14
Mousse
Albert wartete draußen auf der Treppe vor dem Blair House. Homer nahm seinen Ellenbogen. »Gehen wir«, sagte er. »Wir haben getan, was wir konnten.«
Sie nahmen ein Taxi zum Reagan Airport. Für den Mittagsflug nach Fort Lauderdale waren zwei Plätze in der ersten Klasse für sie reserviert. Rupert Paule war ein irrer Fanatiker, aber er war auch ein tüchtiger irrer Fanatiker. Im Boardingbereich rief Homer Kelly an.
*
Kelly legte auf und betrachtete sich im Spiegel hinter dem Schreibtisch. Sie sah nicht wie eine Frau aus, die gerade Nachricht vom drohenden Weltuntergang erhalten hatte. Sie sah normal aus, oder fast normal. Der Stress der vergangenen Tage hatte gewisse Spuren hinterlassen und hinzu kam Homers Anruf, aber das Gesicht im Spiegel zeigte nichts Dramatisches, nur etwas Anspannung. Es war ein Gesicht, wie man es vielleicht bei einer schlechten Note für eine Semesterarbeit erwarten konnte. Glaubte sie nicht, dass geschehen würde, was sie befürchteten, dass ein Teil davon bereits geschehen war? Doch, sie glaubte es; sie konnte sich nicht gegen die Erkenntnis wehren, dass alles Realität wurde. Die nächsten Ereignisse schienen festzustehen, wie das Ende eines Films, den sie bereits gesehen hatte. Wenn sie nicht stärker darauf reagierte, so lag es daran, dass sich Fatalismus in ihr ausbreitete. Sie strich sich mit der einen Hand durchs Haar. Hinter ihr summte Claymore fröhlich vor sich hin, während er an seiner Skulptur arbeitete. Curtis spielte Räuber und Gendarm, wobei er in beide Rollen seines kleinen Dramas schlüpfte: »Bleib stehen, Freundchen« mit einer Stimme und »Waffe weg« mit einer anderen.
»Ich muss runter und die anderen aus der Konferenz holen, Curtis.«
»Ich glaube, da tust du ihnen einen Gefallen. Bestimmt freuen sie sich. Sie sahen nicht aus, als hätten sie da drin viel Spaß.«
Im Erdgeschoss angelangt blieb Kelly vor dem Flamingo-Raum stehen und suchte nach einer Entschuldigung. Was sie schließlich fand, war nicht perfekt, aber es sollte funktionieren, wenn die anderen richtig darauf reagierten. Sie betrat den Konferenzraum und ging direkt zu Chandler, der gerade die Pflichten und Verantwortlichkeiten zusammenfasste, die Studenten als Gegenleistung für ihre Freiheit akzeptieren mussten. Er unterbrach sich mitten im Satz, als Kelly neben ihm erschien.
»Es tut mir leid, dass ich einfach so hereinplatze und Sie bei Ihrer Arbeit störe, Senator.« Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Es ist nur … In den Nachrichten kam gerade eine außergewöhnliche Meldung.« Kelly wandte sich an Loren und Ed, die nebeneinander saßen. »Die NASA hat die Entdeckung eines Antisterns im Krebsnebel bekanntgegeben.« Sie hielt den Atem an und wartete auf eine Reaktion.
Edward war mit einem Satz auf den Beinen. »Meine Güte, das ist enorm! Ein Antistern! Im Krebsnebel. Eine außergewöhnliche Nachricht.«
Loren stand ebenfalls auf. »Wir haben immer gehofft, dass früher oder später einer entdeckt wird. Wir haben gesucht und gesucht …«
»Ihre Entdeckung ist so schwierig, weil sie kaum zu sehen sind«, warf Sonia ein. »Weil nur Antilicht von ihnen ausgeht.«
»Ja, Antilicht, und das ist fast unsichtbar«, sagte Loren und sammelte seine Unterlagen ein. »Wenn Sie uns bitte entschuldigen würden, Senator … Wir müssen eine Meldung für die Presse vorbereiten. Bestimmt kommt es in den Abendnachrichten und Homer möchte zweifellos etwas präsentieren, das Hand und Fuß hat.«
»Ja, die Journalisten sind schon da«, sagte Kelly. »Wolf Blitzer. Sie bitten um eine Stellungnahme.«
»Wolf Blitzer? Donnerwetter«, erwiderte Chandler beeindruckt.
»Ja. Und ein Team von der Washington Post.«
»Dann sollten Sie besser gehen. Wir werden uns alle Mühe geben, ohne Sie zurechtzukommen und die Diskussion über Freiheit und Verantwortung fortzusetzen. Ja, gehen Sie, nur zu. Wolf Blitzer sollten Sie besser nicht warten lassen.«
»Wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie auch Dekanin Sawyer entbehren könnten, Senator. Sie ist unverzichtbar für …« Kelly wusste nicht weiter.
»Für das Make-up«, sagte Dekanin Sawyer.
»Ja, natürlich. Gehen Sie nur, Maria. Begleiten Sie die anderen.«
Draußen im Flur kicherte Kelly plötzlich. Edward nahm ihren Arm und zog sie weg von der Tür, aus der Hörweite des Senators. »Lieber Himmel, Kelly. Ein Antistern? Was zum Teufel ist ein Antistern?«
»Keine Ahnung. Auf die Schnelle fiel mir nichts anderes ein. Ich hoffte, dass ihr es irgendwie plausibel klingen lasst.
»Und Antilicht, Sonia? Fast hätte ich laut gelacht.«
Sonia zuckte die Schultern. Alle grinsten. Doch sie wurden schnell wieder ernst, als sie begriffen, warum Kelly sie aus der Besprechung geholt hatte. Auf dem Weg zum Lift brachte Kelly sie auf den neuesten Stand.
Ein großer Teil der Vorbereitungen, die es zu treffen galt, bestand darin, Dinge zu kaufen. Loren klemmte sich ans Telefon und mietete zwei Transporter. Edward öffnete Homers Aktenkoffer und verteilte das Bargeld sowie die Einkaufs- und Aufgabenlisten.
*
Delta-Flug 117 wurde in Atlanta aufgehalten, weil sich ein Triebwerk der DC-9 nicht starten ließ. Albert und Homer warteten eine geschlagene Stunde, während die Mechaniker nach dem Defekt suchten. Schließlich gab der Flugcaptain bekannt, dass sie die Maschine wechseln mussten. Eine Delta-Mitarbeiterin nahm sie in Empfang, als sie das Flugzeug verließen. Sie teilte den Passagieren mit, dass noch keine Ersatzmaschine bereit stünde; sie versprach, ihnen sofort Bescheid zu geben, wenn sie den neuen Abflugtermin erfuhr. Es war kurz nach sechzehn Uhr.
Homer blickte zur Ankunftstafel und stellte fest, dass der Vierzehn-Uhr-Flug von Reagan National mit »verspätet« gekennzeichnet war. Wenn sie den Flughafen bereits geschlossen hatten, folgte Atlanta International vielleicht kurze Zeit später. Er bemerkte, dass um 16.30 Uhr ein Flug nach Tampa ging. In Tampa konnten sie einen Wagen mieten und am Abend Fort Lauderdale erreichen. Homer fing Albert ab, als er von der Toilette kam, und eilte mit ihm zum Gate. Als ihre Maschine kurze Zeit später über die Startbahn rollte, sah er aus dem Fenster und beobachtete, wie Air-Force-Piloten zu ihren Kampfjets vor den Hangars liefen.
*
Jared Williams hatte die meisten Punkte auf seiner Checkliste abgehakt, bevor nach achtzehn Uhr die ersten Gäste in der Eckerd Suite eintrafen. Das Hotel hatte einen Barkeeper und zwei Kellner für die Cocktailhäppchen geschickt. Williams beobachtete sie. Die Leute schienen tüchtig und freundlich zu sein. Er mixte einen Shaker mit Martinis für die Hopkins und überließ die Bar dann dem Mann vom Hotel.
Es war die Idee des Senators gewesen, eine Gesangsgruppe von Cornell mitzubringen, die »Halls of Ivy«, die bei der Rezeption für Unterhaltung sorgen sollte. Eine von Williams’ Sorgen bestand darin, dass die Gruppe den ganzen Tag an der Pool-Bar verbracht und einiges intus hatte. Er hatte sie schon bei anderen Gelegenheiten in einem ähnlichen Zustand singen gehört und wusste, dass ihre Auswahl unter solchen Umständen unberechenbar sein konnte. Hoffentlich kamen sie an diesem Abend nicht auf die Idee, Das Fräulein von Delhi oder eins ihrer anderen gewagten Lieder zu singen. Der Senator wäre bestimmt nicht amüsiert gewesen. Ah, da kamen Corliss Taft, Direktor der Akademie der Künste und Wissenschaften, und seine Frau Dr. Melinda Taft. Williams eilte zu ihnen und dirigierte sie in Richtung von Senator und Mrs. Hopkins, auf dass sie einen angemessenen Empfang bekamen.
Einen Moment später trat Stacey auf ihn zu. »Irgendein Zeichen von Homer?«, fragte sie. Williams wusste: Wenn Stacey in der Nähe war, brauchte er sich keine Sorgen mehr zu machen, denn ihre Besorgnis reichte für sie beide.
»Noch nicht.« Er zwinkerte ihr zu. »Er trifft bestimmt bald ein.«
»Natürlich. Dr. Layton ist sehr zuverlässig. Ich meine, man kann sich immer auf ihn verlassen, nicht wahr?«
»Selbstverständlich.« Erstaunlicherweise war noch niemand von Homers Gruppe da.
»Gut. Ich rufe ihn trotzdem in seiner Suite an und teile ihm mit, dass er und seine Assistenten jetzt ruhig kommen können. Manchmal fürchten die Leute, zu früh dran zu sein.«
»Das beruhigt sie sicher.«
»Mr. Claymore Layton wird beim Empfang nicht zugegen sein. Ich habe heute Nachmittag mit ihm gesprochen. Er wollte im Meer schwimmen. Aber er wird zum Essen kommen. Darauf freut er sich sehr, weil es Schokoladenmousse gibt.«
Williams lächelte. Typisch für Claymore Layton, den ganzen Mist zu überspringen und gleich zum Wesentlichen zu kommen, dachte er. Selbst wenn die Schokoladenmousse alles andere als perfekt war, so würde sie doch das Ende des Essens, der Tischreden und des ganzen Krams markieren. Anschließend konnten sie alle zu Bett gehen. Williams hoffte, am kommenden Morgen lange genug in Ruhe gelassen zu werden, um selbst ein bisschen im Meer zu baden.
Kurz nach sieben kam Dekanin Sawyer, wenig später gefolgt von den vier jungen Mitgliedern von Homers Gruppe. Kelly nahm Williams beiseite. »Kein Grund zur Sorge«, sagte sie. »Dr. Layton kommt ein wenig später. Er fährt von Tampa hierher und dürfte rechtzeitig genug da sein, um seine Rede zu halten. Sonia übernimmt die Präsentation, bevor Homer an die Reihe kommt. Sie wird dem Publikum von seiner Arbeit während der vergangenen Jahre erzählen. Dadurch gewinnen wir etwas Zeit für den Fall, dass Homer in einen Stau gerät oder dergleichen. Seien Sie unbesorgt.«
»Tampa?«
»Eine lange Geschichte. Aber es ist alles in Ordnung.«
»Ist es das?«
»Vielleicht nicht ganz, aber es nützt niemandem etwas, wenn sich die Leute Sorgen machen. Kann ich mich darauf verlassen, dass Sie den Senator beruhigen, Williams? Edward wird Mr. Taft den geänderten Ablauf erklären. Vielleicht wäre es besser, Tampa nicht zu erwähnen. Sollen die anderen glauben, dass Homer die zusätzliche Zeit nutzt, um an seiner Dankesrede zu arbeiten. Es ist nicht nötig, darauf hinzuweisen, dass diese Arbeit in einem Auto stattfindet.«
Um zwanzig Uhr nahmen alle ihre Plätze an den Esstischen ein. Corliss Taft ging zum Mikrofon. Der sportliche, gut sechzig Jahre alte Mann mit dem dichten grauen Haar richtete einige Grußworte an die Versammelten und stellte Sonia Duryea und Professor Laytons Assistenten vor. Er kündigte an, dass Dr. Duryea von Dr. Layton und seiner Arbeit erzählen würde. Applaus erklang und Sonia trat zum Rednerpult.
Sie blickte vom Podium herunter und versuchte, einen Eindruck vom Publikum zu gewinnen. Mehrere Hundert Personen waren anwesend, zum größten Teil Akademiemitglieder, unter ihnen Physiker, die sie von vergangenen Treffen der Teilchenphysik-Arbeitsgruppe kannte. Überraschend viele Ehegatten waren zugegen – Florida übte offenbar großen Reiz aus. Alle Tische waren voll besetzt, bis auf den der Redner. Dort sah sie die Tafts, Senator und Mrs. Hopkins, Stacey, Dekanin Sawyer und sechs leere Plätze. Loren und Edward, so wusste Sonia, standen hinten im Saal bei der Doppeltür und warteten auf Homer. Sie schaltete die kleine Lampe des Pults ein und legte ihre Unterlagen zurecht.
In den vergangenen Jahren hatte sie viele Vorträge bei Konferenzen gehalten und dabei nie auf Notizen zurückgreifen müssen. Wenn sie erst einmal entschieden hatte, worüber sie sprechen wollte und was es hervorzuheben galt, stand alles in ihrem Gedächtnis geschrieben. Allerdings hatte ihr Vater sie einmal darauf hingewiesen, dass sie dazu neigte, bei ihren Vorlesungen schrecklich ernst zu werden. Von ihm stammte der Rat, lockerer zu sein und zu lächeln, über welches Thema sie auch sprach. Auf den Unterlagen, die nun im Licht der Pultlampe vor ihr lagen, stand nur ein Wort. Es lautete: LÄCHELN. Daneben hatte Sonia ein lächelndes rundes Gesicht gemalt.
Sonia lächelte, sah zu ihrem Publikum und begann: »Die Geschichte der Entdeckung von leuchtender und dunkler Materie, der beiden Grundbausteine des Universums, ist sehr aufregend. Bis Anfang der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts wusste niemand von der Existenz der Dunklen Materie. Unser Sonnensystem, die ganze Galaxis und alle anderen Galaxien bestehen aus leuchtender Materie, aber heute wissen wir, dass auch eine ganz andere Art von Materie existiert, die wir ›dunkel‹ nennen. Inzwischen gibt es keinen Zweifel mehr daran, dass der weitaus größte Teil der Materie im Universum dunkel ist. Das Größenverhältnis von dunkler und leuchtender Materie lässt sich mit dem von Erde und Raureif vergleichen.« Sonia legte eine kurze Pause ein, damit ihre Zuhörer über diesen Vergleich nachdenken konnten. »Die uns vertraute leuchtende Materie bildet nur einen kleinen Teil der Gesamtmaterie des Universums. Es gibt weitaus mehr Dunkle Materie, von der wir bis vor einigen Jahren noch gar nichts wussten, und nur ein Mann ahnte ihre Existenz …«
Hinten im Saal wurde Loren unruhig und begriff gleichzeitig, wie hirnverbrannt seine Nervosität war. Ein Atomkrieg drohte, aber er machte sich Sorgen über ein Publikum, das enttäuscht sein würde, wenn der Ehrengast nicht rechtzeitig eintraf. All diese Leute liefen Gefahr, noch an diesem Abend oder in der Nacht in einem fünfzehntausend Grad heißen Feuerball zu sterben. Welche Rolle spielte es da, ob sie enttäuscht waren oder nicht? Er öffnete die Tür, blickte in den Flur und hielt nach Homer Ausschau, sah aber nur Claymore, der neben zwei großen Farnen in einem Sessel saß und ins Leere starrte. Er hatte sich festlich gekleidet, trug einen Smoking. Loren schloss die Tür wieder und versuchte, sich auf Sonias Vortrag zu konzentrieren.
Wie üblich gelang es ihr, die Zuhörer zu fesseln. Sie hatte die Gabe, selbst komplizierte Zusammenhänge so zu erklären, dass alle sie verstanden. Und bei ihr klang alles interessant. Die versammelten Honoratioren erfuhren an diesem Abend von der Dunklen Materie und ihrer Entdeckung durch Homer. Sie würden imstande sein, es später ihren Kindern und Freunden zu erklären, weil ihnen Sonias Worte im Gedächtnis blieben. Wenn sie zum Nachthimmel aufsahen, würden sie staunen und wissen, dass das, was sie sahen, allein die leuchtende Materie war, und dass sie von viel mehr dunkler Materie umgeben waren, die ihren Blicken verborgen blieb, obwohl sie sich überall befand und die Galaxien zusammenhielt, auch die Milchstraße. Sie würden Homer bewundern und sich fragen, wie er in der Lage gewesen war, ein solches Phänomen, das man gar nicht sehen konnte, zu entdecken.
Gegen halb zehn deuteten gewisse Anzeichen darauf hin, dass Sonia allmählich der Redestoff ausging. Loren wandte sich an den Oberkellner und gab ihm zu verstehen, dass das Essen aufgetragen werden sollte. Er schickte dem Redner eine entsprechende Nachricht und wies darauf hin, dass das Essen vor und nicht wie ursprünglich geplant nach Homers Dankesrede serviert wurde. Senator Hopkins und Mr. Taft steckten die Köpfe zusammen und berieten sich besorgt. Schließlich gab Mr. Taft die Mitteilung an Sonia weiter, die daraufhin ihren Vortrag beendete und vom Podium heruntertrat. Die Kellner begannen damit, die ersten Speisen zu bringen. Loren war auf halbem Wege zu seinem Platz, als ihm Claymore einfiel. Rasch kehrte er zur Tür zurück, und als er sie erreichte, kamen Claymore und Edward herein. Loren begleitete sie zu ihren Plätzen ganz vorn.
Was dann geschah, war so offensichtlich, dass sie im Rückblick eigentlich damit hätten rechnen müssen. Das Publikum sah den kleinen grauhaarigen Mann, der einen Smoking trug und zum ersten Tisch geführt wurde. Claymore ähnelte seinem Bruder kaum, aber die meisten Anwesenden kannten weder den einen noch den anderen. Die Ähnlichkeit mit dem Foto auf dem Umschlag von Homers Buch genügte ihnen. Außerdem, wer sonst trug beim Dinner einen Smoking? Die Leute standen auf und applaudierten. Corliss Taft, der Homer nie gesehen hatte, eilte aufs Podium. Er klatschte laut, mehr aus Erleichterung, und trat vors Mikrofon. »Meine Damen und Herren, hier ist ein Mann, den ich Ihnen nicht vorstellen muss!«
Chandler winkte und versuchte, Tafts Aufmerksamkeit einzufangen, und als ihm das nicht gelang, ging er ihm entgegen. Taft stand am Rand des Podiums, schüttelte Claymore die Hand und führte ihn die Treppe hoch. Loren wollte ihn zurückhalten und legte ihm die Hand auf den Arm, aber Taft schüttelte sie ab. Der Applaus war ohrenbetäubend laut. Taft brachte Claymore aufs Podium, drückte ihm eine verzierte Tafel in die Hand, die vermutlich der Preis war, wich zurück und klatschte erneut. Clay wusste nicht, warum ihm alle applaudierten, aber es schien ihm zu gefallen. Ein kindliches Lächeln erhellte seine Miene. Er trat vor das Publikum und verbeugte sich tief, woraufhin der Applaus noch lauter wurde.
Als er nachließ, erklomm Chandler, mit gerötetem Gesicht und ein wenig unsicher auf den Beinen, die Treppe zum Podium, um den angerichteten Schaden zu beheben. Genau in diesem Augenblick kamen die »Halls of Ivy« durch einen Nebeneingang herein. Der am zweiten Tisch sitzende Williams kreuzte die Finger. Bitte nicht Das Fräulein von Delhi, dachte er. Die Sorge hätte er sich sparen können. Die Sänger waren viel zu blau, um an Änderungen des Programms zu denken. Sie sangen »Cornell Victorious«, wie er es ihnen aufgetragen hatte, und wie es dem Wunsch des Senators entsprach. Wenn sie bei dem Lied ein wenig schwankten, so sah es für das Publikum nach musikalischem Überschwang aus. Chandler verließ das Podium, setzte sich neben Candace und schlug die Hände vors Gesicht.
Das Lied führte zu noch mehr Applaus. Die Sänger gingen wieder und Claymore blieb allein auf dem Podium zurück, mit dem Preis in seinen Händen. Er lächelte noch immer sein glückseliges Lächeln. Claymore hatte immer etwas schrecklich Liebenswertes gehabt und das spürten die Leute im Saal jetzt. Sie brachten dem älteren Mann mit dem unschuldigen Lächeln nicht nur Respekt und Bewunderung entgegen, sondern auch jede Menge Zuneigung. Claymore machte eine weitere tiefe Verbeugung.
Als der Applaus verklang, trat Clay zum Mikrofon. Versuchsweise klopfte er darauf. Sein Lächeln verschwand nicht, wirkte aber verwirrt.
»Was soll ich sagen?«, fragte er und sah zum ersten Tisch hinab. »Was soll ich all diesen Leuten sagen, Loren?«
Loren zuckte die Schultern. »Was du willst, Clay. Es liegt ganz bei dir.«
»Nun …« Claymore überlegte kurz. »Dann möchte ich über Schokoladenmousse reden.«
Das entzückte Publikum applaudierte erneut, davon überzeugt, dass der kluge Mann auf dem Podium nichts falsch machen konnte.
Als wieder Ruhe einkehrte, wurde Claymore ernst. »Die mousse au chocolat geht auf das siebzehnte Jahrhundert zurück. Im Jahre 1664 traf ein dänischer Koch am Hof von Versailles ein und begann damit, für den Sonnenkönig zu kochen, für Ludwig XIV. Die große Sensation seiner Küche war eine Art Sorbet, ›granite‹ genannt. Doch das Problem war: Wie sollte man in den warmen Sommermonaten, wenn es kein Eis gab, Sorbet machen? Der Koch wies Ludwig auf das Problem hin, und der Sonnenkönig antwortete, er solle das Problem besser lösen, wenn ihm nichts daran läge, den Sommer in der Bastille zu verbringen.« Gelächter klang durch den Saal. »Also begann der Koch mit geschlagenem Eiweiß und Schokolade zu experimentieren …«
Loren sah sich um. Das Publikum schien von Claymores Erzählungen hingerissen zu sein. Offenbar zweifelte niemand daran, dass früher oder später klar wurde, was Schokoladenmousse mit der Physik des einundzwanzigsten Jahrhunderts, der Akademie und dem Preis zu tun hatte. Nur am ersten Tisch ließen sich Anzeichen von Sorge erkennen. Loren ertrug es nicht länger, verließ seinen Platz und kehrte zur Tür zurück, um auf Homer zu warten. Von dort aus beobachtete er das Publikum, das Claymore auch weiterhin mit gespannter Aufmerksamkeit zuhörte. Direkt vor ihm beugte sich ein Mann zu seiner Frau und flüsterte laut: »Falls es dir entgangen sein sollte, das Eiweiß ist die leuchtende Materie und die Schokolade die dunkle.« Sie antwortete mit einem verärgerten »Pscht!« und fügte hinzu: »Natürlich ist es mir nicht entgangen. Ich bin nicht dumm.« Überall im Saal nickten Zuhörer, die Zusammenhänge zu erkennen glaubten.
Schließlich ertönte donnernder Applaus und Claymore lud sein Publikum ein, Fragen zu stellen. Vorn stand ein Mann auf und fragte: »Ich bin ein wenig verwirrt, was die relativen Anteile von Schokolade und Eiweiß betrifft. Ist das Verhältnis ähnlich beschaffen wie zwischen Erde und Raureif?«
»Ist das Ihre Frage?«
»Ja.«
»Die Antwort lautet: nein.«
»Das verwirrt mich etwas.«
Claymore überlegte kurz. »Ihre Verwirrung ist durchaus verständlich.« Was so viel bedeutete wie: Claymore hielt den Mann für dumm.
»Hat es Sie jemals verwirrt?«
»Nie.«
Die Zuhörer klatschten erneut. Gewöhnliche Menschen mochten verwirrt sein, aber nicht so ihr Ehrengast.
Ein weiterer Fragesteller stand auf. »Gibt es eine Verbindung zwischen der Mousse und dem Phänomen der Pekuliarbewegung?«
»Bewegung?«
»Ja, die besondere Bewegung. Weshalb man sie ›Pekuliarbewegung‹ nennt.«
Claymore runzelte die Stirn. »Von der Bindung, meinen Sie?«
»Ich denke schon. Was bedeutet das für die Mousse?«
»Na ja, ich schätze, sie wird zu steif. Man könnte sie lockerer machen oder zum Beispiel Pflaumen hinzufügen. Vorausgesetzt, Sie mögen Pflaumen.«
Der Fragesteller starrte Claymore verständnislos an. Unruhe breitete sich unter dem Publikum aus, als sich Leute umdrehten. Loren kam durch den Mittelgang, gefolgt von Homer und Albert.
Homer ging direkt zur Treppe und trat aufs Podium. Die Versammelten starrten den alten Mann an, der einen zerknitterten Anzug trug und dem ein Schuh fehlte. Die linke Socke war zerrissen, und Blut zeigte sich am Fuß.
»Hallo, Homer.«
»’n Abend, Clay. Bist du fertig?«
»Vielleicht sollte ich noch eine Zusammenfassung hinzufügen.«
»In Ordnung.«
»Es ist eine komplizierte Zusammenfassung. Sie besteht aus drei Teilen.«
»Gut.«
Clay wandte sich wieder ans Publikum. »Schokoladenmousse ist einfach zu machen. Sie ist köstlich, macht aber dick. Ich danke Ihnen.«
Er verließ das Podium. Das Publikum verabschiedete ihn mit einem neuerlichen Applaus, der diesmal aber nervös klang.
Homer näherte sich dem Mikrofon. »Meine Damen und Herren … Ich bin Homer Layton. Ich danke Ihnen für die Ehre. Soweit ich weiß, wird die Bar nach dem Essen geöffnet. Guten Abend.«
Homer trat vom Podium herunter, ging zum ersten Tisch und nahm dort seinen Platz ein. Er war halb verhungert, stopfte sich eine Serviette in den Kragen und machte sich über das Essen her. Im Saal herrschte Stille. Kellner begannen damit, Geschirr abzuräumen und die Schokoladenmousse zu servieren.