebnissen.
Der Plasmabildschirm war nicht das einzige technische Spielzeug des Pentagon. Es gab auch noch SHIELA, einen Array-Computer mit fast unbegrenzter Kapazität. Simulationsprogramme sind in Hinsicht auf die Verarbeitungsgeschwindigkeit sehr anspruchsvoll und für Simula galt das in einem besonderen Maße. Ein normaler Computer hätte Stunden gebraucht, um ein einzelnes Szenario durchzurechnen. SHIELA benötigte dafür weniger als eine Minute. Der schnellste Computer auf der Erde rechnet mit einer Geschwindigkeit von einigen Tausend Teraflops, wobei ein Teraflop einer Billion Gleitkommazahl-Operationen pro Sekunde entspricht. SHIELAS Kapazität lag einige Tausend Male darüber, bei mehr als 850 Petaflops. Es war nicht der schnellste Computer auf der Erde, weil er sich gar nicht auf der Erde befand, sondern im All. Seine Schaltkreise brauchten eine Temperatur von weniger als 15 Grad Kelvin und eine derartige Kühlung wäre auf der Erde kaum möglich gewesen.
Das Pentagon hatte mehr als 5 Milliarden Dollar in SHIELA gesteckt. Das Geld stammte ursprünglich aus dem Fonds für das »Strategic missile shield project«, dem Projekt des strategischen Raketenschilds. Daher der Name: SHIELd Array, SHIELA. Ein vom Kongress verabschiedetes Gesetz hatte das Projekt auf Eis gelegt, was dazu führte, dass praktisch alle 850 Petaflops zur Verfügung standen, als Simula begann. Homer hatte die Verwendung von SHIELA durch seine Gruppe beantragt. Inzwischen liefen die beiden Programme Simula-6 und Simula-7 in einem Arbeitsspeicher, der sich in einer Umlaufbahn um die Erde befand. Die Computer in Clark Hall dienten nur dazu, eine Verbindung mit SHIELA herzustellen, Daten zu sichern und Ergebnisse auszudrucken.
Es dauerte zwei Stunden, auch die übrigen Karibik-Hypothesen durchzugehen. Am Ende kehrte Kelly zurück, gähnte und warf einen Blick auf den Schirm.
»Wie sieht es für unsere Seite aus?«, fragte sie.
Homer legte ihr den Arm um die Schulter. »Zum Glück ist es nur eine Simulation.«
»Bin froh, das zu hören.« Sie gähnte erneut.
»Geh schlafen, junge Dame. Fahr nach Hause und leg dich ins Bett.«
Kelly schüttelte den Kopf. »Ich mache nur ein kleines Nickerchen auf der Couch in deinem Zimmer, Homer. Dort kann ich wie ein Murmeltier schlafen. Falls du mich später brauchst.«
Loren sah von seiner Konsole auf. »Geh noch nicht, Kelly. Bitte rekonfiguriere das Programm für uns. Wirf den Kram mit geringer Priorität hinaus. Für das Szenario des Nahen Ostens brauchen wir viel mehr Arbeitsspeicher.«
»In Ordnung, Loren.« Kelly nahm an ihrem Terminal Platz und eine Zeit lang klickten die Tasten unter ihren Fingern. Schließlich stand sie auf, winkte ihnen zu und zog sich in Homers Zimmer zurück.
*
Wenn sie nachts mit den strategischen Simulationen fertig waren, wandten sie sich den »Partikelkriegen« zu, wie sie es nannten, und setzten die Suche nach einem Durchbruch bei der Pekuliarbewegung fort. Seit einigen Wochen arbeiteten Sonia und Homer getrennt von den anderen in einem leeren Unterrichtszimmer weiter unten am Flur. Loren und Ed blieben im Computerraum mit dem riesigen Bildschirm. Sie hatten ein Programm geschrieben, das es ihnen gestattete, den Schirm wie eine große Tafel zu benutzen. SHIELA blieb inaktiv, wenn keine Simulationen liefen; es mangelte also nicht an Rechenpower, um ihnen ein paar Gleichungen zu zeigen. Sie fanden es amüsant, ein so teures technisches Schmuckstück für etwas so Simples zu verwenden.
Das Hauptproblem des letzten Monats war eine einzelne Feldgleichung gewesen, die der große Schirm jetzt präsentierte. Ed schrieb mit der Tastatur seiner Konsole und veränderte die Darstellung so, dass die Gleichung in alter englischer Schrift erschien. Dann fügte er eine Anweisung hinzu, die dafür sorgte, dass die einzelnen Buchstaben immer wieder ihre Farben veränderten. Die störrische Gleichung leuchtete rot, dann orangefarben, gelb, grün, blau und violett, kehrte anschließend zu einem trotzigen Rot zurück. Ed ließ wieder den Cartoon-Fisch erscheinen und ihn unter der Gleichung hin und her schwimmen. Kurze Zeit später klickten erneut Tasten und kleine Luftblasen stiegen von dem Fisch auf.
Loren hatte ebenso wenig Erfolg damit, auf das Problem konzentriert zu bleiben.
»Warum spricht Sonia immer wieder von ›Tit-for-Tat‹, von ›Wie du mir, so ich dir‹?«, wandte er sich an Edward. »Was bedeutet das für Simula-7?« Seine Gedanken waren zum Projekt der Kriegssimulation zurückgekehrt.
»Es geht auf das Gefangenendilemma zurück, ein logisches Problem.«
»Mit dem Gefangenendilemma bin ich vertraut. Wir haben uns im ersten Jahr der Prädikatenlogik damit beschäftigt.«
»Stell dir das Problem vor, dann siehst du die Parallelen. Die beiden Gegangenen müssen entscheiden, was zu tun ist, ohne sich verständigen zu können. Wenn einer loyal bleibt und der andere ihn verrät, kommt der Verräter frei. Wenn beide verraten, bleiben sie für immer gefangen. Und wenn beide loyal zueinander sind, kommen sie mit einer relativ leichten Strafe davon. Im Schnitt sind sie besser dran, wenn sie kooperieren, aber in einzelnen Fällen kann es sich lohnen, den Partner zu verraten, wenn man glaubt, dass er treu bleibt.«
»Ich weiß.«
»Die Gefangenen sind wie die Machtgruppen in der Simulation. ›Verrat‹ bedeutet dabei Angriff und ›Loyalität‹ läuft auf keinen Angriff hinaus. Wenn eine Seite aggressiv ist und die andere friedlich, liegt der Vorteil beim Angreifer. So war es 1941 bei Japanern und Amerikanern. Doch das Spiel ist nicht nach einem Durchlauf vorbei; es gibt viele Entscheidungsrunden, viele Möglichkeiten zu verraten. Zusammenarbeit ist auf lange Sicht besser, aber wie soll man gewährleisten, dass man nicht ausgenutzt wird, wenn man beschließt, brav zu sein?«
»Ich gebe auf.«
»Als Axelrod in den achtziger Jahren an der Universität von Michigan das über mehrere Runden gehende Gefangenendilemma simulierte, stellte er fest, dass es eine einfache Strategie gibt, mit der man den Gegner zur Zusammenarbeit bewegen kann. Immer dann, wenn man von einem Gegner verraten wird, so bestraft man ihn, indem man ihn beim nächsten Mal verrät. Deshalb spricht man von ›Tit for Tat‹, ›Wie du mir, so ich dir‹. Man legt das Muster fest. Wenn es eine ganze Sequenz von Entscheidungen gibt, so setzt man sich schließlich durch, indem man jeden Verrat sofort bestraft und Kooperation belohnt. Man verhält sich bei der nächsten Runde so wie der Gegner bei der vorherigen. Das ist die beste Strategie von allen, die Axelrod damals ausprobiert hat.«
»Sonia glaubt also, dass die Kubaner ›Tit-for-Tat‹ mit uns spielen?«
»Simula-7 glaubt das. Das Programm kennt die vergangenen Wechselwirkungen, hat daraus eine Abstraktion entwickelt und sie seiner Muster-Datenbank hinzugefügt, als Muster 118. Sonia hat ihm den Namen ›Tit-for-Tat‹ gegeben. Die Kubaner können keine direkte Konfrontation mit uns herbeiführen, weil sie zu schwach sind, und deshalb haben sie ein Muster geschaffen: Jedes Mal, wenn wir sie ›verraten‹, jedes Mal, wenn wir etwas tun, das ihnen nicht gefällt, werden wir bestraft. Sie überlassen es einer der Stellvertretergruppen, Gloria Verde oder einer anderen.«
»Aber wie können wir sicher sein, dass tatsächlich solche Absichten dahinterstecken? Es erscheint absurd, dass sie uns auf diese Weise ›erziehen‹ wollen.«
»Natürlich können wir nicht sicher sein. Es ist eine Hypothese, die Aktionen erklärt, die tatsächlich stattgefunden haben. Simula-7 hat sich gewissermaßen feinjustiert, mit der Entwicklung von Abstraktionen aus beobachteten Handlungen. Das Programm hat ein Muster entdeckt, das aus dem Einsatz von Stellvertretergruppen nach Aktionen von unserer Seite besteht. Daraus wurde eine neue Abstraktion für seine Datenbank. Sonia hat ihr nur einen Namen gegeben, doch Simula-7 hat das Muster erkannt.«
Sie hatten den Vorgang der »Feinjustierung« während der letzten sechs Monate beobachtet, als die Simulation vergangene Muster analysierte, Abstraktionen daraus gewann und sie in den Speichermodulen von SHIELA ablegte. Während die Simulation auf diese Weise reifte, blieb die Fähigkeit der Menschen, der Arbeitsweise des Programms zu folgen, immer mehr auf der Strecke. Sie verstanden die Theorie hinter dem Vorgang des Abstrahierens, aber manchmal führte er zu Ergebnissen, die sie verblüfften. Der einzige Beweis dafür, dass sie korrekt waren, bestand aus der Vorhersage von Ereignissen, die sich tatsächlich wie vorhergesagt entwickelten.
Loren schüttelte den Kopf. »Das Erstaunliche ist: Du, Sonia, Homer und ich, wir haben dieses Ding konstruiert und wussten nicht, dass die Kubaner auf der Grundlage des Gefangenendilemmas handeln. Aber Simula-7 erkannte es. Wie konnte die Simulation etwas erkennen, das wir, seine Schöpfer, übersehen hatten?«
»Wer weiß? Wir waren klug genug zu erklären, was die Simulation machte. Aber sie ist die ganze Zeit über gereift. Sie hat sich weiterentwickelt und uns überholt, Loren. Wir haben eine Art Frankenstein geschaffen.«
»Ausgeschlossen. SHIELA ist zu dumm. Trotz seiner enorm hohen Rechengeschwindigkeit hat der Computer im Orbit nur ein Tausendstel vom Intellekt eines Kaninchens. Was er errechnet, sollte nicht unerklärlich für uns sein.«
»Kaninchen verwenden den größten Teil ihrer Gehirnleistung, um Nahrung zu suchen und Nachwuchs zu zeugen. SHIELA lässt sich von solchen Dingen nicht ablenken. Ihre Hirnleistung mag geringer sein als die eines Kaninchens, aber sie ist auf eine einzige Sache konzentriert. Wenn Simula-7 läuft, denkt SHIELA nur daran, wie die strategischen Mächte ticken, was sie antreibt. Und sie ist schnell. Ihr Logikzyklus ist Billionen Male schneller als die menschliche Hirnaktivität. Wir haben zweifellos genug Intellekt, um die eine oder andere Abstraktion zu verstehen, aber nicht alle. Und wir verlieren immer mehr an Boden, weil SHIELA so schnell neue Abstraktionen entwickelt.«
Sonia kehrte gerade von ihrer Arbeit mit Homer zurück. Sie blickte zum großen Bildschirm und beobachtete den Fisch, der unter der Gleichung hin und her schwamm. »Ihr habt hart gearbeitet, wie ich sehe.«
Edward sah auf. »Wir haben bedeutungsvolle philosophische Gedanken gedacht, Sonia. Jedenfalls, ich schätze, es wird Zeit fürs Frühstück. Das ist meistens der Fall, wenn das B-Team Schluss macht.«
»Homer ist schon weg. War ziemlich erledigt und meinte, wir sollten ohne ihn frühstücken.«
Sonia ging zum Protokoll und legte eine Seite mit Notizen hinein. Loren und Ed hatten nichts hinzuzufügen, nahmen ihre Jacken und warteten auf Sonia. Sie hatten es sich zur Angewohnheit gemacht, in der Kantine von Willard Straight Hall zu frühstücken und sich dabei gegenseitig auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen. Ed schaltete das Licht aus und sie gingen zur Treppe.
»Oh, Mist«, sagte Loren. »Ich habe vergessen, Kelly zu wecken. Geht nur, ich komme nach.«
Er lief zurück. Homers Arbeitszimmer befand sich weiter den Flur hinunter, hinter seinem eigenen. Es verfügte über ein kleines Vorzimmer mit einer Couch, auf der sie alle schon das eine oder andere Nickerchen gemacht hatten. Kelly lag dort und Loren blieb kurz stehen und betrachtete sie. Ihr Gesicht war entspannt und die Andeutung eines Lächelns lag auf den Lippen. Eine Hand lag unter der Wange. Der Rock war ein wenig nach oben gerutscht und zeigte die Oberschenkel, silbern im Licht vom Flur. Loren beugte sich vor und strich den Rocken nach unten, damit sie nicht verlegen war, wenn sie erwachte.
»Kelly?« Er drückte ihre Hand. »Wach auf, Kelly.«
»Hm?« Sie drehte sich und griff mit beiden Händen nach seiner Hand. Dann öffnete sie die Augen und setzte sich benommen auf. »Oh. Ich muss ziemlich tief geschlafen haben.«
»Hast du.« Loren nahm auf der Seite der Couch Platz. Kelly erwachte langsam. Wenn er sie jetzt verließ, schlief sie vielleicht wieder ein und würde bis Mittag hier liegen. Sie musste nach Hause und das Frühstück für ihren kleinen Bruder Curtis vorbereiten, der niemanden außer ihr hatte.
»Es wird Zeit heimzukehren.«
»Ich habe geträumt, Loren. Oh, ich hatte einen wundervollen Traum. Wir alle sind irgendwohin gefahren: du, Homer, auch Sonia und Edward. Und Curtis. Statt uns mit düsteren Kriegsprojekten zu befassen, haben wir zusammen etwas gebaut. Ich weiß nicht was. Vielleicht eine Stadt.«
Loren blieb neben ihr sitzen, als Kelly sprach und wach wurde. Er hörte zu, aber nur mit halbem Ohr, und fragte sich, was er an Kelly so verwirrend fand. Er beobachtete ihre Lippen, während sie sprach, ließ den Blick über ihr blondes Haar streichen. Sie war hübsch, aber es war nicht ihre Schönheit, die ihn bewegte. Vielleicht war es Sympathie, und auch Anteilnahme. Kelly gab sich alle Mühe, die Eltern für Curtis zu ersetzen, ihn und sich selbst über Wasser zu halten. Das mochte der Grund sein. Loren hatte begonnen, so etwas wie eine jüngere Schwester in ihr zu sehen.
»Ich würde gern etwas bauen, Loren. Etwas Greifbares, etwas Schönes. Etwas, das sagt: Kelly ist hier gewesen. Kelly und ihre Freunde haben dieses Schloss gebaut oder diese Bibliothek, was auch immer … und dadurch ist die Welt zu einem besseren Ort geworden.«
*
Loren lief durch die Unterführung nach Baker Hall und beeilte sich, zu den anderen aufzuschließen. Es regnete wieder. Der Frühling in Ithaca schien vor allem Regen zu bedeuten und natürlich hatte er den Regenschirm vergessen. Loren nahm die Abkürzung über den Hof des Fachbereichs für Künste und blieb auf den nördlichen Wegen, weil es dort mehr Bäume gab, die vor dem Regen schützten. Schließlich erreichte er Willard Straight Hall und die Kantine im ersten Stock, wo Sonia und Ed am üblichen Tisch bei den Fenstern der Westseite saßen. Claymore Layton leistete ihnen Gesellschaft. Er trug bis zur Hüfte reichende Stiefel, eine Tarnjacke mit zahlreichen Taschen und einen Hut mit daran befestigten Fliegen.
»Hallo, Claymore. Sieht aus, als wärst du Angeln gewesen.«
»Nein.«
»Willst du Angeln gehen?«
»Nein.«
»Oh.«
Claymore hatte sein eigenes Frühstück von zu Hause mitgebracht: eine Tüte mit getrockneten Aprikosen und eine Thermosflasche mit Tee. Er aß und trank zufrieden, ohne groß auf die anderen zu achten. Loren stellte sein Tablett auf das Ende des Tischs und setzte sich neben Sonia.
»Edward erzählt Armitage-Geschichten«, sagte sie. Loren runzelte die Stirn und versuchte, mit dem Namen etwas anzufangen.
»Mein alter Chef bei Johns Hopkins«, sagte Edward. »Lamar Armitage.«
»Die Theorie des Besonderen Attraktors – der Armitage?«
»Genau der. Leiter des Fachbereichs für Physik von Johns Hopkins. Teils erstklassiger Physiker, teils Politiker und teils Schurke.«
»Edward hat für ihn gearbeitet, bevor er nach Cornell kam.«
»Man hat mich als ›zentralen Bestandteil eines wichtigen Projekts der Teilchenphysik‹ eingestellt. So hieß es jedenfalls. Und ich hab’s geschluckt. Beim Vorstellungsgespräch beschrieb Armitage das Forschungsprojekt so, als gäbe es nichts Besseres. Dann habe ich dort zwei Jahre verbracht und wir sprachen nie wieder über Teilchenphysik. Alle waren zu sehr damit beschäftigt, beim Verteidigungsministerium ›auf den Strich zu gehen‹.«
»Es ist also nicht nur bei Cornell so?« Loren stellte sich vor, wie überall im Land Forscher ihre normale Arbeit liegen ließen und versuchten, Zuschüsse vom Verteidigungsministerium zu ergattern. Es war ein deprimierender Gedanke.
»O nein, ganz und gar nicht. Bei Johns Hopkins war’s noch viel schlimmer. Homer hat sich mit einem Teilzeit-Job fürs Militär bereit erklärt, damit seine Forschungen in Hinsicht auf die Pekuliarbewegung finanziert werden. Nur hier haben wir die Möglichkeit, wenigstens die Hälfte unserer Kraft und unserer Zeit den Dingen zu widmen, für die wir ausgebildet sind. Unter Lamar sah die Sache anders aus. Er schuf sich ein Reich und maß seinen Erfolg an der Anzahl der klugen jungen Physiker, die er für seine Fakultät gewinnen konnte. Dass diese klugen jungen Physiker die ganze Zeit über Software für die Raketenabwehr schrieben, störte ihn überhaupt nicht. Er trieb sich in den Fluren des Pentagon herum und suchte dort nach mehr Arbeit, damit er weitere talentierte Forscher einstellen konnte. Auf dem Papier hatten wir die aufregendste Physikergruppe, die jemals zusammengestellt worden war. Aber wir forschten nicht, sondern schrieben Programme. Zwei Jahre meines Lebens futsch.«
»Nicht ganz. Du hast das Betriebssystem für SHIELA geschrieben. Und die Arbeit mit Armitage muss interessant gewesen sein. Was für ein Kopf.« Seit seinem ersten Jahr an der University of Salamanca hatte Loren Armitages Arbeit verfolgt. »Wie war er, Edward?«
»Ein Schwindler. Ein wundervoller Mann, in vielerlei Hinsicht, aber ein Schwindler.« Edwards Gesicht verlor bei diesen Worten etwas von seiner Strenge, als hätte er noch immer eine gewisse Zuneigung für seinen alten Mentor übrig. »Er konnte so überzeugend sein, dass man ihm eine seiner verrückten Ideen abkaufte, ohne sie auch nur für ausgefallen zu halten. Eigentlich war er mehr Verkäufer als Physiker. Was ihm zweifellos dabei half, dem Pentagon neue Zuschüsse abzuluchsen, wenn ein Projekt Geld brauchte. Aber er war nicht nur beim Pentagon ein Verkäufer, sondern überall. Er verstand das Verkaufen so gut, dass er uns überzeugte und manchmal auch sich selbst. Die Wahrheit war für ihn nur eine Art Rohmaterial, das man nach Belieben formen konnte.«
»Ein nützliches Talent.«
»Sein großer Held war De Bono.«
Sonia sah von ihrem Obstteller auf. »Meinst du den De Bono, der Laterales Denken geschrieben hat?«
»Ja. Und all die anderen Bücher über Gedankenspiele und Kreativität. Wenn wir irgendwo festsaßen, rief Lamar uns zusammen und las einen Text von De Bono vor. Vor allem die Provokationstechnik um das ›Po‹ hatte es ihm angetan.«
Sonia nickte. »Po, das Gegenteil von Nein«, sagte sie. »Ich erinnere mich.«
Damit konnte Loren nichts anfangen, was man ihm offenbar ansah, denn Edward erklärte: »Wenn man mit einem Problem nicht weiterkommt, sagt man einfach ›Po damit‹. Man wünscht sich das Problem weg; man umgeht es. Manchmal hilft es, denn wenn man vorgibt, dass das Problem gar nicht existiert oder man bereits eine Lösung dafür hat, kann man Ideen erforschen, die jenseits davon liegen. Dann kann man sich mit neuen Dingen befassen, die sonst außer Reichweite geblieben wären.«
»Po mit der verdammten Feldgleichung«, sagte Loren und fühlte die Enttäuschungen und den Frust der vergangenen Wochen.
»Genau.«
Claymore starrte ins Leere. Er schien gar nicht zugehört zu haben, brummte aber: »Po.«
»Man poht ein Problem und denkt alle Gedanken, die man gedacht hätte, wenn das Problem gelöst wäre«, fuhr Edward fort. »Manchmal gibt einem einer dieser Gedanken die Möglichkeit, zurückzukehren und das Problem aus der Welt zu schaffen.«
»Wir machen so etwas«, sagte Sonia. »Vielleicht machen wir es nicht oft genug.«
»Wir machen es hier und es kann helfen. Aber wir gehen dabei nicht so vor wie Lamar. Wir pohen ein Problem, ohne zu vergessen, dass wir eines Tages zurückkehren und uns erneut damit befassen müssen. Wenn Lamar etwas pohte, so hatte es sich damit; das gepohte Etwas existierte nicht mehr. Unser ganzes Projekt schwebte in neurotischer Stumpfheit und leugnete die Realität auf allen Seiten. Es war eine große Erleichterung, als es beendet wurde. Andererseits hätte uns ein kollektiver Nervenzusammenbruch gedroht.«
Loren schnitt eine Grimasse bei dem Gedanken, dass einer seiner alten Helden auf tönernen Füßen stand. »Aber er kriegt doch etwas zustande, Edward, oder? Sein Konzept des Besonderen Attraktors ist wundervoll.«
»Er kriegt das eine oder andere hin, ja. Oder die Dinge finden um ihn herum statt. Er ist ein wichtiger Bestandteil der allgemeinen Chemie, die Kreativität hervorbringt. Aber er persönlich ist ein Schwindler.«
Neben Loren murmelte Claymore etwas in seinen Tee. Er hatte das Gesicht auf eine sonderbare Weise verzogen.
»Po Armitage«, sagte er leise. »Po mit dem ganzen schmutzigen Kram.« Er blickte noch immer ins Leere und seine Hände zitterten leicht. Ein seltsamer Laut entrang sich seiner Kehle; es klang fast nach einem Würgen.
Loren stand auf. »Ist alles in Ordnung, Claymore?« Er streckte die Hand nach Clays Schulter aus und befürchtete, dass er eine Art Anfall hatte. Claymore sah auf, ohne ihn zu erkennen. Ein Moment verstrich und dann zeigte sein Gesicht wieder das für ihn typische leichte Lächeln. Er erhob sich und griff nach seiner Tasche. »Ich geh jetzt schwimmen.«