24
Pax
Shiela
Es war nicht nur der Kampf allein, der die großen Seeschlachten des zwanzigsten Jahrhunderts charakterisierte, sondern auch jede Menge Frust. Die Skagerrakschlacht Ende Mai 1916 bietet dafür ein klassisches Beispiel. Mehr als zweihundert Großkampfschiffe der deutschen und britischen Flotte trafen in Nebel und Dunkelheit vor der dänischen Küste aufeinander und bekamen kaum ein Ziel zu sehen, auf das sie schießen konnten. Als sich die Deutschen zurückzogen, gab es auf der anderen Seite nur wenige Kämpfer, die den Feind überhaupt gesehen hatten. Sechsundzwanzig Jahre später trafen bei Midway die japanische und amerikanische Flotte aufeinander, aber zahlreiche Schiffe beider Flotten fanden den Kampf überhaupt nicht. Admiral Yamamoto, der japanische Befehlshaber, wurde nicht einmal Augenzeuge der Kampfhandlungen. Sein Schlachtschiff Yamato und das Gros der japanischen Ersten Flotte hätten genauso gut im Hafen bleiben können. Am Ende der Schlacht fragte sich Yamamoto noch immer, wo genau der Kampf stattfand.
Bei den Seeschlachten des neunzehnten Jahrhunderts sah die Sache ganz anders aus. Die gegnerischen Flotten formierten sich in einem Abstand von nur etwa hundert Metern und feuerten mit ihren Kanonen aufeinander, bis eine Seite vollkommen zerstört war. In der Moderne hatte sich vor allem die Reichweite der Waffen erhöht, und zwar so sehr, dass man auf den Gegner schießen konnte, ohne ihn zu sehen. Die Seeschlachten des zwanzigsten Jahrhunderts fanden am Rand des Feuerbereichs statt – nur das Donnern der Geschütze oder die Richtung, aus der die Flugzeuge eines Flugzeugträgers kamen, deutete auf die Position des jeweiligen Gegners hin.
Der Kampf im Bahama Channel, die erste Seeschlacht des Effektor-Zeitalters, kehrte zum Modell der Seeschlachten im neunzehnten Jahrhundert zurück. Die Verwendung von SHIELA gab einer der beiden Seiten einen großen Vorteil, doch SHIELAs Laserwaffen waren alles andere als breit gestreut. Wenn die Laserstrahlen ihr Ziel auch nur um wenige Meter verfehlten, richteten sie überhaupt keinen Schaden an. Diese Waffe konnte also nur dann sinnvoll verwendet werden, wenn das Ziel nahe genug war, um seine Position genau zu bestimmen. Der Gegner musste in Sichtweite sein, fast zum Greifen nah.
Um kurz nach halb neun morgens sah Loren auf dem Radarschirm der Columbia sieben Punkte, die sich von Nordwesten näherten. Sofort gab er seiner Flotte ein Signal, damit sie beidrehte und ihre relative Position wahrte. Er wusste, dass der Feind sie ebenfalls auf dem Radar sah. Die Störsender befanden sich in der zweiten Verteidigungslinie, an Bord der Sirrus und Celestine, und waren inzwischen eingeschaltet. Loren vergewisserte sich, indem er mit dem Funkgerät verschiedene Frequenzen überprüfte. Anschließend trat er wieder zum Radarschirm neben dem Kartentisch und beobachtete, wie die Angriffsflotte näher kam. Kendra Browne saß an den Kontrollen des Radars und Kelly befand sich in der Kombüse hinter ihnen. Alle anderen waren an Deck.
»Wir können nur hoffen, dass der Gegner seine Flotte nicht teilt«, wandte sich Loren an Kendra. »Halte gut Ausschau und gib mir sofort Bescheid, wenn sich die Formation der Flotte ändert.«
»Okay. Ich meine: ja, Sir, Loren.« Kendra sah zu ihm auf. Sie war ein Teenager und Loren dachte: Ich ziehe mit Jugendlichen in den Krieg.
Kelly erhitzte Wasser auf dem Herd. »Dies ist dumm, ich weiß«, sagte sie. »Ein Kampf steht bevor, aber ich bin schläfrig und deshalb koche ich Kaffee. Mein Ruf würde schweren Schaden nehmen, wenn ich mitten in der Schlacht einschlafe.«
»Jeder reagiert anders auf die Anspannung. Mach dir keine Sorgen.« Als Loren zusammen mit Proctor Pinkham in dem kleinen Ruderboot zur Palomar übergesetzt hatte, war er froh gewesen, dass das Boot für eine dritte Person nicht genug Platz bot. Aber inzwischen bedauerte er, dass nicht auch Kelly an der Besprechung teilgenommen hatte. »Kelly, ich möchte dir genau sagen, was ich plane. Ich erwarte deine Kritik. Sag mir, was wir besser machen können. Die anderen haben sich einfach mit meinen Vorschlägen abgefunden. Sie hatten es so eilig, alles in Gang zu bringen, dass sie nicht weiter über den Schlachtplan nachgedacht haben. Oder vielleicht habe ich ihn mit solcher Zuversicht vorgetragen, dass niemand von ihnen auf den Gedanken kam, Teile davon infrage zu stellen. Nimm den Plan für mich auseinander.«
»Die kritische Kelly. Bekannt dafür, alles auseinanderzurupfen. Also gut.«
Loren legte die Damesteine auf den Kartentisch und wiederholte den Vortrag, den er den Captains der ersten Verteidigungslinie gehalten hatte. Kelly hörte zu, ohne ihn zu unterbrechen, und als er fertig war, blickte sie eine Zeit lang auf die Damesteine hinab. Schließlich sagte sie: »Loren, der Wind ist ziemlich stark. Ich wollte auch deshalb Kaffee kochen, damit die Leute an Deck etwas Warmes zu trinken haben, denn der Wind bläst ihnen bis auf die Knochen. Mir war kalt. Mit so viel Wind wird alles viel schneller ablaufen, als wir geplant haben.«
»Ich weiß. Daran habe ich ebenfalls gedacht. Der Wind weht mit achtzehn Knoten.«
Kelly goss heißes Wasser in einen kegelförmigen Kaffeefilter über einer gläsernen Kanne. »Die größte Gefahr besteht darin, dass wir die andere Flotte zu nahe herankommen lassen. Wir müssen ein Stück vor ihr bleiben, das weißt du. Wenn auch nur eins unserer beiden Geschwader dreht, geraten wir in Schwierigkeiten. Ich glaube, du solltest bereit sein, SHIELA auch dann einzusetzen, wenn sich die Ziele inmitten unserer Flotte befinden. Eins unserer Boote zu treffen, ist weniger schlimm, als den Feind passieren zu lassen. Aber du musst dich innerlich darauf vorbereiten, bevor es passiert. Sonst bringst du es nicht über dich, wenn es so weit ist.«
Loren nickte.
Kelly sah ihn ruhig an und lächelte. »Welche Rolle willst du spielen, wenn ich fragen darf?«
»Ich habe vor, das SHIELA-Terminal bei den ersten Schüssen zu übernehmen, um ein Gefühl dafür zu bekommen.« Es war nur zur Hälfte ein Scherz.
»Oh, ausgezeichnet. Gib dem Gegner eine faire Chance, indem du die Tastatur den ungeschicktesten Fingern überlässt.«
»Ich kann tippen.«
»Oh, ich habe dich tippen sehen. Ein schrecklicher Anblick. Außerdem müsstest du sitzen, um mit der Tastatur zu arbeiten. Du wärst nicht nur mit den Händen und Gedanken allein bei SHIELA, du könntest auch nichts sehen. Ich glaube, diese Idee sollten wir über Bord werfen, Loren.«
»Na schön, na schön, du übernimmst die Tastatur. Sie und SHIELA gehören dir.«
»Es wäre am besten, wenn du dich auch aus der Schussbeobachterei heraushältst. Danny kann das übernehmen, er hat genug Übung. Vermeide es, seine Angaben infrage zu stellen oder zu kritisieren, Loren. Jemand muss das große Ganze der Schlacht im Auge behalten, und das solltest du sein. Andernfalls wäre jeder Captain auf sich allein gestellt. Kümmere dich um die Flotte, damit unsere Position immer optimal ist. Wenn wir Risiken meiden und vor den Angreifern bleiben, können wir nicht verlieren. Es sei denn, der Gegner hat für uns eine ebenso große Überraschung wie wir für ihn mit SHIELA.«
»Ja.«
»Wenn du den Proctor am Steuerrad durch Homer ersetzt, haben wir einen etwas besseren Seemann am Ruder der Columbia und dann hätte auch Ted Gelegenheit, das große Ganze zu sehen. Er hat mich beeindruckt. Ich gestehe, dass ich zu Anfang ein falsches Bild von ihm hatte.«
»Nicht nur du. Ich erkläre Homer und Ted die Neuigkeiten.«
»Und noch etwas, Loren. Hast du daran gedacht, wie wir vorgehen sollen, wenn es beim Gegner keine rechte oder linke Seite gibt?«
»Wie meinst du das?«
»Angenommen, die sieben Jollen kommen, von uns aus gesehen, direkt hintereinander.« Kelly deutete auf die Punkte, die der Radarschirm zeigte.
»Himmel, Kelly, daran habe ich nicht gedacht. Ich muss Edward mitteilen, dass wir mit dem Beschuss warten, bis wir die gegnerische Formation auseinandergezogen haben.«
»Das ergibt einen Sinn.«
»Oder wir könnten die Palomar auf das letzte Boot schießen lassen.«
»Noch besser.«
»Und dann soll sie die rechte Seite unter Beschuss nehmen, wenn der Feind ausfächert.« Loren brannte darauf, Edward Bescheid zu geben, ihn auf dieses neue Problem hinzuweisen. Er eilte zur Plicht, wo sich das Lichtsignal-Funkgerät befand.
Kelly ergriff ihn am Arm, als er an ihr vorbeikam. »Viel Glück, Loren. Du wirst einen wundervollen Sieg erringen.« Ihre Lippen berührten ihn an der Wange.
*
Homer saß am Steuerrad, mit dem Rücken zum näher kommenden Feind, der inzwischen deutlich zu sehen war. Die Präsenz der anderen Flotte schien ihn nicht zu interessieren; er hatte sich nicht einmal umgedreht. »Nun, die niederen Tiere …«, sagte er. »Die niederen Tiere sehen das, was geschehen ist, natürlich völlig anders. Sie konnten nie viel anfangen mit Verbrennungsmotoren und anderen Luxusgütern, die nutzlos geworden sind, seit ich begonnen habe, mit Effektoren und so weiter herumzuspielen. Nein, für die Tiere muss die neue Ordnung prima sein. Ihnen dürfte es umso besser gehen, je schlechter es den Menschen geht. Wenn es für die Menschheit bergab geht, geht es für sie bergauf. So wird der Name Layton bei Waschbären mit großem Respekt genannt, aber nicht bei Menschen.«
»Homer«, sagte Kelly sanft. »Du solltest jetzt besser still sein und Loren nachdenken lassen. Gib allen anderen Gelegenheit, sich auf das zu konzentrieren, was jetzt getan werden muss.«
»Oh, ja. Es wird Zeit für mich, still zu sein. Es wird Zeit, dass ich leise nachdenke und die anderen ihre Arbeit tun lasse. Nun gut, also werde ich wortlos darüber nachdenken, wie Waschbären die neue Welt sehen.«
»Bitte.«
Loren stand mit dem Feldstecher am Heck. Danny McCree rief die Entfernung zum ersten gegnerischen Schiff, die immer geringer wurde. Kelly behielt recht: Die Jollen kamen tatsächlich direkt hintereinander; die anderen sechs Boote waren hinter den Segeln des ersten kaum zu sehen. Die Präzision dieser Formation war bewundernswert. Loren bedauerte, sich nicht für einen größeren Abstand zwischen den beiden Gruppen der vordersten Linie entschieden zu haben. Es hätte ihnen einen besseren Winkel gegeben, um den Feind unter Beschuss zu nehmen.
»Zweihundertfünfzig Meter«, sagte Danny.
Loren ließ den Feldstecher sinken und staunte darüber, wie nahe die erste Jolle zu sein schien und wie schnell sie herankam. Er blickte zum Windmesser unter dem Plichtsüll.
»Windgeschwindigkeit zwanzig Knoten«, sagte Kelly.
»Danke.« Loren sprach ins Lichtsignal-Funkgerät. »Alle Schiffe lavieren nach Backbord und entfernen sich vom Feind. Die Boote der ersten Reihe kreuzen, bis der Feind auf optimale Reichweite heran ist.« Er drehte sich um und beobachtete, wie die Flotte das Manöver perfekt durchführte. Als die Columbia schneller wurde, staunte Loren darüber, wie laut die Geräusche des Winds waren. Selbst mit angeluvter Fock neigte sich das Schiff ein ganzes Stück nach Steuerbord. Aus irgendeinem Grund hatte er sich vorgestellt, dass der ganze Kampf mit ebenem Deck stattfinden würde. Das Meer um sie herum zeigte überall Wellen mit weißen Schaumkronen.
Dannys Stimme erklang erneut vom Heck. »Zweihundert Meter, Loren.«
»Die Columbia eröffnet das Feuer auf die erste Jolle. Palomar, mit dem Beschuss warten.« Loren wollte Kelly einige Male feuern lassen, bevor die Palomar beim Feind für zusätzliche Verwirrung sorgte. Er hörte in seinem Kopfhörer, wie die Kiruna und Rondolet Kelly Koordinaten durchgaben. Die Stimme von der Kiruna schien Melissa Blake zu gehören.
Der erste blaue Blitz zuckte auf die herankommenden Jollen herab. Loren blickte durch den Feldstecher und sah ihn nicht einmal, hörte aber ein Donnern. Die beiden Schussbeobachter nannten Korrekturen.
»Neunzig Meter nach links«, sagte Melissa.
»Nein, nach rechts«, widersprach jemand anderer.
»Rechts neunzig Meter«, sagte Danny.
Kelly sah verärgert auf und hob eine Hörmuschel ihres Kopfhörers. »Was zum Teufel soll das heißen, Danny? War ich um neunzig Meter zu weit rechts oder soll ich um neunzig Meter nach rechts korrigieren?«
»Entschuldigung. Nach rechts korrigieren. Sie kommen weiter näher, Loren. Wir sind jetzt bei hundertsechzig Metern.«
»Alle Boote, für Geschwindigkeit trimmen«, sagte Loren ins Lichtsignal-Funkgerät. Er wiederholte die Anweisung für die Crew der Columbia, die daraufhin das Genua-Segel dichtholte. Die Columbia neigte sich noch etwas mehr zur Seite und gewann an Geschwindigkeit.
»Es wird gefeuert«, sagte Kelly.
Loren beobachtete, wie der blaue Strahl vom Himmel kam, etwas hinter dem Ziel und noch immer zu weit links. Wieder wurden Korrekturen durchgegeben und Kelly änderte ihre eigenen Anweisungen für Richtungsangaben. Trotz der vielen Übungen gab es noch jede Menge Platz für Verwirrung. Der dritte Strahl war noch näher, aber ebenfalls daneben.
»Entfernung jetzt weniger als hundert Meter«, sagte Dan.
»Palomar, Feuer auf das letzte gegnerische Schiff eröffnen.«
Sieben Stimmen kamen jetzt aus dem Funkgerät, unter ihnen die von Loren. Er versuchte, nur die Frauenstimmen zu hören.«
»Columbia schießt erneut«, sagte Kelly.
Homer beugte sich leewärts, sah zum Hauptsegel hoch und schätzte die Trimmung ein. Die Geschwindigkeit über Wasser betrug mehr als neun Knoten und die Neigung des Boots war so stark, dass die Lee-Reling ins Wasser tauchte. Das Geräusch von Wind und aufgewühltem Wasser wurde so laut, dass Homer rufen musste, um sich verständlich zu machen. »Für die abhängigen, unfreien Tiere hat der Effektor natürlich nichts Gutes gebracht. Solche Tiere müssen von Menschen Futter und Trinkwasser bekommen, was die knapp gewordenen Ressourcen belastet. Oder sie müssen gemolken werden und die Melkmaschinen funktionieren nicht mehr. Oder die Tiere werden schneller geschlachtet, weil das Fleisch fast sofort verdirbt.«
»Nach rechts korrigieren, zehn Meter, und zehn Meter nach hinten.«
»Columbia feuert.«
Loren blickte zurück, um sich zu vergewissern, dass die zweite Reihe ihre Formation bewahrte. »Segel für Geschwindigkeit!«, rief er ins Funkgerät. »Fock in den Wind. Nicht weiter zurückfallen.«
Als sich Loren wieder den Jollen zuwandte, änderten sie gerade den Kurs. Damit hatte er gerechnet und beschlossen, den eigenen Kurs nicht anzupassen. Mit der zweiten Schussgruppe auf der Steuerbordseite bot der Feind ein besseres Ziel. »Palomar, weiter auf das Ende der Reihe schießen, jetzt auf eurer rechten Seite.«
»Palomar bestätigt.«
»Columbia feuert.«
Die Beobachter mittschiffs jubelten, als die zweite Jolle getroffen wurde – sie schien in die Luft zu springen, als der Laserstrahl sie in der Mitte entzweischnitt. Einen Sekundenbruchteil später ertönte das Donnern des Treffers.
»Noch einmal, Kelly. Und noch einmal.«
Kelly betätigte die Wiederholen-Taste zweimal schnell hintereinander, was zwei weitere Laserstrahlen in das Wrack brachte. Die dritte weiße Jolle wich aus und geriet dadurch in den Wind. Loren hörte, wie ruhige Stimmen von der Rondolet und Kiruna die Koordinaten dieses neuen Ziels nannten.
»Flottenmanöver, klar zum Wenden. Nach Backbordbug.«
Loren drehte sich um und beobachtete das Manöver. Der Abstand zur zweiten Reihe hatte sich weiter verringert und betrug nur noch fünfundzwanzig Meter. Plötzlich tönte weiterer Jubel durch das Fauchen des Winds und Loren sah zurück. Die Palomar hatte das letzte gegnerische Schiff getroffen, seine Vorsegel und einen Teil des Bugs zerstört. Die Jolle wendete und versuchte, Fahrt aufzunehmen. Edward richtete drei weitere Schüsse auf sie, verfehlte das Ziel aber. Schuss vier und fünf waren Volltreffer. Nummer vier schüttelte das Boot und Nummer fünf ließ es auseinanderbrechen. Loren sah, wie Menschen und Trümmer ins Meer fielen.
»Die Fische sind natürlich viel besser dran«, sagte Homer. »Für Fische war das Einschalten des Effektors einfach prächtig. Bei den Fischen bin ich ein Held. Bei Fischen und Walen. Man denke nur an die Wale. Ich habe zahlreiche Wale gerettet. Wer kann heute noch einen Wal erlegen? Ich erwarte den Greenpeace-Preis für die Rettung der Wale.«
Bei der Flotte der weißen Jollen herrschte jetzt völliges Durcheinander. Zwei segelten zur einen Seite und zwei zur anderen; die fünfte blieb zurück, wahrscheinlich mit der Absicht, Überlebende an Bord zu nehmen. Loren hörte ein dumpfes Pochen und etwas fiel aufs Deck, streifte dabei seine Schulter. Er senkte den Blick und erkannte einen kurzen silbernen Pfeil mit einer Spitze aus Metall und bunten Federn am Schaft – das Ding sah hässlich aus. Der Pfeil hatte, als er die Columbia erreichte, so viel an Durchschlagskraft verloren, dass er vom Hauptsegel abgeprallt und aufs Deck gefallen war. Danny betrachtete ihn und maß rasch die Entfernung zur ersten Jolle.
»Fünfundsechzig Meter«, sagte er.
»Beschuss auf das stationäre Boot fortsetzen. Wir sind nicht in Gefahr.«
Eine der anderen Jollen hatte in den Wind gedreht. Loren richtete seinen Feldstecher auf sie und sah junge Männer in Uniform an der Reling. Offenbar setzten sie ein Rettungsboot oder etwas in der Art aus. An der Reling auf der anderen Seite fanden ähnliche Aktivitäten statt.
Homer sprach noch immer seine Gedanken aus. »Aber Herr Walheld ist nur eine Ziege unter Ziegen. Ziegen waren angebunden, überall. Ziegen und Esel. Als ihre menschlichen Herren starben, bekamen sie kein Wasser mehr. Sie verdursteten, welch ein schreckliches Ende. Ich habe in einigen Dörfern gesehen, was aus ihnen geworden ist: die Bäuche angeschwollen, die Zungen aus dem Maul hängend. Ich glaube, sie starben voller Hass auf Homer Layton.«
»Homer«, sagte Kelly zornig, während sie durch den Kopfhörer Richtungsangaben empfing und ihre Finger weiter über die Tasten huschten, »dies ist wirklich, wirklich dumm. Dich trifft keine Schuld daran, was mit den verdammten Ziegen geschah. Und mit ihren menschlichen Herren. Sie starben durch das Gas.«
»Kelly, pass auf, um Himmels willen!«, rief Loren durch das Heulen des Winds.
»Ich passe auf«, erwiderte sie scharf und drückte die Enter-Taste. Ein Laserstrahl schnitt durch die stationäre Jolle.
»Noch einmal, Kelly, schnell.«
Sie wiederholte den Feuerbefehl für SHIELA und zwei weitere Strahlen trafen das feindliche Boot. »Die Toten auf Kuba gehen nicht auf dein Konto, Homer. Du bist nicht schuld daran.«
»Ich bin nicht schuld?«
Kellys Finger tanzten wieder auf der Tastatur. »Nein. Die Schuld hat Rupert Paule.«
»Oh. Das habe ich vergessen. Bei den vielen Toten überall ist es schwer, die Übersicht zu behalten, wer wo die Schuld hat.«
»Die Toten von Kuba hat allein Rupert Paule auf dem Gewissen.«
»Armer Rupert. Fühlt sich bestimmt ziemlich mies. Homer Layton und Rupert Paule, die beiden meistgehassten Personen auf der Erde. Von den Menschen gehasst, meine ich. Bei Waschbären sind wir recht beliebt.«
»Steuermann, Kurs halten. Mittschiffs, Fock nachgeben. Wir lassen uns ein bisschen zurückfallen.« Loren sah nun, was die Jolle zu Wasser gelassen hatte: zwei kleine Katamarane, jeweils mit zwei Mann an Bord. Sie würden erheblich schneller sein als die Jollen, auch gegen den Wind. »Flottenmanöver, klar zum Wenden. Weiter auf Backbordbug.«
»Loren, hier ist Edward. Hast du die Katamarane gesehen?«
»Ja. Sie sind dein Ziel, Edward. Wir feuern weiter auf die Jollen.«
Loren hatte diese Worte gerade gesprochen, als weiter hinten eine Jolle zerbrach, nachdem sie von vier Laserstrahlen getroffen worden war. Der Wind wurde noch stärker und die Entfernung zur ersten Jolle schrumpfte weiter. Sie passte ihre Manöver der Columbia an. Ihre Crew wusste, dass sie jederzeit von einem Strahl getroffen werden konnte; dass sie dennoch einen kühlen Kopf bewahrte, nötigte Loren einigen Respekt ab.
Wieder hörte er ein Pochen und ein Armbrustbolzen bohrte sich in die Kunststoffkonsole vor Homers Arm. Homer richtete einen gleichgültigen Blick darauf und setzte seinen Monolog fort. »Oder vielleicht denkt Rupert Paule nie über solche Dinge nach. Das gehört zu den Vorteilen, ein wahrer Gläubiger zu sein. Beweise sind irrelevant. Es kann keine Schuld geben, wenn man im Auftrag Gottes handelt. Zu schade, dass ich nie eine göttliche Botschaft empfangen habe. Andererseits hatte auch ich ihm nie viel zu sagen. Ich habe seine Nichtexistenz immer für einen schweren Charakterfehler gehalten.«
»Mittschiffs! Fock dichtholen. Segel für Geschwindigkeit. Columbia, Feuer auf die erste Jolle. Sie ist zu nahe herangekommen.«
Ein blauer Blitz erfasste einen der beiden Katamarane. Der zweite änderte abrupt den Kurs, um den Trümmern auszuweichen. Loren beugte sich vor und versuchte, Einzelheiten zu erkennen. Plötzlich glitt etwas vorbei.
»Himmel, Loren!«, rief Danny. »Die Antigone ist in Schwierigkeiten.«
Loren ließ den Feldstecher sinken. Die Antigone war zwischen die Columbia und die feindliche Flotte geraten, ihre Segel zerrissen.
»Antigone, abdrehen. Nach steuerbord segeln, weg vom Kampfgebiet.« Loren beobachtete, wie sie sich entfernte, langsam ohne das Hauptsegel. Die weiße Jolle nahm die Verfolgung auf. »Weiter feuern, Kelly. Bitte erledige die Jolle.«
»Nein, Rupert schläft gut des Nachts, während ich mich hin und her wälze und über andere Universen nachdenke. Nein, für den alten Rupe gibt es keine Gewissensbisse, keine quälenden Gedanken. Für Homer hingegen gibt es jede Menge davon. Es ist der Fluch des Ungläubigen: die Gewissheit, dass man für jede Entscheidung, die man trifft, selbst verantwortlich ist. Und das härteste Urteil, mit dem man leben muss, fällt das eigene Gewissen.«
»Beeilt euch, mittschiffs! Wendemanöver, bringt uns zwischen die Angreifer und die Antigone. Wenden, Homer.«
»Wenden, aye, aye, Sir.« Homer drehte das Steuerrad.
»Palomar, ihr seid auf euch allein gestellt. Das Palomar-Geschwader empfängt seine Anweisungen jetzt von Edward. Columbia-Geschwader, klar zum Wenden. Und los. Homer, den Kurs halten.«
»Oh, klar. Keine Veränderungen mehr. Es ist entschieden. In einem anderen Universum sieht die Sache anders aus, aber hier sind die Würfel gefallen.«
»Antigone, Kurs halten. Wir setzen uns vor euch.« Loren beobachtete, wie die Leute auf dem Vordeck der Antigone eine Sturmfock durch die Bugluke zogen. Als sich der Bug des Boots senkte, schlug grünes Wasser auf das Segel und strömte zur Unterdeck-Crew. Es war zu hören, wie in der Plicht der Antigone Befehle gerufen wurden, und dann, einen Moment später, war die Columbia vorbei und man hörte nur noch das Fauchen des Winds.
»Anluven, Homer«, sagte Loren. »Segel mittschiffs dichtholen. Kelly, schieß weiter.«
Danny rief ihr Richtungsdaten zu. Ein weiterer blauer Blitz zuckte vom Himmel herab und ging auf der anderen Seite der Jolle nieder, ohne dass klar wurde, um wie viele Meter er das Ziel verfehlte.
»Etwa fünfzig Meter weiter vorn, Kelly.«
Noch ein Blitz gleißte, keine drei Meter entfernt, so hell, dass er Loren blendete. Dampf zischte ihm entgegen. »Feuer einstellen, Columbia, lieber Himmel!« Kelly hatte gesagt, dass er darauf vorbereitet sein sollte, während des Gefechts eins der eigenen Schiffe zu treffen, aber er war nicht bereit, die Columbia aufs Spiel zu setzen. Es gab keinen Schutz vor den Laserstrahlen und bei dieser geringen Entfernung konnten sie sich selbst treffen, wenn sie auf die Jolle schossen.
Loren warf den Feldstecher in die Plicht und sah, wie Proctor Pinkham seine Brille mit dem Stoff des Trainingsanzugs säuberte. Das weiße Boot näherte sich der Columbia von der anderen Seite und stellte die Segel so sehr in den Wind, wie es möglich war. »Drehen, Homer. Bring uns vor ihn. Zwingen wir ihn zu einem Ausweichmanöver.«
»Drehen, in Ordnung.«
Loren spürte, wie sich die Nase der Columbia etwas mehr in den Wind hob. Die Entfernung betrug etwa vierzig Meter. Deutlich sah er die Besatzungsmitglieder der Jolle, die mittschiffs an der Winsch arbeiteten und versuchten, die Fock noch mehr dichtzuholen. Bei der Plicht glänzte etwas im Sonnenschein, zwei Zylinder aus Metall, vermutlich mit verschiedenen Gasen gefüllt, die zusammen das tödliche Nervengas ergaben. Wenn noch Zweifel existierten, so verschwanden sie, als die Leute an Bord der Jolle schwarze Gasmasken aufsetzten.
Jemand zog an Lorens Ärmel. »Weg von dem Boot, Loren!«, rief Kelly. »Wir müssen die Entfernung vergrößern, damit wir wieder feuern können.«
Loren sah zum Gegner zurück. Abgesehen von der Jolle, die sie querab hatten, war nur noch eine weitere übrig und die befand sich im Wind. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Edward sie erledigt hatte. Der zweite Katamaran schien ebenfalls getroffen worden zu sein.
»Den Kurs halten, Homer.« Jetzt abzudrehen hätte bedeutet, die Antigone der Jolle zu überlassen, denn ohne Hauptsegel konnte sie nicht entkommen. Und wenn sie vor ihr in den Wind kreuzte, konnte sie Opfer eines Giftgasangriffs werden. Loren wollte keins seiner Boote opfern, zumal der Kampf fast gewonnen war.
Plötzlich fühlte er einen stechenden Schmerz, senkte den Blick und sah Blut am linken Schienbein. Ein Pfeil hatte das Hosenbein durchschlagen und dabei das Schienbein gestreift.
»Kelly, an die Armbrust.« Loren schob sie mit beiden Händen der fest montierten Waffe entgegen; hinter der Plexiglashaube beim Spiegel am Heck würde sie sicher sein. »Kendra, gib mir den Schild, schnell.« Sie reichte eine flache Plexiglasplatte mit daran festgeschraubten Griffen nach oben und Dan McCree ergriff sie, lief damit nach achtern und hielt den Schild vor Homer und Loren. Proctor Pinkham half ihm dabei. Loren richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das andere Boot. Der Wind heulte noch immer und die Entfernung zwischen den beiden Booten schmolz schnell dahin. Man konnte die Anweisungen hören, die auf dem Deck der Jolle gerufen wurden.
Kelly schoss auf den Armbrustschützen hoch oben im Mastkorb des gegnerischen Boots.
»Verdammt!«, sagte sie, als sie feststellte, dass sich die Waffe nicht weit genug nach oben richten ließ. Sie zerrte die Armbrust aus ihrem Sockel und lief damit nach vorn.
Neben Loren zuckte Danny plötzlich zusammen und sank auf den Boden der Plicht. Ein Pfeil steckte zwischen den Schulterblättern, und zwar so, dass er auf Lunge und Herz zeigte. Blut trat aus der Wunde. Loren sprang zu ihm und griff nach dem Schaft. »Kendra. Erste Hilfe! Den Pfeil stabilisieren. An die Arbeit.«
Kendras Gesicht war weiß, als sie zögernd die Hand nach dem Pfeil ausstreckte.
»Ich hab ihn, Loren.« Proctor Pinkham hockte neben ihm. Loren zog die Hand und der Proctor legte seine dort um den Schacht, wo er zwischen den Schulterblättern aus dem Körper ragte. Loren stand auf und hielt den Schild. Pinkham beugte sich über Dan, schirmte ihn mit seinem Körper ab.
Kelly hatte den Mast erreicht und schoss von dort aus mit der Armbrust. Beim zweiten Schuss hörte Loren einen Schrei und beobachtete, wie jemand aus dem Mastkorb der Jolle aufs Deck fiel. Kelly jubelte und Loren rief: »Kurs halten, Homer. Zwing den Gegner zum Abdrehen.«
Plötzlich kam ein lauter Ruf von Homer. Er wölbte eine Hand am Mund und richtete seine Worte an die Jolle: »STEUERBORD! Wir haben Vorfahrt, du Idiot. Du bist ein Backbordbug-Schiff. Gib den Weg frei!«
Das Hauptsegel der Jolle flatterte, als der Steuermann zögerte. »Wir sind auf der Steuerbordseite«, erwiderte er dann. »Wir haben Vorfahrt.«
»Du drängst herein!«, rief Homer. »Regel 39. Gib den Weg frei. Die Columbia hält den Kurs.«
Erneut flatterte das große Hauptsegel der Jolle. Flüche erklangen in ihrer Plicht und dann drehte sie plötzlich in den Wind. Loren hörte das Rasseln der Winschen, als das Segel dichtgeholt wurde, und dann neigte sich die Jolle zur Seite, präsentierte der Columbia ihre Breitseite.
»Los, Homer!«, schrie Loren. »Ramm den Mistkerl.«
»Oh, ja, zu Befehl. Den Mistkerl rammen, aye, aye, Sir.« Homer bewegte das Steuerrad und blieb so ruhig wie bei einem sonntäglichen Segelausflug mit der Familie. Die Columbia krängte, als ihre Segel den Wind einfingen, und wurde schneller. Mit fast zehn Knoten pflügte sie durchs Meer.
»Achtung, alle gut festhalten!« Lorens Stimme überschlug sich fast. Schreie ertönten bei der Besatzung der Jolle. Loren blickte nach vorn zu Kelly und stellte fest, dass sie einen Arm um den Mast geschlungen hatte. Er klammerte sich an der Kajütenluke fest und dann erfolgte auch schon der Aufprall. Mit einem donnernden Krachen schmetterte der Bug der Columbia gegen den Rumpf der Jolle, stieg ein wenig auf und bohrte sich mittschiffs. Homer gab im Moment des Kontakts ein »Ufff« von sich. Wenige Sekunden später krachte es erneut, als der Hauptmast der Jolle brach; Segel, Taue und Leinen fielen aufs Deck.
Kelly war auf den Beinen, schnappte sich eine der vier Macheten, die direkt hinter dem Mast bereitlagen, und lief nach vorn.
»Nein, Kelly …« Loren eilte los, um sie zurückzuhalten, aber Kelly setzte bereits über die Reling hinweg und sprang auf die Jolle. Loren folgte ihr und hielt nur kurz inne, um selbst eine Machete zu nehmen. Holz und Metall gaben nach, als der Bug der Columbia über die Seite der Jolle kratzte. Loren sprang ebenfalls von der Reling und landete in einem Durcheinander aus Segelplanen und Leinen auf dem Deck der Jolle. Gestalten bewegten sich unter dem weißen Stoff. Die Columbia schwamm jetzt wieder frei und drehte sich schnell luvwärts.
Loren rollte herum und befreite sich von einem Tau. Hinter ihm schlug Kelly nach einem Mann neben den silbernen Gaszylindern. Einer der Zylinder war geöffnet und gelbliches Gas strömte heraus. Der Mann – er trug eine Gasmaske – versuchte, den zweiten Zylinder zu erreichen. Loren wusste: Beide Gase waren für sich genommen harmlos, aber zusammen wirkten sie tödlich. Kelly holte aus und brachte die Machete auf den Rücken des Mannes herab. Überall war Blut. Der Verwundete warf sich Kelly entgegen und ging mit ihr zu Boden.
Loren setzte über Segel und Leinen hinweg und wollte ihr zu Hilfe kommen, doch plötzlich erschien ein anderer Mann vor ihm. Er trug ebenfalls eine Gasmaske und hielt eine Luftpistole in der Hand, richtete sie auf Lorens Gesicht und schoss. Ein kleiner Pfeil traf seine Wange, durchdrang sie und schlug gegen die Zähne. Er spuckte ihn zusammen mit Blut aus, lief weiter und wusste, dass es der Mann auf seine Augen abgesehen hatte. Er schwang die Machete von der Hüfte aus nach oben, legte seine ganze Kraft dahinter. Ein Schrei erklang, gedämpft von der Gasmaske. Die Hand mit der Luftpistole fiel aufs Deck und das Gesicht des Mannes, was davon zu sehen war, verwandelte sich in eine Fratze aus Schmerz und Zorn. Loren begriff, dass er diesen Mann töten musste. Er wollte ihn töten, hob die Machete mit beiden Händen über die Schulter, schlug erneut zu und schnitt seinem Gegner den Bauch auf. Blut spritzte und Eingeweide quollen hervor. Loren wollte zurückspringen, rutschte aber aus und fiel.
Wo zum Teufel war Kelly? Loren hatte die Orientierung verloren und wusste nicht einmal mehr Bug und Heck voneinander zu unterscheiden. Als er auf die Knie rollte, bemerkte er etwas Blaues. Dort war sie und versuchte, den geöffneten Gaszylinder über Bord zu werfen. Sie hatte ihn bereits halb auf der Reling und in einer Art Zeitlupe beobachtete Loren, wie der Behälter kippte und aufs Deck zurückzurutschen drohte, sich dann zur anderen Seite neigte und fiel.
Loren kam auf die Beine und wankte nach achtern, Kelly entgegen. Ein weiterer Mann mit Gasmaske, gerade unter dem Segel hervorgekrochen, versperrte ihm den Weg. Loren hatte seine Machete verloren, stürzte sich auf den Mann und riss ihn von den Beinen. Der Mann stemmte sich hoch, kehrte ihm auf Händen und Knien den Rücken zu. Loren warf sich nach vorn, prallte gegen das Hinterteil des Mannes und schickte ihn über die Reling. Als er neben Kelly auf den Rücken rollte, näherte sich ein weiterer Gegner, ebenfalls mit Gasmaske. Er hielt einen Säbel in der Hand, dessen Klinge im Sonnenlicht scheußlich glänzte.
Auf der anderen Seite des Boots krachte es, als ein zweiter Segler mit der Jolle kollidierte. Kampfschreie erklangen; Männer und Frauen sprangen über die Reling. Der Mann mit dem Säbel drehte überrascht den Kopf und Loren sah ein böses Blitzen in seinen Augen. Kelly schlug zu, zog ihm die Machete über die Brust und hinterließ einen roten Streifen. Dann hob sie die schwarze Klinge über den Kopf und brachte sie auf das Schlüsselbein herab. Rotes Arterienblut strömte aus dem Hals, spritzte Kelly ins Gesicht, in ihr Haar und auf den Trainingsanzug. Sie taumelte zurück.
Jared Williams war plötzlich an ihrer Seite, ergriff sie und trug sie halb zur gegenüberliegenden Reling.
»Hierher, Loren!« Vier Gestalten in blauen Trainingsanzügen eilten ihm zu Hilfe, alle mit Macheten bewaffnet. Loren schaffte es endlich, wieder aufzustehen, hörte dabei, wie Holz brach und Metall riss, als sich die beiden Boote voneinander trennten.
»Zur Celestine!«, rief Williams. Seine Stimme übertönte das Getöse. »Alle zurück zur Celestine!« Er hob Kelly hoch, setzte sie auf die Reling und gab ihr einen Stoß, der sie zum anderen Boot brachte. Dann drehte er sich zu den anderen um, winkte mit beiden Armen und versuchte ihnen begreiflich zu machen, dass sie die Jolle verlassen sollten. Loren wankte übers Deck und trat dabei auf eine Gestalt, die noch unter dem Segeltuch lag.
Die Männer und Frauen in Trainingsanzügen sprangen nacheinander zur Celestine, aber Williams wartete noch.
»Springen Sie, Jared!«, rief Loren und beobachtete, wie schließlich auch William die Celestine erreichte. Loren nahm zwei Schritte Anlauf und sprang, mit Kopf und Armen voran, dem hellblauen Heckbalken der Celestine entgegen. Er landete auf Holz und Kunststoff, drohte abzurutschen und ins Meer zu fallen, langte nach dem Achterstag und schnitt sich dabei die Hand auf. Sein eigenes Blut tropfte auf das Stag und in sein Gesicht; die Füße waren im Wasser.
Eine starke Hand ergriff seinen Arm. Als er aufsah, erkannte er Claymore, der ihn mit solcher Kraft nach oben zog, dass er regelrecht in die Höhe flog und in die Plicht fiel, wo er gegen das Süll stieß. Mit tanzenden Funken vor den Augen setzte er sich auf.
»Kelly …«, sagte er.
Der Steuermann erschien in seinem Blickfeld. War es ein Mann oder eine Frau? Er konnte es nicht erkennen, sah nur zwei Hände am Steuerrad der Celestine, nicht aber den Körper, zu dem sie gehörten. Nur die Hände. Die Fingernägel waren rosarot lackiert und Loren bemerkte einen Ehering. Er beugte sich über die Reling und kotzte.
Plötzlich herrschte Stille, als der Wind von einem Augenblick zum anderen aufhörte. Es folgten ein jähes Fauchen und Donnern, das sich zweimal wiederholte – Laserstrahlen trafen ein Boot. Erneut breitete sich Stille aus, aber nur kurz – lauter Jubel verscheuchte sie. Er erklang erst auf dem Vordeck der Celestine und dann auch auf den anderen Booten. Loren hob den Kopf. Es schwammen jede Menge Trümmer im Wasser und nicht ein einziges feindliches Boot war intakt. Er blickte an der Reling entlang nach vorn und da war Kelly, voller Blut. Sie schien sich ebenfalls erbrochen zu haben, winkte ihm schwach zu und setzte sich auf. Jemand schlug immer wieder voller Begeisterung mit einer Winschkurbel gegen die Spinnakerglocke.
Die Celestine glitt ruhig durchs Wasser. Noch immer ertönte Jubel von allen Seiten und Loren fühlte, wie er sich entspannte. Es gab nichts mehr zu tun; er konnte einfach nur dasitzen.
Kelly hatte etwas nicht weit vom Bug der Celestine entfernt gesehen: ein furchterfülltes Gesicht, gerade so über dem Wasser.
»Einer von uns«, sagte sie und sprang über die Reling. Der Steuermann sah es offenbar, denn Loren fühlte, wie die Celestine plötzlich in den Wind drehte. Er kroch unter der Reling hindurch und ließ sich ins Wasser hinab. Die grüne See schloss sich für einen Moment über seinem Kopf. Er konnte den Himmel durch das Wasser sehen und als er wieder auftauchte, folgte er Kelly. Sie hatte den Mann erreicht und stützte ihn von hinten, mit einer Hand unterm Kinn. Es war ein junger Asiat, kaum mehr als ein Knabe. Loren hatte ihn noch nie gesehen. Als er Kelly erreichte, sauste eine Leine über ihn hinweg. Loren griff danach und schlang sie Kelly unter den Armen hindurch um den Oberkörper. Mit einer Hand hielt sie noch immer das Kinn des Jungen hoch und mit der anderen fuhr sie sich immer wieder durchs Gesicht. Loren brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie versuchte, sich das Blut aus dem Gesicht zu waschen, wobei sie kaum den eigenen Kopf über Wasser halten konnte. Das Meer um sie herum war voll von dem Blut, das sie im Haar und an der Kleidung gehabt hatte. Loren fand das Ende der Leine und knöpfte es zu einer Schlinge, die Kelly und den nach Luft schnappenden Jungen umgab. William hielt das andere Ende der Leine. Als er Kelly und den Asiaten zur Celestine zog, schwamm Loren neben ihnen.
Claymore bückte sich tief, zog den Jungen hoch und aufs Deck. Als er aus dem Wasser kam, wurde klar, dass er keinen blauen Trainingsanzug trug, sondern eine weiße Uniform.
»Er ist keiner von uns, Kelly.«
»Er ist Chinese. Also dachte ich …«
»Die andere Seite hat auch Chinesen.«
»Er ist nur ein Junge, Loren.«
»Wir haben vereinbart, keine Gefangenen zu machen.«
»Er ist mein Gefangener. Du kannst ihn nicht ins Meer zurückwerfen. Wenn du jemanden ins Meer werfen willst, musst du dir selbst einen Gefangenen besorgen.« Kelly reichte Claymore die Hand und er zog sie mühelos aus dem Wasser.
Als er selbst an die Reihe kam, staunte Loren über die Kraft des kleinen Mannes – in Claymores festem Griff schoss er aus dem Wasser. Wenige Sekunden später saß er und neben ihm rollte sich Kelly halb auf den Jungen, um ihn zu schützen. Er hustete Wasser.
»Er soll weiter husten«, sagte Loren automatisch und sah zu Jared Williams hoch. »Wenn er sich übergibt, muss der Kopf zur Seite gedreht werden, damit er nicht erstickt.«
»Wir kennen uns damit aus, Loren.«
»Bringen Sie Dr. Bolen zur Columbia, Jared. Danny ist verwundet.«
»Er ist schon drüben. Ted hat ihn gerufen. Mit Danny ist so weit alles in Ordnung. Sie haben seinen Zustand stabilisiert.«
Loren richtete den Blick wieder auf Kelly und verstand nicht sofort, was geschah. Sie lag noch immer halb auf dem Jungen und … schluchzte.
»Kelly …«, ertönte oben Jareds Stimme. »Komm schon, Kelly.«
Der Junge, beziehungsweise der junge Mann, starrte sie an. Kellys Tränen fielen ihm ins Gesicht. Loren beugte sich über sie und fühlte ihren Hals. Kalt. Sie zitterte.
Loren stand auf und zog auch Kelly auf die Beine. »Jemand soll sie nach unten bringen und ihr die nassen Sachen ausziehen.« Er sah sich um. Eine Frau stand am Steuerrad und alle anderen waren Männer. Loren legte Kelly den Arm um die Taille und führte sie selbst die Kajütentreppe hinunter.
Unten zog er ihr den Trainingsanzug aus. Kellys Zähne klapperten. Ihre Haut hatte einen bläulichen Ton angenommen und sie zitterte noch immer und schluchzte. Loren legte sie auf eine Koje, nahm die dicke Baumwolldecke vom Fußende und deckte Kelly damit zu. Sie wand sich unter der Decke und ein paar Sekunden später reichte sie ihm ihre nasse Unterwäsche. »Ich bin in Ordnung«, brachte sie undeutlich zwischen den klappernden Zähnen hervor. Loren hörte, wie Claymore in der Kombüse Wasser für sie erhitzte.
Er stand neben der Koje und fragte sich, was noch getan werden musste. Für Kelly, für die Flotte, für Baracoa oder für sonst jemanden. Der Gedanke an Baracoa ließ die Starre von ihm abfallen. Rasch trat er zur Kommunikationskonsole neben dem Kartentisch, nahm das mit »Flotte Lichtsignal« gekennzeichnete Mikrofon und rief die Rondolet. Fast sofort meldete sich Melissa Blake. »Hier ist Loren. Ich möchte mit Candace reden.«
Ein Klicken, eine kurze Pause und dann: »Hier Candace.«
»Ich schalte jetzt die Störsender aus. Bitte setzen Sie sich mit Baracoa in Verbindung und geben Sie die Neuigkeiten durch.«
»Mache ich sofort. Danke, Loren.«
Er legte das Mikrofon zurück, fand einen mit »AM normal« gekennzeichneten Schalter und betätigte ihn. Jared betupfte seine Wange mit einem Wattebausch, aber er bemerkte es kaum. Das Knacken und Quietschen der Störsignale kam aus dem Lautsprecher des Funkgeräts und dann war plötzlich nur noch das leise Rauschen normaler Statik zu hören. Nach einem Moment hörte Loren Candaces Stimme.
»Celestine an Baracoa.«
»Ist alles in Ordnung, Candy? Ist bei euch alles in Ordnung?« Das war Chandler.
»Alles bestens bei uns. Es gibt einige Verletzte, aber nichts Schlimmes.«
»Dem Himmel sei Dank.«
»Wir sind alle gerettet, Chandler«, sagte Loren.
»Ja, das sind wir«, erwiderte er. »Wir alle. Was wir Ihnen verdanken, euch allen. Sie haben Ihre Sache gut gemacht. Richtig gut. Wundervoll. Bitte geben Sie das an die anderen weiter.«
»Mache ich.«
Loren sank auf die Bank unter Kellys Koje. Es gab ein Loch in seiner Wange und Jared war wieder in der Kombüse und bereitete einen Verband vor. Oben raschelte die Decke. Kellys Hand kam heran und fuhr ihm durchs Haar, glitt nach links und zog an seinem Ohrläppchen. Er fühlte, dass die Hand noch immer zitterte.