37
Die
Lady
»Wenn Paule ein Luftschiff bauen kann, so kann er Hunderte bauen.« Loren unterstrich die Worte mit einer Geste, die auf eine große Flotte hinwies. Sie befanden sich in der Bibliothek im obersten Stock von Monterreal. Es war ein kleines Treffen nach dem Abendessen: vier Personen, unter ihnen auch Edward und Maria del Sol. »Es hängt nur von der Arbeitskraft ab. Das notwendige Material hat Paule. Mit Luftschiffen würde er nicht mehr daran denken, Waffen per Schiff über den Tennessee River zu transportieren. Stellt euch vor, was eine solche Fahrt mit dem Schiff nach New Orleans bedeutet. Dutzende von Schleusen müssen durchfahren werden und es wäre ein Umweg nach Norden nötig, bis zum Ohio River. Was mit einem Kahn Monate dauern würde, könnte mit einem Pavillon an einem Tag erledigt werden.«
Loren und Edward hatten bei ihrer Rückkehr vom morgendlichen Besuch bei Claymore darüber gesprochen und präsentierten ihre Logik jetzt Kelly und Maria del Sol. Loren sah Edward an, der sofort seinen Teil beisteuerte. »Wenn Paule Pavillons hätte, würde er seine Ressourcen nicht mit dem Bau von Dampfschiffen vergeuden. Ein Dampfschiff wird zu einem Relikt, sobald man fliegen kann. Paule würde den Bau sofort einstellen, sobald ihm der Prototyp eines Fliegers zur Verfügung stünde. Aber wir wissen, dass er nicht damit aufgehört hat. Loren hat Kundschafter nach New Orleans und Annapolis geschickt und sie haben gemeldet, dass weiterhin Dampfschiffe gebaut und getestet werden, was viel Geld kostet und sehr aufwändig ist.«
Kelly musste unbedingt verstehen. Das war nicht nur wichtig, sondern sogar von wesentlicher Bedeutung. Loren vermied es, sie direkt anzusehen. Sie hasste es, manipuliert zu werden.
»Außerdem hatte der schwarze Pavillon keine Fahnen. Zumindest hat niemand welche gesehen.« Edward wandte sich an Loren, der bestätigend nickte, fuhr dann fort: »Er ließ sich keiner Nation zuordnen. Das sähe Paule ganz und gar nicht ähnlich. Er hätte bestimmt die amerikanische Flagge gesetzt.«
Loren nickte erneut. Es passte alles zusammen. Es gab nur eine Erklärung. Er hoffte, dass Kelly die entscheidenden Worte sprach, aber sie schwieg. Also sprach er sie selbst. »Es muss Sonia gewesen sein«, sagte er.
Kelly blieb skeptisch. »Sie hätte die Effektor-Technik nicht stehlen müssen, so viel ist klar. Ich schätze, es wäre nicht weiter schwer für sie gewesen, denn Hinweise gab es genug. Aber trotzdem …«
»Ich zweifle nicht einen Moment daran, dass wir Sonias Pavillon gesehen haben«, betonte Edward noch einmal. »Doch die Frage lautet: Was hat sie vor? Sie hat uns schon einmal in große Gefahr gebracht, als sie das SHIELA-Programm veränderte und offenbar bereit war, die Laserwaffe gegen uns zu richten. Warum? Was steckt dahinter?«
»Warum hasst sie uns?«, fragte Maria del Sol. Sie runzelte kummervoll die Stirn und ihr Akzent wurde noch deutlicher als sonst. »Was haben wir ihr angetan? Ich verstehe das nicht.«
Kelly schüttelte den Kopf. »Niemand von uns versteht es.«
»Vielleicht hasst sie uns nicht alle«, sagte Loren. »Vielleicht hasst sie nur mich.« Verlegen wandte er den Blick von Edward und seiner Schwester ab. Vermutlich wussten sie Bescheid. »Wir waren ein Paar«, fügte er schließlich hinzu und sah kurz zu Kelly.
Sie schenkte ihm ein sanftes Lächeln. »Ja, das stimmt.« Und zu den anderen: »Mit Sonia stimmte etwas nicht, als sie uns verließ. Sie sprach mit niemandem und daher wissen wir nicht, was mit ihr los war. Wir vermuten, dass es etwas mit ihrer Beziehung zu Loren zu tun hatte.«
Das war Teil von dem, was Loren und Edward am Morgen von Claymore gehört hatten. Edward fasste es kurz zusammen: »Einige Tage vor ihrem Verschwinden ging Sonia zu Clay, um mit ihm über das zu reden, was sie so sehr belastete. Während des Rückflugs wies Clay Loren darauf hin. Deshalb sind wir heute Morgen bei ihm gewesen, um mehr zu erfahren.«
»Sonia erzählte ihm von einer Schwärze in ihrem Innern«, sagte Loren. »Er glaubte, dass sie so etwas wie schwarze Tinte meinte, etwas in der Art, dass sie deshalb litt, wie bei einer Krankheit, dass die Tinte ihr Schmerzen bereitete. Er meinte, Schmerz strömte aus ihr, deutlich sichtbarer Schmerz. Aber der Strom versiegte nicht, so viel Schmerz auch aus ihr herauskam.« Solche Worte hatte Claymore benutzt. Für Loren klangen sie ziemlich verwirrend, aber vielleicht konnten die anderen mehr Sinn darin erkennen. Doch das schien nicht der Fall zu sein, denn sie schwiegen.
»Vor einigen Jahrhunderten wäre es uns leicht gefallen, so etwas zu verstehen«, sagte Kelly schließlich. »Wir hätten gedacht, dass sie litt, weil sie Gottes Gnade verlassen hatte. Wir hätten geglaubt, dass eine Sünde sie verflucht und von Gott entfernt hätte. Aber dies ist das einundzwanzigste Jahrhundert. In diesem Jahrhundert klingt so etwas verrückt. Dennoch glaube ich, dass es sich auf diese Weise beschreiben lässt.«
Edward schüttelte den Kopf. »Wir alle haben dann und wann mit Schuld zu kämpfen. Wir bringen sie nicht unbedingt mit ›Sünde‹ in Verbindung, zumindest nicht im religiösen Sinne, aber wir kennen die Bedeutung von Moral. Wir prüfen unser Verhalten und seine Auswirkungen auf andere. Manchmal machen wir Fehler, die uns belasten. Doch wir laufen nicht weg und erklären den Leuten den Krieg, gegen die oder bei denen wir uns versündigt haben. Wir versuchen, den Fehler wiedergutzumachen, den angerichteten Schaden zu beheben. Was Sonia macht, ergibt keinen Sinn.«
Stille folgte und nach einer Weile zuckte Kelly die Schultern. »Vielleicht ist es gar nicht Sonia. Vielleicht steckte jemand anderer hinter dem Versuch, SHIELA gegen uns einzusetzen. Vielleicht ist es einem von Paules Leuten gelungen, sich mit Sonias ID in das System zu hacken. Vielleicht stammte der schwarze Pavillon doch von Rupert Paule. Es könnte der erste Prototyp bei einem Testflug gewesen sein.«
»Es war Sonia«, beharrte Loren. »Ich weiß, dass sie es war. Die Schwärze in ihr … Es ist Hass auf uns, Hass auf etwas, das wir verkörpern. Auf etwas, für das ich ein Symbol bin und ganz Victoria mit mir. Sonia hasst es so sehr, dass sie in den Krieg ziehen will, um es zu zerstören. Da bin ich ganz sicher. Es gibt nur eine Möglichkeit, den Grund für ihren Hass herauszufinden und die Gefahr zu bannen.«
»Welche Möglichkeit?«, fragte Kelly, obwohl sie die Antwort bereits kannte.
»Wir müssen sie fragen.«
»Das kann doch nicht dein Ernst sein, Loren. Vielleicht ist sie vollkommen verrückt.«
»Ich glaube nicht. Ich glaube, ich muss zu ihr und sie direkt fragen, wie man das Unrecht wiedergutmachen kann. Und dann machen wir es wieder gut, wenn wir können. Denn Sonia kann ein sehr gefährlicher Feind sein, wenn wir ihr Gelegenheit dazu geben. Wir sollten versuchen, ihre Freundschaft zurückzugewinnen.«
Als sie an jenem Abend zu Bett gingen, versuchte Kelly noch einmal, Loren von seinem Vorhaben abzubringen. »Ich möchte nicht, dass du dich auf den Weg machst, Loren. Ich habe Angst vor Sonia.«
»Denk daran, dass sie deine Freundin war, Kelly. Sie hat dich gern gehabt und du sie.«
»Ja. Aber es war eine andere Sonia. Diese Sonia jagt mir Angst ein. Unsere alte Sonia war vernünftig, oder schien zumindest vernünftig gewesen zu sein, und diese neue ist es nicht. Unvernunft kennt keine Grenzen. Wenn jemand damit beginnt, Dinge zu tun, die nicht mehr der Kontrolle des gesunden Menschenverstands unterliegen … Dann wird alles möglich. Hinter den Grenzen der Vernunft erstreckt sich die Welt des Wahnsinns und sie ist grenzenlos. Das Böse wartet dort.« Kelly sah ihn, die Sorge in ihrem Gesicht unübersehbar. »Ist das Böse nicht die Abwesenheit von Vernunft? Liegt das Problem des Bösen nicht genau dort?«
*
Für die Reise nach Norden wählte Loren einen kleinen Pavillon, die Canandaigua mit einer aus vier Personen bestehenden Besatzung. Das Kommando führte Danny McCree. Hinzu kamen ein Lieutenant, ein »Airman«, wie die gewöhnlichen Besatzungsmitglieder genannt wurden, und ein Steward. Sie nahmen den gleichen Weg wie zuvor die Ardent, über das Tiefland im Osten von Georgia und dann nach Nordosten, an den Adirondack Mountains entlang, bis dorthin, wo sie den schwarzen Pavillon aus den Augen verloren hatten.
Die Canandaigua war mit einer Elektronik ausgestattet, die normalerweise nur Kampfpavillons zur Verfügung stand. Insbesondere hatte sie ein Langstreckenradar und einen Radarsensor, der Alarm gab, wenn sie selbst geortet wurde. Sie flogen in einer Höhe von fast zwei Kilometern und waren somit vom Boden aus kaum zu erkennen.
Über den Great Smoky Mountains meldete der am Radarschirm sitzende Airman: »Östlich von uns bewegt sich etwas.«
Loren blickte auf den Monitor, der nicht nur den Radarimpuls zeigte, sondern auch eine farbige Karte der Region. Weiße Punkte schwebten im Süden von Asheville. Er beobachtete, wie sie in verschiedene Richtungen glitten.
»Es sind sieben«, sagte der Mann am Radar. »Und dort kommt ein achter aus Nordosten.«
Der an der zweiten Konsole sitzende Danny McCree hatte eine detaillierte Karte von dem Gebiet unter ihnen auf den Schirm gerufen. Derzeit befanden sie sich über dem Pisgah National Forest. McCree deutete auf einen langen schmalen See im Wald. »Das wäre eine geeignete Stelle, Loren. Im Norden gibt es höheres Gelände, wo wir Sie absetzen können. Und wir haben freie Bahn zum See, um genug Geschwindigkeit für den Aufstieg zu bekommen. Mit ein wenig Glück sieht uns niemand kommen und gehen.«
Loren nickte. Er konnte von jeder beliebigen Stelle aus losgehen; wichtig war in erster Linie die Sicherheit des Pavillons. Als die Canandaigua tiefer ging, nahm er seinen abgenutzten Rucksack, der nicht nur ein Licht-Funkgerät und einen Signalgeber enthielt, der Danny für die Abholung zurückrufen sollte, sondern auch Proviant und zusätzliche Kleidung. Nichts im Rucksack würde seine Herkunft verraten, abgesehen von den beiden Geräten, und die wollte er anderthalb Kilometer von der Landestelle entfernt verstecken.
Zwanzig Minuten später stand er allein am Hang eines Hügels und beobachtete, wie der Pavillon zum See flog und schneller wurde, bis er im Süden verschwand. Loren rückte seinen Rucksack zurecht und marschierte los. Noch an Bord hatte er sich den Weg gut eingeprägt, da er keine topografische Karte bei sich führte. Es sollte eigentlich keine Probleme geben: nach Südosten, dem Verlauf der Feuerschneise bis nach Dellwood folgen, von dort über die Staatsstraße, fort von den Bergen, nach Canton, Enka und schließlich Asheville. Loren schätzte, dass er dafür zwei Tage brauchte. Anschließend entschied die jeweilige Situation über sein weiteres Vorgehen.
Bei seinen früheren Gelegenheiten, das Leben auf dem amerikanischen Kontinent zu beobachten, waren ihm kaum Unterschiede zur alten Zeit aufgefallen. Natürlich fehlten Autos und andere von Verbrennungsmotoren angetriebene Fahrzeuge, aber die Städte, die er gesehen hatte, wirkten erstaunlich normal. Die dort wohnenden Menschen schienen ein friedliches und auch einigermaßen komfortables Leben zu führen. Doch die Berichte der ausgeschickten Späher und Kundschafter malten ein anderes Bild. Darin hieß es, dass sich auf dem Land feudale Strukturen ausbreiteten, als gäbe es keine zentrale staatliche Identität mehr, nur noch kleine Dorf-Nationen, jede von ihnen isoliert und einzigartig. In der Nähe von Canton, wo Loren in einem Gehöft für die Nacht Halt machte, hörte er etwas davon.
Das Paar in dem Farmhaus bereitete ihm einen freundlichen Empfang. Es hatte gerade Rosenkohl aufgetischt und strich Butter auf Maiskolben, als Loren erschien und um einen Schlafplatz in der Scheune bat. Das Paar bot ihm eine Mahlzeit und sogar trübes Bier aus einem Krug an. »Langen Sie zu, junger Mann. Wer weiß, wann Sie wieder Gelegenheit bekommen, ordentlich zu essen. Bei den Cavanaughs ist der Tisch immer gut gedeckt.«
»Danke, Sir. Sie sind sehr freundlich.« Loren hatte Hunger. Das Farmer-Ehepaar wartete darauf, dass er mit dem Essen begann, und so griff er zu.
»Uns wurde viel gegeben«, sagte der Mann. »Wir hatten so viel Glück, dass es unsere Pflicht ist, anderen zu helfen. Ihr Wanderer seid alle Gottes Kinder. Meine Frau und ich wollen unseren Teil leisten und etwas von der Fülle weitergeben, die uns zuteil wurde.«
Loren kaute Mais und schluckte. »Sie sind sehr freundlich.«
»Dies ist selbstgemachtes Brot.« Der Mann lachte. »Na ja, heutzutage gibt es nur noch selbstgemachtes Brot, schätze ich. Aber dies ist gutes selbstgemachtes Brot.«
»Schmeckt ausgezeichnet.«
Der Mann richtete einen fragenden Blick auf ihn. »Ich nehme an, Sie sind Mexikaner.«
»Nahe dran«, sagte Loren. »Ein weiterer Wetback**, der nach Norden geht und Arbeit sucht.«
»An Arbeit mangelte es hier gewiss nicht.«
»Könnte ich etwas für Sie tun? Um mich für all dies erkenntlich zu zeigen?«
»Nun, Sie könnten morgen beim Obst-und-Gemüse-Wagen helfen, falls Sie zum Markt von Asheville wollen. Und wenn nicht … Keine Sorge, dann geben Sie die Freundlichkeit, die Sie von uns empfangen haben, an jemand anderen weiter. So gleicht sich letztendlich alles aus.«
»Ich bin nach Asheville unterwegs und helfe Ihnen gern bei Ihrem Wagen. Außerdem freue ich mich über die Gesellschaft.«
»Dann ist es ein Glück für beide Seiten, dass Sie gekommen sind.«
»Ich kann zweifellos von Glück sagen.« Loren nahm noch ein Stück warmes Brot. »Wie ist das Leben hier? Seit der großen Veränderung, meine ich.«
»Besser als in Durham, so viel steht fest«, sagte die Frau. Sie spuckte die Worte fast.
Mr. Cavanaugh klopfte ihr auf die Hand. »Meine Frau hat Verwandte in Durham«, erklärte er Loren. »Letzten Sommer kamen einige von ihnen zu uns und erzählten von neuen Machthabern, die Steuern erheben. Hohe Steuern. Das passiert manchmal. Irgendwo beginnt ein Sheriff, ein Bürgermeister oder ein Polizeichef, sich wichtig zu machen. Nimmt eine Gruppe von Rowdys in seine Dienste. Und dann dauert es nicht lange, bis Steuern erhoben werden, die manchmal so hoch sind, dass sie einem das Rückgrat brechen. Sie versuchen, sie so anzusetzen, dass man nicht verhungert und die Steuern auch weiter bezahlen kann. Aber in Durham sind sie richtig hoch. Die Verwandten meiner Frau gerieten in Konflikt mit dem Boss und er verjagte sie.«
»Hier ging es ähnlich zu«, sagte Mrs. Cavanaugh und nickte. »Hier in Canton hatten wir unser eigenes kleines Problem in Gestalt des ehemaligen Bürgermeisters. Ließ sich von woanders was einflüstern und erfand eine Steuer, wie die Stadtbosse. Doch dann kamen die Schwarzjacken und führten ein kleines Gespräch mit ihm, woraufhin er sich aus dem Staub machte. Trug seinen Unfug woandershin.«
»Schwarzhemden?«
»Sind von Asheville. Jansenisten. Wir sind nicht ganz mit ihren Lehren einverstanden, meine Frau und ich. Aber an ihren guten Taten besteht kein Zweifel.«
»Und sie haben fliegende Maschinen!«, sagte die Frau. »Segelnde Luftschiffe, die schnell dahingleiten, fast so schnell wie Düsenflugzeuge. Manche Leute bezeichnen die Luftschiffe als Magie.«
»Es gibt viel Magie auf der Welt«, sagte der Mann zu seiner Frau. Er sprach in einem geduldigen Ton. »Und fast alles ist gute Magie. Aber wenn wir es besser verstehen, stellt sich heraus, dass es eigentlich gar keine Magie ist. Nur gut angewandter Verstand oder Gottes Gnade. In diesem Fall wissen wir noch nicht genau, welche der beiden Erklärungen zutrifft.«
»Manche Leute sprechen von schwarzer Magie, das weißt du. Wenn sich die Luftschiffe bewegen, sind sie wie Flugzeuge, aber wenn sie anhalten, schweben sie angeblich mitten in der Luft, ohne herunterzufallen. Das ist nicht normal.«
»Wer weiß schon, was normal ist? Ich nicht. Ich habe viele seltsame Dinge gesehen und als wir uns an sie gewöhnt hatten, war alles in Ordnung. Ich glaube nicht, dass die Luftschiffe etwas mit schwarzer Magie zu tun haben, wahrscheinlich nur mit Wissenschaft. Ich glaube, hier bei uns gibt es keine schwarze Magie, vielleicht nirgendwo.«
»Sei dir da nicht so sicher. Bei ihr würde es mich nicht überraschen.«
Der Mann lachte. »Bitte verzeihen Sie meiner Frau, junger Mann. Sie hält nicht viel vom Oberhaupt der Schwarzjacken.« Er wandte sich wieder an Mrs. Cavanaugh. »Sie hat ihre eigenen Ansichten, ihre eigene Art und Weise, so wie wir. Ich gebe zu, dass ihre Art ungewöhnlich zu sein scheint, aber sie hat viel Gutes getan, die Lady, das muss man ihr lassen.«
Dem Gesichtsausdruck seiner Frau war zu entnehmen, dass sie diese Ansicht nicht teilte. Mr. Cavanaugh fuhr fort: »Ich kenne niemanden, der nicht von ihren Taten profitiert hätte. Na ja, der ehemalige Bürgermeister von Canton hatte vielleicht nicht viel davon, aber dafür hatte er umso mehr, bevor die Lady einschritt. Denk nur an all die Armen, denen sie geholfen hat. Denk an den armen Ehemann meiner Cousine, der sich das Bein brach: Die Lady hat ein ganzes Luftschiff voller Schwarzjacken geschickt, die für ihn die Ernte einholten. Und nicht nur das. Sie brachten sie sogar mit einer ihrer Flugmaschinen zum Markt in Asheville und gaben ihm anschließend das Geld. Sie sind gute Nachbarn, ja, das sind sie, und das respektiere ich.«
»Für mich ist dies alles neu«, sagte Loren und hoffte, noch mehr zu erfahren.
»Auf die eine oder andere Weise haben die guten Taten der Lady uns alle erreicht. Unsere beiden Söhne sind Anhänger von ihr. Das ist vielleicht der Grund, warum meine Frau wenig von ihr hält. Unsere Söhne sind fortgegangen, um ihr zu folgen und zu dienen. Aber sie sollen in ihrem Auftrag immer nur Gutes tun, das ist das Wichtigste.«
»Aber was sie sagt …«, warf Mrs. Cavanaugh ein. »Es ist unheimlich, was sie sagt.«
»Sie spricht im Radio«, erklärte Mr. Cavanaugh. »Jeden Samstagabend. Das meint meine Frau. Und dabei spricht sie von Dingen, die manchmal recht überraschend sein können.«
»Sie sagt, dass es etwas schrecklich Böses in der Welt gibt. ›Unheiligkeit‹ nennt sie es. Es gibt zwei unheilige Nationen, die eine östlich von hier, und die andere im Süden, vielleicht in Südamerika. Und sie sind schrecklich böse. Das sagt die Lady.«
»Es hat auch Böses in anderen Zeiten gegeben.« Der Mann wandte sich wieder seiner Frau zu. »Dein Vater ist nicht in den Krieg in Europa gezogen, um gegen Gute zu kämpfen, die für kurze Zeit auf Abwege geraten sind, das weißt du. Er zog los, um gegen das Böse zu kämpfen. Und vielleicht gibt es mehr davon, wie die Lady behauptet.«
Mrs. Cavanaugh hörte gar nicht richtig zu und wartete darauf, dass sie selbst wieder sprechen konnte. Sie hatte dem Gast noch mehr zu sagen. »Sie sagt, dass unsere Autos und Maschinen nicht ihre Kraft hätten verlieren sollen, dass es kein göttlicher Wille war. Es war vielmehr der Wille der bösen Nationen. Und wenn sie davon spricht, klingt ihre Stimme anders. Dann klingt sie so, als wäre sie verrückt. Das glaube ich wenigstens. Und sie hat auch noch andere seltsame Ansichten. Lässt sich immer wieder über die Sünden des Fleisches aus. Die sieht sie praktisch überall, die Sünden des Fleisches.« Mrs. Cavanaugh blickte auf ihren Teller. »Ihrer Meinung nach ist alles zwischen Mann und Frau Sünde. Das sehen wir nicht so. Zumindest nicht ganz.«
»Im Radio klingt sie manchmal extrem.« Mr. Cavanaugh wandte sich wieder an Loren. »Aber ich bin in Asheville gewesen, im Herrschaftshaus, in dem sie wohnt, und habe sie dort direkt sprechen gehört. Die Leute gehen am Samstag zu ihr und hören ihr zu, wenn sie auf dem Rasen spricht. Ich bin ebenfalls hingegangen. Sie klang gar nicht so verrückt. Sie ist felsenfest von dem überzeugt, was sie sagt. Ihre Überzeugung ist wie ein Licht, das aus ihr kommt. Ein Licht der Leidenschaft, nicht des Wahnsinns. Und sie ist schön …«
Mrs. Cavanaugh stürzte sich auf dieses Wort. »Das ist es also, wie? Das hat meinem David und meinem Seth den Kopf verdreht. Sie ist schön, eine Isebel. Sie steckt voller verrückter Ansichten, aber das bemerken meine Söhne gar nicht. Sie sehen nur ihre dunklen Augen, ihr schwarzes Haar, die langen Beine und ihre geschmeidigen Bewegungen. ›Oh, Mutter, du solltest ihre geschmeidigen Bewegungen sehen‹, sagt mein Seth. Wie eine Schlange, nehme ich an.«
»Ich bitte dich, es gibt keinen Grund, so etwas zu sagen«, erwiderte Mr. Cavanaugh. »Man muss die Lady nach ihren Taten beurteilen. ›An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.‹ Und die Früchte ihrer Arbeit sind alle gut. Dafür respektieren wir sie. Die Lady und ihre Gefolgsleute sind uns gute Nachbarn und dafür müssen wir uns revanchieren. Auch wenn wir nicht mit allem einverstanden sind, was sie sagt.«
Am nächsten Morgen brachen Loren und Mr. Cavanaugh nach Asheville auf. Der Obst-und-Gemüse-Wagen wurde von einem Esel gezogen und machte deshalb nicht viel Arbeit. Bei den Hügeln halfen sie ein wenig, aber ansonsten war es kaum mehr als ein gemütlicher Spaziergang. Am vergangenen Abend hatte Loren in Gedanken eine Liste von Fragen zusammengestellt und bekam unterwegs alle Antworten, ohne zu neugierig zu wirken. Die Nacht verbrachten sie bei Freunden der Cavanaughs.
Der nächste Tag war ein Samstag. Loren beschloss, dem Herrschaftshaus einen Besuch abzustatten, um selbst zu hören, was die Lady zu sagen hatte.
*
Unterdessen in Victoria, im Kastell Monterreal …
»Wie heißen Sie, mein Freund?«
»John Nehemiah, M’am.«
»Nun, John, offenbar haben Sie sich verlaufen, denn dies ist das Apartment von Captain Martine.«
Ihm klopfte das Herz, nicht wegen der Entdeckung – er hatte halb damit gerechnet, entdeckt zu werden –, sondern wegen der Frau, die dort vor ihm stand. Er hoffte, dass sie seine Erregung nicht bemerkte. »Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, M’am. Ich bin vom Kurs abgekommen, könnte man sagen. Ich habe den Captain gesucht, wollte aber nicht stören. Der Rektor hat eine dringende Mitteilung für Captain Martine.« Er hob einen Umschlag mit dem Emblem des Rektors.
»Der Captain ist fort. Ich erwarte ihn zurück in … Nun, es wird noch eine Weile dauern, bis er zurück ist. Das sollte Rektor Brill eigentlich wissen.«
»Oh, die Mitteilung kommt aus dem Büro des Rektors«, log Nehemiah geschwind. »Nicht vom Rektor selbst.«
»Sie müssen sie mir übergeben. Ich sorge dafür, dass mein Mann sie bekommt, sobald er wieder da ist.«
»Oh, so dringend ist es nicht.« Der Umschlag enthielt nur ein leeres Blatt Papier. Wenn er ihn ihr aushändigte und sie ihn öffnete … »Wenn der Captain nicht da ist, können wir die zusätzliche Zeit nutzen, der Mitteilung genauere Details hinzuzufügen. Es ist ein Bericht über … die Einwanderung. Darum hat er gebeten. Ich nehme ihn wieder mit und arbeite noch etwas mehr daran, solange er fort ist. Es gibt mir Gelegenheit, die Daten zu aktualisieren.«
Die Frau brachte ihn zur Tür und deutete die Treppe hinunter. Er ging und bemerkte, dass sie mit den beiden Wächtern sprach, die ihren Posten verlassen hatten und beim Fenster am Ende des Flurs miteinander plauderten. Das war Pech. Von jetzt an würden sie aufmerksamer sein und es ihm schwerer machen, wenn er noch einmal hierherkommen musste.
Draußen versuchte Nehemiah, sich zu beruhigen, aber sein Puls raste noch immer – das Herz wollte einfach nicht langsamer schlagen. Der Blick der grauen Augen schien noch immer auf ihn gerichtet zu sein und bis in seinen inneren Kern zu reichen, was ihn zutiefst beunruhigte. Er war noch immer so erregt, dass er nicht einmal aufs Fahrrad steigen konnte und es schieben musste. Als er das Kastell verlassen hatte, lehnte er sich an einen der Bäume am Rand der Zufahrt und dachte an nichts. Schließlich stieg er auf und radelte zurück zur Stadt.
Unterwegs entschied er, nicht ins Büro zurückzukehren. Niemand würde ihn vermissen. Er war viel zu durcheinander, um zu arbeiten.
Nehemiah wusste, dass er eine Sünde beging und sich schämen sollte. Aber sein derzeitiger Zustand machte es notwendig. Um den Erfolg der Mission zu gewährleisten, musste er ihr seine volle Aufmerksamkeit widmen und dazu war er nicht imstande. Wenn die Sünde ihm half, sich zu konzentrieren, so glaubte er sie bereits halb vergeben. Er brachte sein Rad auf den Weg zu den Klippen an der Küste, nicht weit von der Pferdefarm der Comptons entfernt. Er war mehrmals dort gewesen, immer wegen der Pferdegespanne, die die Kutsche des Rektors zogen. Als er die Farm erreichte, fuhr er rechts am Haus vorbei und zu den Ställen dahinter. Im Longierzirkel jenseits davon fand er die gesuchte Person, den Grund für die Fahrt hierher.
»Na, wenn das nicht John ist, der Mann des Rektors. Hallo, John.« Die junge Frau führte eins der Fohlen an einer langen Leine durch den Zirkel. Sie war etwa achtzehn, vollschlank und exotisch. Nehemiah vermutete, dass auch orientalisches Blut in ihren Adern floss. Sie war ihm schon früher aufgefallen.
»Hallo«, erwiderte er. Ihren Namen kannte er nicht. »Wie wär’s mit einem Ausritt? Ich dachte, wir könnten vielleicht einige Reitpferde ausprobieren. Möglicherweise brauchen wir welche für eine Parade.«
Sie richtete einen abschätzenden Blick auf ihn und gewann den Eindruck, dass er wegen mehr gekommen war als nur Pferdefleisch. Sie hielt ihn für attraktiv und auch ein wenig geheimnisvoll. Ein Ritt in die Berge mit ihm lief vielleicht auf ein Abenteuer hinaus. »Können Sie reiten?«, fragte sie und lächelte.
»Und ob. Vielleicht besser als Sie.«
»Oho, ein Cowboy. Na, wir werden sehen.« Sie beschloss, ihn mit Gallimare auf die Probe zu stellen, ging in den Stall und holte die Sättel.
Sie ritten an der Küste entlang, über einen schmalen Pfad, der zu den zweiten Klippen führte. Er ritt ausgezeichnet. Sie mochte Männer, die gut ritten, da wurde sie schwach. Vielleicht ritt er tatsächlich noch besser als sie. Jedenfalls war er so schnell, dass es ihr schwer fiel, nicht den Anschluss zu verlieren.
Am Ende des Pfads stand eine kleine Hütte, einst Heim eines Schäfers und seiner Familie. Nehemiah hatte sein Pferd dort angebunden, als die junge Frau eintraf. Wortlos griff er nach ihren Zügeln. Eher der schweigsame Typ, fand sie. Er hob die Hand und half ihr vom Pferd.
In der Hütte machte er sich sofort daran, sie zu entkleiden. Besonders sanft ging er dabei nicht vor, aber sie beschwerte sich nicht. Noch nicht. Sie mochte es, wenn ein Mann ein bisschen grob war. Er ließ seine Hose hinunter, ohne die Stiefel auszuziehen, und warf sich auf sie.
»He, immer mit der Ruhe«, sagte sie. »Ich laufe nicht weg.«
Sie war trocken und deshalb kam er nicht so leicht in sie hinein, obwohl er begierig stieß. Er spuckte in die eine Hand und drückte den Speichel in sie, was wehtat.
»Au«, sagte sie. »Warte.«
Einen Moment später war er in ihr und stieß hart zu. Das kleine Bett unter ihnen wackelte und ihre Hüften prallten gegeneinander, was ihr neue Schmerzen bereitete. Er achtete nicht darauf. »He …«, sagte sie. Er legte ihr die Hand auf den Mund. Welches Interesse konnte er daran haben, was sie jetzt sagte? Die andere Hand knetete ihre Brust. Er legte die Wange auf die Hand, die den Mund zuhielt, und blickte auf das gefangene Tier hinab, das in eine große braune Aura gehüllt war. Er kam. Er musste kommen. Und jetzt war es so weit. Mit einem heftigen Schaudern ergoss er sich in ihr und es gelang ihm nicht, ein Stöhnen zurückzuhalten. Er pumpte noch mehr in sie hinein, kam noch einmal, und vielleicht ein drittes Mal, stöhnte immer wieder.
Als es vorbei war, fühlte er Abscheu. Für einen Moment galt der Abscheu ihm selbst und er hasste seine Schwäche, doch dann richtete sich das alles gegen die junge Frau. Er ließ von ihr ab und zog die Hose hoch – es widerte ihn an, dass sie ihn nackt sah. Und ihre Nacktheit erfüllte ihn mit Ekel. Verblüfft starrte sie zu ihm hoch und versuchte nicht einmal, ihre Blöße zu bedecken.
»Du denkst vielleicht, dass ich in dir gekommen bin«, zischte er wütend. »Aber da irrst du dich. Ich habe in dir gepisst. Verstehst du? Ich bin nicht gekommen, sondern habe gepinkelt!«
»Himmel, du bist wirklich ein netter Bursche«, sagte sie.
Je länger sie ihm ihre Nacktheit zeigte, desto größer wurde sein Zorn. »Hinaus!«, kreischte er. »Hinaus mit dir!« Neben dem Bett stand ein kleiner Tisch mit einer Petroleumlampe. Er zerbrach die Lampe und goss das Petroleum auf sie. Sie bekam es plötzlich mit der Angst zu tun und sprang auf. Er kreischte erneut, Worte, die keinen Sinn ergaben.
Ihre Kleidung lag in einem Haufen neben der Tür. Auf dem Weg dorthin rutschte sie aus, fiel halb und hielt sich im letzten Moment am Türrahmen fest. Er blickte auf sie hinab und bekam den After zu sehen, was das Feuer des Zorns in ihm noch heißer brennen ließ. Welch eine Beleidigung! Er schrie, ohne schreien zu wollen, und trat mit dem rechten Bein. Den Hintern wollte er treffen, zielte in seiner Wut aber nicht richtig und traf stattdessen die Hüfte. Dabei rutschte er im vergossenen Petroleum aus, wodurch die junge Frau gegen den Türrahmen gedrückt wurde. Holzsplitter bohrten sich ihr in Wange und Schulter; Blut rann ihr übers Kinn. Sie glaubte, dass er sich ihr von hinten näherte, und wandte sich zur Seite, um dem befürchteten Schlag auszuweichen. Aber er war noch auf den Knien, im Bettlaken verheddert, und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen.
Durch das Bemühen, dem erwarteten Schlag auszuweichen, kippte die junge Frau zur Seite und rollte durch die Tür. In der einen Hand hielt sie ihr T-Shirt. Die restliche Kleidung befand sich in der Hütte, aber sie dachte nicht einmal daran, die übrigen Sachen zu holen, lief los und floh in den nahen Wald. Ein Weg erstreckte sich dort, mit einem weichen Polster aus Kiefernnadeln, und sie lief wie der Wind, nackt und unbehindert. Sie wollte erst stehenbleiben, wenn sich der Mann kilometerweit hinter ihr befand. Sie wusste, dass sie um ihr Leben lief.
In der Hütte schmetterte Nehemiah die Faust gegen den Türrahmen. Dabei traf er einen Nagel, der als Kleiderhaken diente, und riss sich daran die Hand auf. Sein Blut tropfte dort in den Staub, wo eben ihres getropft war. Sein eigenes Blut! Er sah, wie es sich mit dem der schmutzigen jungen Frau vermischte, und ein weiteres Stöhnen kam aus seinem Mund.
Er sollte sie verfolgen. Sie würde allen erzählen, was hier geschehen war. Sie würden kommen, wenn sie ihre Geschichte gehört hatten: große Männer mit Fäusten wie Hämmer. Sie würden ihn schlagen. Plötzlich hatte er Angst, heimgesucht vom Schreckgespenst des Schmerzes. Und das war noch nicht alles. Seine Mission, seine heilige Mission … Er konnte sie nicht zu Ende bringen. Es war alles ihre Schuld. Er hätte ihr sofort folgen, sie zu Boden werfen und auf sie einschlagen sollen, bis sie tot war. Für einige Sekunden stellte er sich mit einem Stein in der Hand vor, ein Stein, der ihr den Schädel zertrümmerte. Genau das hatte sie verdient, und noch wichtiger: Es war das, was die Mission erforderte. Aber sie war fort. Er konnte sie jetzt nicht mehr einholen, da war er sicher. Sie hatte sich auf und davon gemacht, schnell und leichtfüßig, jung und gesund. So schnell konnte er nicht laufen, nie wieder, nicht mit der Kraft seiner Männlichkeit vergossen und vergeudet.
Nehemiah sank auf den schmutzigen Boden bei der Tür. Alles war verloren. Er musste fliehen. Er musste seinen Posten im Verwaltungsbüro aufgeben, den Zugang zu all den für die Mission erforderlichen Informationen. Nur wegen der verdammten Frau! Was für eine Schlampe! Wie hatte sie ihm so sehr schaden können? Was hatte er getan, um so etwas zu verdienen? Elend und Kummer erfüllten ihn. Er ließ den Kopf hängen, hob die Hände vors Gesicht und weinte.
*
Was Mr. Cavanaugh »Herrschaftshaus« genannt hatte, war ein riesiges Anwesen mit eigenem Park – ein erstaunlicher Ort selbst für jemanden, der in einem Palast wohnte. Loren wanderte umher, bewunderte die weiten Rasenflächen und großen, alten Bäume. Das Fehlen von motorisierten Werkzeugen hatte in anderen Teilen der Welt zu einer Vernachlässigung der Gartenpflege geführt, aber hier war alles perfekt: das Gras kurz, die Hecken gestutzt, das Wasser in den Fischteichen klar, die Wege ohne Unkraut. Überall sah Loren schwarz gekleidete Bedienstete bei der Arbeit. Er vermutete, dass es sich um Jansenisten handelte. Noch aufregender als die Bemühungen der gegenwärtigen Arbeiter waren die Leistungen jener Menschen, die dieses Anwesen geplant und angelegt hatten. Loren fragte sich, wer sie gewesen sein mochten und welche Vision hinter all dem steckte.
Der Park war voller Menschen. Ganze Familien mit Kindern hatten Picknickdecken auf dem Rasen ausgebreitet und aßen Brote und Obst, das sie in Körben mitgebracht hatten. Die Leute trugen Freizeitkleidung, wie an einem Tag im Urlaub. Kurz nach drei machten sich alle auf den Weg zum Herrschaftshaus. Loren wollte nicht zu früh eintreffen und wahrte einen gewissen Abstand. Als er schließlich einen Platz für sich fand, auf dem westlichen Rasen hinter dem Haupthaus, hatte sich eine große Menschenmenge versammelt. An der rückwärtigen Seite des Hauses gab es eine Terrasse, begrenzt von einer Mauer hoch wie ein großer Mann. Der größte Teil des Publikums befand sich auf der anderen Seite dieser Mauer. Auf der Terrasse war eine Bühne errichtet worden und darauf zeigten zwei Jongleure ihr Geschick. Geschminkte Clowns standen in den Ecken der Bühne und weitere liefen durch die Menge der Wartenden. Loren hörte das Lachen von Kindern.
Als die Lady auf die Bühne trat, stand die Sonne dicht über dem Horizont. Ein Scheinwerfer schien dort durch eine Lücke zwischen den Wolken zu leuchten und tauchte die Lady in goldenes Licht. Es hätte selbst dann nicht besser aussehen können, wenn es möglich gewesen wäre, so etwas zu arrangieren. Als die Sonne unterging, richteten sich Bogenlichter auf die Lady. Sie sprach fast zwei Stunden.
Loren hätte nicht beschwören können, dass die Frau auf der Bühne wirklich Sonia war, dazu stand er zu weit entfernt. Was er sah und hörte, bot keinen absoluten, jeden Zweifel ausräumenden Beweis. Das Lautsprechersystem war alt und verzerrte die Stimme so sehr, dass er nicht einmal alle Worte verstand. Aber was ihn sicher machte, dass dort wirklich Sonia stand und zu den vielen Menschen sprach, war die Hingerissenheit des Publikums. Tausende saßen auf dem Rasen, wie von ihr verzaubert. Die Lady sprach über zwei Themen, die Mrs. Cavanaugh erwähnt hatte: das Böse auf der Welt und die Sünden des Fleisches.
Sie hatte weder gute Nachrichten noch Trost für die Zuhörer. In ihrem Herzen seien sie durch und durch schlecht, sagte die Lady und das Publikum glaubte ihr. Sie müssten mit sich selbst ringen, Stolz und Weltlichkeit unterdrücken. Dabei würden sie immer wieder versagen, prophezeite die Lady. »Der heilige Paulus sagt uns, dass ein gerechter Mensch siebenmal am Tag der Sünde verfällt«, betonte sie. Aber durch all die Fehlschläge dürften sich die Menschen nicht davon abhalten lassen, es immer wieder zu versuchen. Um sich von ihren Schwächen zu befreien, brauchten sie ihre Hilfe, die Hilfe der Lady. Sie würde ihnen helfen, die Sündhaftigkeit des Fleisches abzustreifen und darüber hinauszuwachsen. Doch dazu war Opferbereitschaft notwendig. Rettung durch Opfer, hieß es. Was sie von ihnen verlangte, würde über das hinausgehen, was gewöhnliche Menschen ertragen konnten, aber sie würden es ertragen, wenn sie ihr vertrauten. Sie forderte die Zuhörer auf, ihr Leben dem Guten zu widmen. Nicht dem Guten im Abstrakten, das wäre zu schwer gewesen für diese armen, ignoranten Leute. Nein, sie sollten für die Sünden des Fleisches sühnen, indem sie das Fleisch für den Krieg gegen das Böse opferten. Gegen die Unheiligkeit und ihre Dunkle Präsenz, die das Licht der Sonne verfinsterte, den Jungen und Unschuldigen ihr Glück nahm. Die Dunkle Präsenz war eine Macht, eine Insel voll des Bösen. Diese Macht hatte von ihnen Besitz ergriffen, ohne dass jemand imstande gewesen war, sich dagegen zu wehren. Sie hatte ihnen die Kraft genommen, sie unterworfen, sie gezwungen, wie Tiere zu leben. Aber sie, die Lady, würde sie gegen die Dunkle Präsenz in den Kampf führen. Gemeinsam würden sie das Böse überwältigen und besiegen und auf diese Weise Heil erlangen.
Zum Schluss der langen Rede standen die Leute und es herrschte eine seltsame Stille. Ruhig und geordnet gingen sie über die von Bäumen gesäumte Zufahrtsstraße. Viele von ihnen wirkten ergriffen von dem, was sie gehört hatten. Einige weinten.
Auf dem Weg zurück zur Stadt kam Loren mit einem älteren Paar ins Gespräch. Die Frau sagte nur wenig, aber der Mann erkundigte sich nach seiner Herkunft und dem Akzent. Sie waren sehr freundlich, boten ihm Essen und einen Platz für die Nacht. Loren nahm das Angebot dankbar an. Unmittelbar nach der Mahlzeit ging er zu Bett und schlief sofort ein.
*
Er träumte von Sonia. Sie betete bei ihm, bei seinem Leichnam. Aus dem Sarg sah er zu ihr auf. Sie stand neben ihm, auf der Höhe seines Kopfes. Er blickte an ihrem Gewand hoch, an nackten Beinen, die in der Dunkelheit aufragten. Ihre Beine waren über ihm gespreizt, ein Fuß links von seinem Kopf, der andere rechts. Er hatte die Augen offen und konnte den Blick nicht von der Stelle zwischen den Beinen abwenden. Sie sprach, nicht zu ihm, sondern zu einer großen Menschenmenge. Sie belehrte ihre Zuhörer über die Sündhaftigkeit des Fleisches. Die Leute verehrten sie, er fühlte ihre Bewunderung – für sie war Sonia die Essenz von Reinheit und Tugend. Er fürchtete, dass sie bemerkten, wohin sein Blick gerichtet war, aber er konnte ihn nicht abwenden, er konnte nicht einmal blinzeln. Er hoffte, dass seine offenen Augen unbemerkt blieben, doch das war nicht der Fall. Empörte Rufe erklangen im Publikum, erst einige wenige, dann immer mehr. Die Leute waren aufgebracht und drängten nach vorn, auf ihn zu. Sie streckten ihm die Hände entgegen, zerrten ihn aus dem Sarg.
»Nimm seine Füße. Halt sie fest.«
»Schläft nackt. Wie man es von ihm erwarten kann.«
»Was?« Loren versuchte, sich aufzusetzen. Hände drückten ihn aufs Bett zurück.
»Wir bringen ihn nicht nackt fort. Wir müssen an der Herrin des Hauses vorbei und sie ist eine gute, gottesfürchtige Frau. Hier, zieh ihm das an.«
Erneut fühlte Loren Hände, die seinen Oberkörper hielten, während andere ihm etwas über die Beine streiften und sie dabei anhoben. Ein einzelnes Licht strahlte ihm entgegen und blendete ihn, das Licht einer Taschenlampe. Ein halbes Dutzend Männer waren bei ihm im Zimmer. Der Reißverschluss seiner Hose wurde nach oben gezogen, der Gürtel am Zwerchfell festgezurrt. Die Hände hoben ihn vom Bett.
»Jetzt einen Strick um die Hände. Auf den Rücken.«
»Was ist los?«, brachte Loren benommen hervor. Er bekam einen Schlag an den Kopf.
»Sei still. Oder es gibt noch mehr davon.«
»Nicht um die Füße, Dummkopf. Dann müssten wir ihn tragen. Um die Mitte. Hier, das Hemd. Zieht es ihm an, über die Stricke.
»Wer seid ihr?« Seine Stimme klang rau, voller Furcht.
Ein Gesicht erschien direkt vor ihm, vom Licht der Taschenlampe erhellt. »Halt dein verdammtes Maul. Hast du verstanden? Klappe halten!« Diesen Worten folgte ein Hieb in den Bauch, mit solcher Wucht, dass er sich zusammenkrümmte und ihm die Luft wegblieb. Übelkeit erfasste ihn.
Die Männer stießen ihn durch die Tür und in einen Flur, in Richtung einer Treppe. Bei der Treppe angelangt sah Loren den älteren Mann und seine Frau in Morgenmänteln an der Tür ihres Schlafzimmers stehen. Ihre Gesichter wirkten hart, unfreundlich. Erneut gaben ihm die Hände einen Stoß und dadurch verlor Loren auf der obersten Stufe das Gleichgewicht. Er fürchtete, die steile Treppe hinunterzufallen und sich dabei das Genick zu brechen. Instinktiv ließ er sich auf die Knie sinken, um seinen Schwerpunkt nach unten zu verlagern; vielleicht versetzte es ihn in die Lage, die Stufen hinunterzurollen. Doch die Männer packten ihn, bewahrten ihn vor einem Sturz und zogen ihn wieder auf die Beine. Im Licht der Flurlampe sah er, dass sie alle schwarze Kleidung trugen.
Kurze Zeit später hatten sie die Treppe hinter sich und waren draußen, wo ihn die Männer anhoben und auf die Ladefläche eines Wagens warfen. Er nahm Pferdegeruch wahr. Einige der Schwarzgekleideten stiegen zu ihm auf den Wagen und stellten ihre Füße auf ihn, damit er liegenblieb. Es war bitterkalt. Mit einem Ruck setzte sich der Wagen in Bewegung; Hufe klapperten.
Nach einer endlos langen Fahrt zog man Loren von der Ladefläche und brachte ihn durch die Tür eines niedrigen weißen Gebäudes. Eine Treppe führte nach unten. Ein Stoß ließ Loren die Stufen hinuntertaumeln und unten sank er auf den Boden eines hell erleuchteten Zimmers. Der Boden schien aus festgetretener Erde zu bestehen. Er kam halb nach oben und sah sich um. Ein großer Tisch aus massivem Holz stand vor ihm und dahinter saß ein in Schwarz gekleideter Mann, der sich vorbeugte und auf ihn herabsah. Außerdem befanden sich noch etwa zehn andere Männer in dem Raum, alle in Schwarz. Niemand von ihnen wirkte freundlich. Bei einem von ihnen – er schien der Jüngste zu sein – war das Gesicht eine hasserfüllte Fratze. Als Loren verwirrt zu ihm hochsah, spuckte ihm der junge Mann ins Gesicht.
»Lass den Unsinn«, sagte der Mann hinter dem Tisch. »Wir müssten ihn saubermachen und wir haben Besseres zu tun. Hebt seinen Kopf.«
Hände gruben sich Loren ins Haar, zerrten den Kopf nach oben und hielten sein Gesicht ins Licht.
»Mal sehen, welcher von unseren Freunden es ist.« Vor dem Mann am Tisch lag ein Stapel großer Fotos. Das harte Papier war kraus, wie achtlos getrocknet. Der Mann nahm ein Foto nach dem anderen, hielt es hoch, verglich es mit Lorens Gesicht und legte es wieder beiseite. Auf der Rückseite eines jeden Fotos stand etwas geschrieben, vielleicht der Name. Insgesamt waren es etwa fünfzig Bilder.
»Aha«, sagte der Mann schließlich. »Hier haben wir ihn.«
Er drehte das Bild und las, was auf der Rückseite geschrieben stand. Loren erkannte sich selbst auf dem Foto. Es zeigte ihn in Uniform, nicht im alten Trainingsanzug, sondern in der neuen weißen und goldenen Uniform. Also konnte das Bild höchsten zwei Jahre alt sein.
»Captain Loren Martine«, las der Mann. Seine Züge verhärteten sich. »Na, ist das nicht ein guter Fang? Wirklich nett von Ihnen, dass Sie zu uns gekommen sind, Captain. Das erspart uns die Mühe, Sie zu holen.«
Er legte das Foto auf den Stapel, nahm alle Bilder und klopfte mit ihnen auf den Tisch, um den Stapel zu ordnen.
»Bringt ihn fort!«, befahl der Mann.
Jemand näherte sich von hinten. Loren wollte plötzlich herausfinden, wen die anderen Fotos in dem Stapel zeigten. Als ihn jemand auf die Beine zog, wankte er nach vorn, näher an den Tisch heran. Der Mann hinter ihm fluchte. Loren richtete sich auf, bekam ein Knie unter das Ende des Tischs und hob ihn an. Der Stapel mit den Fotos kippte und die Bilder fielen zu Boden. Loren erkannte Aufnahmen von Edward, Kelly, Adjouan, Elgar Klipstein und Gordon Buxtehude. Die anderen Bilder wirkten vertraut, aber er erhielt keine Gelegenheit, die Gesichter zu identifizieren. Der fluchende Mann kam auf ihn zu, die rechte Hand zur Faust geballt und zum Schlag gehoben. Loren duckte sich zur Seite und der Hieb traf ihn unter der Schulter. Er fiel, prallte gegen die Seite des Tischs und landete mit der Wange auf einem der Fotos. Nur die Augen waren zu sehen; der Rest befand sich außerhalb seines Blickfelds. Es schienen Kellys Augen zu sein, aber das war seltsam, denn Kellys Foto hatte doch dort drüben gelegen, oder? Dies konnten nicht ihre Augen sein, es sei denn, es gab mehrere Fotos von ihr.
Er war noch immer benommen.
Jemand packte ihn unsanft und hob ihn hoch, was ihm Gelegenheit gab, das ganze Bild zu sehen. Es zeigte ihm das rundliche Gesicht seiner Tochter Shimna.