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Was sich drinnen rührt,
wenn das Licht aus ist

»Der Jansenismus war im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert eine Bewegung in der katholischen Kirche und ging auf den holländischen Theologen Cornelius Otto Jansen zurück, dessen Lehre als Häresie galt.« Der Sprecher war ein Gast im Kastell Monterreal, ein Mann in mittleren Jahren und mit vorzeitig grau gewordener Löwenmähne. Loren beneidete ihn um seine tiefe Stimme und die Kontrolle, mit der er sprach. Im Vergleich dazu war seine eigene Stimme kaum besser als ein Quieken. »Heute benutzen wir das Wort ›Häresie‹ für einen abweichenden Glauben. Doch in der Zeit der großen Häresien bezog sich der Ausdruck auch auf eine Splittergruppe des Glaubens und auf die Gemeinschaft der Gläubigen. Die häretischen Jansenisten bildeten eine kleine Gruppe und zum Zentrum ihrer Bewegung wurde die französische Stadt Port Royal. Die Jansenisten setzten sich für eine Rückkehr zu den Lehren des Augustinus ein. Das ist typisch für Häresien: Sie alle befürworteten die Rückkehr zu früheren, strengeren Glaubensrichtungen und Praktiken. Ihnen allen war eine gewisse nervige ›Heiliger als ihr‹-Art zu eigen. So hielten sich die Jansenisten für heiliger als der Papst.«

Kelly hatte aufmerksam zugehört. »Woraus bestand der besondere Glauben der Jansenisten, Pater McGrath?«

»Bitte nennen Sie mich Robbie«, erwiderte McGrath. »Die Jansenisten glaubten an die unvermeidliche Verderbtheit der menschlichen Seele. Sie hielten die Erbsünde für so schlimm, dass die meisten Menschen nicht in der Lage waren, sie zu überwinden, woraus sie den Schluss der Unvermeidlichkeit von Sünde zogen. Das führte zu sonderbaren Praktiken der Selbstgeißelung und extremen Fastens. Manche Jansenisten verzichteten auf Wasser, bis sie verdursteten.«

Loren schüttelte den Kopf. »Das ist etwas, das ich nie ganz verstanden habe: wie ein solcher im Grunde genommen unmenschlicher Glaube Fuß fassen konnte. Welchen Reiz hatte es für Menschen zu hören, dass sie rettungslos verloren waren und sich selbst quälen mussten? Man hätte meinen sollen, dass solche Ideen von den Leuten für viel zu dumm gehalten wurden und sofort auf dem Müllhaufen der Geschichte landeten.«

Pater McGrath seufzte. »Ich weiß, was Sie meinen, Loren. Wenn man sich mit Häresien beschäftigt, fällt einem etwas auf, das bis zu einem gewissen Grad in allen Kulten und Glaubensvorstellungen präsent ist: Die Psychologie des Anti-Selbst kann für Menschen sehr attraktiv sein. Man sollte meinen, dass ein bestimmter Kult an die besten Interessen der Menschen appelliert, an Vernunft und den Wunsch nach Trost, Selbstachtung, Liebe und Freiheit – elementare menschliche Bedürfnisse. Aber die Kulte, die länger von Bestand geblieben sind, sprechen den Menschen nicht darauf an, sondern stellen alle, mehr oder weniger, sein Selbst infrage. Ich glaube, eine ganz und gar komfortable Religion könnte nicht überleben. Wir möchten, dass uns jemand etwas lehrt, das im Gegensatz zu unseren natürlichen Neigungen steht. Das bedeutet: Wir sind bereit zu glauben, dass diese Neigungen falsch sind.

Man nehme das Grundbedürfnis des Menschen, sein Verlangen nach Liebe, sowohl geistiger als auch körperlicher. Eigentlich scheint es eine harmlose private Sache zu sein, zumindest wenn es Erwachsene betrifft und die Betreffenden einverstanden sind. Man sollte meinen, dass eine so private Angelegenheit von der Religion unberührt bleibt. Aber seit dem Anbeginn der Zeit hat es keine mir bekannte Religion gegeben, die der Sexualität nicht irgendwelche Regeln auferlegte: wie, wann und wo Sex stattfinden darf, mit wem, wer dabei zuschauen darf und wer nicht, ob man die Finger oder Ellenbogen benutzen darf, wer oben und wer unten zu liegen hat, wo man hinfassen kann und wohin nicht, ob Sex mit Cousins und Cousinen, Minderjährigen, Eltern und Geschwistern zulässig ist, ob man ein Auge zudrücken kann, wenn jemand mit jemandem vom gleichen Geschlecht herumspielt oder Hand an sich selbst legt, ob Petting, Zungenküsse, Hinternreiben und was weiß ich noch alles erlaubt ist oder verboten gehört. Es gibt keine einzige erotische Praxis auf der Erde, die nicht von mindestens einer offiziellen Religion für sündhaft erklärt ist, während andere sie erlauben.

Wir könnten den gesamten Inhalt des Kamasutra nehmen und jeder Stellung eine Nummer geben. Dann könnten wir einen Tisch nehmen, mit den nummerierten Stellungen auf der einen Seite und den hundert wichtigsten Religionen auf der anderen. Anschließend legen wir Zettel in die Mitte, mit Hinweisen wie ›Religion Nummer N akzeptiert Stellung Nummer M, lehnt aber X, Y und Z ab. Schon nach kurzer Zeit wäre der Tisch voll von solchen Zetteln; es gäbe schließlich keinen Platz mehr. Auf vielen Zetteln stünde ›Nur am Mittwoch, mit überkreuzten Zehen‹ oder ›nur für Priester erlaubt‹. Wenn man die Regeln nur einer Religion nimmt, kann man sich genügend Erklärungen und Rechtfertigungen zurechtlegen. Aber nimmt man sie alle, so gewinnt man eher den Eindruck, es mit dem Werk eines kosmischen Komikers zu tun zu haben. Von Ernsthaftigkeit, Vernunft und Sinn keine Spur.«

»Klingt so, als hätten Sie Probleme mit dem Konzept der religiösen Verbote sexueller Praktiken«, sagte Loren.

»Oh, ganz und gar nicht. Es sind nur die Regeln der anderen Religionen, mit denen ich nichts anfangen kann. Die meiner eigenen sind völlig in Ordnung.«

Loren sah Pater McGrath groß an und vermutete, dass er sich einen Scherz mit ihm erlaubte.

»Könnte eine Gruppe ehrlicher religiöser Menschen daran glauben, dass Vergewaltigung eine angemessene Methode der Bestrafung ist?«, fragte Kelly. »Um die Seele der bestraften Person von unvermeidlicher Sünde zu befreien?«

Pater McGrath schnitt eine Grimasse. »Davon habe ich noch nie gehört, aber warum nicht? Einen solchen Kult kann ich mir durchaus vorstellen. Er wäre nicht schlimmer als einige andere.«

»Ich habe noch Fragen in Bezug auf die Verdammnis«, sagte Kelly. »Könnten Sie uns auch dazu Ihre Meinung sagen, Robbie? Gibt es einen Präzedenzfall für Menschen, die sich für hoffnungslos verdammt halten, sich aber gleichzeitig verpflichtet fühlen, für ihre Sünden zu büßen und anderen zu helfen?«

Pater McGrath nickte. »Das bringt uns zu den Jansenisten zurück. Sie glaubten, dass es den meisten Menschen bestimmt ist, in der Hölle zu schmoren, und dass nur eine kleine, von Gott auserwählte Elite in den Himmel kommt. Die Verdammten müssen ein Leben der Läuterung und Unterwerfung führen, ohne irgendeinen Lohn dafür zu empfangen. Das entsprach dem jansenistischen Konzept des totalen Opfers, der Opferung nicht nur des Körpers, sondern auch der Seele. Sehr beliebt bei Menschen mit geringer Selbstachtung, nehme ich an. Wie dem auch sei, offenbar landeten diese Vorstellungen nicht auf dem ›Müllhaufen der Geschichte‹, wie Lorens Erlebnisse zeigen.«

»Und die Menschen, die all diesen Unfug glaubten … Waren sie nicht verrückt?«

Der Pater hob die Hände. »Wer kann das sagen? Was bedeutet ›verrückt‹? Die Mullahs und Ajatollahs halten mich für verrückt, wegen der Dinge, an die ich glaube, und ich halte sie für verrückt, wegen der Dinge, an die sie glauben. Aber was glaubt Er?« McGrath blickte nach oben. »Falls Er darüber nachdenkt, falls Er existiert, falls Er ein Er ist und keine Sie, falls Er/Sie sich überhaupt um uns schert … Kann ich noch ein Bier haben?«

Kelly griff nach der silbernen Glocke auf dem Couchtisch und läutete. Kurz darauf wurde ein Tablett gebracht und nachdem Kelly ihren Gast bedient hatte, schenkte sie sich selbst nach. »Trotzdem erscheint es mir seltsam, dass solche irren Überzeugungen heute noch existieren, im einundzwanzigsten Jahrhundert.«

»Oh, das einundzwanzigste Jahrhundert.« Pater McGrath wirkte amüsiert. »Dieses Konzept, meine Freunde, ist nicht annähernd so robust, wie man annehmen könnte. Für einen großen Teil der Welt ist das einundzwanzigste Jahrhundert noch nicht angekommen. Er wartet sogar noch auf das zwanzigste. Ein kleiner Teil konnte es in Empfang nehmen, aber mit dem Einschalten der Effektoren wurde es ihm wieder genommen. Für den Rest von uns ist es hier, aber nicht immer. Wenn wir allein sind, wenn das Licht aus ist, wenn sich die Realität des Tages trübt … Dann rührt sich in uns das dunkle, finstere Mittelalter. Wenn das geschieht, ist das einundzwanzigste Jahrhundert weit weg. In vielen Menschen hat das Mittelalter als eine sehr reale Entität überlebt.«

Kelly lehnte sich zurück. Sie fühlte nicht, wie sich das dunkle Mittelalter regte, zumindest nicht in ihr. Aber die Worte von Pater McGrath erklärten zumindest teilweise die Ereignisse in Asheville. Dort schien das Mittelalter gut zu gedeihen. Sie sah auf und schenkte ihrem Gast ein Lächeln. »Heute habe ich unter anderem Folgendes gelernt: Es ist sehr schade, dass wir Sie nicht schon früher kennengelernt haben, Robbie McGrath. Ich hoffe, Sie kommen öfter nach Monterreal und werden unser Freund.«

Der Pater lächelte. »Das würde mir sehr gefallen«, erwiderte er.

Als McGrath gegangen war, saßen Loren und Kelly allein am Tisch und waren sich noch immer der Präsenz des Mittelalters bewusst. »Wir haben heute noch etwas anderes gelernt«, sagte Loren. »Nämlich dass uns der Müllhaufen der Geschichte nicht vor Sonia schützt. Ihr Wahnsinn ist keine gefährliche Schwäche, wie wir bisher angenommen haben, sondern die Quelle einer erschreckenden Kraft.«

*

Loren und der Proctor verbrachten den größten Teil der Woche damit, die Sicherheitsvorkehrungen zu überprüfen. Sie bildeten eine neue Palast­wache aus einheimischen Kubanern. Zuvor hatten diese Leute als möglicherweise instabiles Element gegolten, das kein hundertprozentiges Vertrauen verdiente. Jetzt waren es die Einzigen, denen Loren vertraute. Voller Sorge erinnerte er sich an die Fotos, die Personen im Innern des Kastells und in La Sabana gezeigt hatten. Buxtehude wies darauf hin, dass sich offenbar ein Spion Zugang zum Büro des Rektors verschafft hatte – in dieser Angelegenheit wurde noch ermittelt.

Sonia hatte gesagt, dass die Prinzessin ihr Feind war, ein Symbol, das sie zerstören wollte. Also musste das Symbol besser geschützt werden. Als sich Loren um diesen Schutz kümmerte, dachte er mit wachsender Sorge daran, dass die Frau, die er zufälligerweise liebte, in direkter Verbindung mit diesem Symbol stand. Das mit der Prinzessin als Oberhaupt der Nation Victoria erschien ihm plötzlich dumm. Er bedauerte, nicht gründlicher über die Konsequenzen nachgedacht zu haben, damit Kelly heute seine geliebte Frau und Shimnas Mutter sein konnte, mehr nicht. In der Anonymität hätten sie ein sicheres Leben führen können. Dieses Ideal war jetzt unerreichbar fern.

Wenn Kelly die Essenz von Victoria repräsentierte, so wurde der Schatten von Sonia Duryea zu einem Symbol von anderer Art. Es gab keine offiziellen Meldungen über eine zweite feindliche Macht auf dem Kontinent. Nur der innere Kreis wusste von der Zerstörung der Laserwaffe oder von der Rolle, die Sonia dabei gespielt hatte. Und nichts war von Lorens Erlebnissen in Asheville bekannt geworden. Dennoch wuchs in der Bevölkerung das Gefühl, dass Sonia – die einzige bekannte Person, die Victoria den Rücken gekehrt hatte – eine Gefahr für die Existenz der Nation darstellte. Die Boulevardpresse von St. James erwähnte sie oft und brachte ihr Bild. Sie war das perfekte Gegenmittel für eine Nachrichtenflaute: geheimnisvoll, schön und gefährlich.

Einige Wochen nach Lorens Rückkehr brachte die Zeitung »St. James Diary« einen Artikel, in dem Sonia als Oberhaupt einer einflussreichen Gruppe bei den atlantischen Staaten bezeichnet wurde. Offenbar hatten einige Neuankömmlinge diese Information gebracht. Angeblich, so der Artikel, verfüge sie über Luftschiffe und vielleicht sogar strategische Waffen. Die Überschrift über Sonias Foto lautete: »DRACHENLADY PLANT KRIEG«.

Daraus ergab sich ein Problem in Hinsicht auf die kleine Laura. Bisher war sie Gast im Kastell und bei Shimna untergebracht gewesen. Sie schien zuvor nie ein anderes Kind gesehen zu haben und bei ihrem Anblick zu begreifen, dass sie es zum ersten Mal mit einem anderen Geschöpf wie sie selbst zu tun hatte. Kelly vermutete, dass sich das arme Kind für eine Art Freak gehalten hatte, weil es im Vergleich mit allen anderen Menschen in seiner Umgebung so klein und unentwickelt war. Wie auch immer die Erklärung lauten mochte, Laura schloss Shimna sofort in ihr Herz und Kelly liebte sie wie ihre eigene Tochter.

Für Kelly lag der Fall klar: Sie würden Laura adoptieren und zwei Kinder großziehen anstatt nur eins. In dieser Hinsicht gab es für sie nicht das geringste Problem. Loren sah die Sache ein wenig anders. Wer Laura erblickte und genauer darüber nachdachte, musste zu dem Schluss gelangen, dass sie sein Kind war, aber nicht Kellys. In St. James gab es Hunderte, die sich an Sonia erinnerten, und auch daran, dass er sie geliebt hatte. Von Lauras Aussehen und ihrem Alter konnten sie darauf schließen, wer ihre Mutter war. Vermutlich würden sie das Kind »Tochter der Drachenlady« nennen. Und wenn es zum Krieg mit den Jansenisten kam, würde Laura das Stigma des Verrats ihrer Mutter tragen.

Seine Lösung des Problems bestand darin, Laura aufzugeben, sie das Kind von jemand anderem werden zu lassen, damit es weniger Grund für die Frage gab, wer ihre Eltern waren. Seine Wahl fiel auf Maria del Sol. Als sich Kelly einverstanden erklärte, brachten sie Laura zu dem kleinen Haus, das Edward für sich und seine zukünftige Braut gebaut hatte. Maria del Sol saß neben Edward und hörte nachdenklich zu, während Loren alles erklärte. Dann beobachtete sie das kleine Mädchen, das vor ihr auf dem Läufer spielte.

»Laura wäre meine Tochter. Sie wäre unsere Tochter, wenn wir heiraten, Edward.« Ihre Augen glänzten. »Unser schönes Kind. Oh, Loren und Kelly, was macht ihr uns da für ein wundervolles Geschenk. Sie ist … perfekt.«

Kelly sah sie an und Tränen erschienen in ihren Augen.

»Die Leute könnten denken …«, begann Loren.

MariSol lachte unbeschwert. »Wir wissen genau, was sie denken werden. Dass Fräulein Maria Sonnenschein einen jugendlichen Fehltritt hatte. Es wird ihnen leicht fallen, das zu denken, weil sie glauben, heißblütige spanische Mädchen könnten ihren Schlüpfer nicht anbehalten. Was hältst du davon, dass mein Ruf auf diese Weise Schaden nimmt, Edward?«

»Von Schaden kann überhaupt nicht die Rede sein. Ich glaube, es gibt dir einen Hauch von Romantik, ein bisschen Pep. Übrigens bin ich begeistert von der Idee. Oder zählt meine Meinung nicht?«

»Überhaupt nicht«, sagte Maria del Sol mit fester Stimme. »Ich habe dieses uneheliche Kind zur Welt gebracht, weil ich einfach nicht widerstehen konnte. Und du, armer Mann, musst dich damit abfinden, dass ich bereits eine Tochter habe.«

»Ich bin trotzdem begeistert. Und natürlich einverstanden.«

»Vielleicht sollten wir ihr einen anderen Namen geben«, sagte Loren.

»Wir nennen sie Veronica«, erwiderte die neue Mutter ohne zu zögern. »Veronica.« Sie streckte dem Kind die Hände entgegen. »Komm her, mein Schatz. Vielleicht gefällt es dir, auf meinem Schoß zu sitzen.«

»In Ordnung«, sagte Laura/Veronica. Als sie auf MariSols Schoß saß, sah sie Kelly an und sagte: »Sie ist furchtbar schön, nicht wahr, Kelly?«

»Furchtbar, ja.«

Maria del Sol lächelte. »Danke, Veronica. Glaubst du, es könnte dir gefallen, bei mir und meinem Mann zu leben?«

»Vielleicht.«

»Na gut, dann probieren wir es aus.«

»Kann auch Nino kommen? Ich habe oft mit ihm gespielt.«

»Ich denke schon.«

»Und meine Schwester Shimna?«

»Sie ist jetzt deine Cousine. Die Sache ist ein bisschen kompliziert, aber nach einer Weile wirst du verstehen. Und ja, sie kann so oft kommen, wie sie möchte.«

*

In der tiefen Verzweiflung während seiner Gefangenschaft hatte Loren zwei schreckliche Wahrheiten erkannt. Erstens: Er würde nie fähig sein, Kelly zu erzählen, was mit ihm in Asheville geschehen war. Mit dieser Erinnerung musste er für den Rest seines Lebens allein zurechtkommen. Und zweitens: Er würde nie wieder mit einer Frau schlafen können, weil es ihn an die Vergewaltigung im Herrschaftshaus der Lady erinnert hätte.

Glücklicherweise erwiesen sich beide »Wahrheiten« wenige Stunden nach seiner Rückkehr als falsch. Die Worte strömten aus ihm heraus, kaum war er mit Kelly allein und sie ging sofort mit ihm ins Bett. Sie liebten sich schnell und dann noch einmal, langsam. Kelly verschob ihre Termine für die nächsten Wochen und sie brachen mit der Cornell auf. An einem leeren Strand, den sie ganz für sich allein hatten, genossen sie die Sonne, badeten nackt und verführten sich gegenseitig.

»Du bist atemberaubend«, sagte Loren und blickte auf Kelly hinab, nachdem sie sich einmal mehr geliebt hatten. »Du bist die perfekte Geliebte: erotisch, lustvoll, kokett, komisch und voller Liebe.«

»Ist es nicht seltsam?«

»Seltsam?«

»Wie wir uns verhalten. Unsere Bedürfnisse. Wie eine weitere Erfindung des kosmischen Komikers, den Pater McGrath erwähnt hat. Seltsam ist vor allem unsere Vorstellung von einer guten Ehefrau und einer Geliebten. Du sagst, dass ich beides bin, und ich glaube, du hast recht. Aber wie hat unsere Kultur eine Tugend aus dem gemacht, was ich bin? Das ›ideale Sexwesen‹ muss ständig geil sein, wie wir. Wie ich. Aber was für ein seltsames Ideal. Bei mir läuft es auf ein Jucken hinaus.«

»Auf ein Jucken?«

»Ja. Es juckt mich in meinem Kern, vom Hintern aufwärts bis zu den Hüften. Ein großes, starkes Jucken. Und du bist es, der mich kratzt und mir Erleichterung verschafft. Das ist alles. Tugend spielt dabei gar keine Rolle. Es ist nur ein Jucken.«

»Kellys juckender Kern.«

»Wenn ich dem Jucken nachgebe, bin ich wie ein alter Köter, der nach seinen Flöhen kratzt. Und doch entspricht es dem, was und wie wir unserer Meinung nach sein sollten. Du denkst in diesen Bahnen und ich ebenfalls. Ist das nicht seltsam?«

»Seltsam, aber gut.«

»Fühlst du dich besser, Liebling?«

Loren wusste, was sie meinte. »Ja, Kelly. Vielleicht mag ich es nur nicht mehr so gern wie früher, wenn die Frau auf mir sitzt.«

»Es gibt andere Stellungen. Wir können sie alle ausprobieren.«

*

Loren stand auf der Brücke der Ardent, mit Myer und Rita Bentenjew an seiner Seite. Sie warteten auf Anweisungen. Dies war Commander Myers letzte Mission mit der Ardent; wenn sie zurückkehrten, warteten die Papiere des Captains auf ihn. Rita würde seinen Platz einnehmen, nach ihrer Beförderung zum Commander.

Bei dieser Reise führte Loren das Kommando über die Ardent, denn Van Hooten befehligte die Flotte. Kelly glaubte Loren emotional zu sehr in die Sache verwickelt, um ihm die ganze Flotte anzuvertrauen. Sie hatte recht. Dies war eine sehr emotionale Mission für ihn: Sie wollten das Herrschaftshaus der Lady zerstören und das Machtzentrum der Jansenisten auslöschen.

»Ardent, gehen Sie in Position«, tönte Van Hootens Stimme aus dem Lautsprecher des Licht-Funks.

»Ardent, Segel in den Wind«, sagte Loren und spürte wenige Sekunden später, wie der Pavillon schneller wurde. Sie kamen an neunter und letzter Stelle, direkt hinter Tom Buxtehudes Bellerophon. Van Hooten führte die Flotte mit der Resolute an. Sie hatten über den Bergen auf den Beginn der Morgendämmerung gewartet. Jetzt, mit der Stadt Asheville am Horizont, flogen sie dem Ziel entgegen.

Bei der Ratsversammlung, die über den Einsatz entscheiden sollte, waren verschiedene Meinungen aufeinander geprallt. Loren, der Proctor und die meisten Airmen hatten sich für die Zerstörung ausgesprochen, doch Kelly und die anderen bezogen Stellung dagegen. Eine Abstimmung wäre leicht zugunsten von Lorens Plan ausgegangen. Aber dazu kam es nicht, denn Kelly wies darauf hin, dass sie den Einsatz nicht einmal dann zulassen würde, wenn die einzige Gegenstimme von ihr käme. Sie meinte, ein Krieg gegen die Jansenisten sei nicht nötig. Sie hielt es für möglich, ihnen einen Frieden aufzuzwingen und diesen Frieden mit Victorias Macht zu erhalten.

Es war nie zuvor geschehen, dass der Rat eine Ansicht vertrat und die Prinzessin eine andere, und Dekan Porters Verfassung bot keinen Ausweg aus dem Dilemma. Als man ihn um eine Stellungnahme bat, meinte er, ohne Konsens könne kein Einsatz stattfinden. Beide Seiten hatten ein Vetorecht. Also musste ein Kompromiss gefunden werden. Kelly schlug vor, den Jansenisten einen Olivenzweig anzubieten und ihnen gleichzeitig mit Vernichtung zu drohen. Das war der gegenwärtige Stand der Dinge. Loren führte den Olivenzweig bei sich, in Form eines Umschlags in seiner Diplomatentasche. Er wollte ihn überbringen und, wenn Sonia das Angebot ablehnte, das Herrschaftshaus niederbrennen. Die Linsen waren bereits ausgebracht worden und folgten ihnen in einer Höhe von mehr als drei Kilometern.

»Verkehr auf dem Radar?«, fragte Loren.

»Nichts, Sir. Der Luftraum ist leer. Zu früh für sie?«

»Wer weiß.«

Erneut kam Van Hootens Stimme aus dem Lautsprecher und ordnete einen Kurswechsel für die Flotte an. Sie hatten den Fluss erreicht und würden ihm nun bis zum Rand des Anwesens folgen. Die Ardent schloss sich dem Manöver an. Myer war Wachoffizier und gab den entsprechenden Befehl. Loren blickte aus dem Seitenfenster. Van Hooten war sehr vorsichtig und ließ die Pavillons in einer Höhe von fast zwei Kilometern fliegen. Wenn feindliche Luftschiffe jetzt starteten, um sie abzufangen, würden sie kostbare zwanzig Minuten brauchen, um diese Höhe zu erreichen. Und bis dahin war der Kampf schon vorbei.

Doch es stiegen keine feindlichen Schiffe auf.

Schließlich geriet das Herrschaftshaus in Sicht und wirkte sehr ruhig. Nichts regte sich dort. Es waren keine Flieger, Karren oder Wagen zu sehen. Es kam kein Rauch aus den Schornsteinen. Die Besatzung der Ardent blieb angespannt, aber Loren wusste, dass das Gebäude leer war.

Van Hooten schickte eine Erkundungsgruppe mit kleinen Pavillons los. Loren verließ die Brücke mit der Anweisung, ihn sofort zu benachrichtigen, wenn sich etwas ergeben sollte. Die Landegruppe würde nichts finden, da war er sicher. Sonia und ihre Schwarzgekleideten, die ganze Glaubensgemeinschaft – sie alle hatten sich auf und davon gemacht, vielleicht zu verschiedenen Orten, wo sie sich jahrelang verstecken, Kräfte sammeln und Vorbereitungen für den letzten Kampf treffen konnten. Das hätte Loren an ihrer Stelle getan und er war sicher, dass Sonia eine solche Entscheidung getroffen hatte.

Deprimiert legte er sich aufs Bett. Der Kampf, der offenbar nicht stattfinden würde … Er hatte ihn gebraucht. Und Sonia hatte dafür gesorgt, dass er ihn nicht bekam. In einem Moment der Verzweiflung dachte er, dass er sie nie besiegen würde. So verrückt sie auch sein mochte, sie war schlauer als alle anderen und ganz bestimmt schlauer als Loren. Er konnte den Rest seines Lebens damit verbringen, sie zu verfolgen, ohne sie jemals zu erreichen. Bis sie schließlich von ihm erreicht werden wollte, und dann war es zu spät.

Am Nachmittag schwebte die Flotte nur noch etwa hundert Meter über den Gebäuden. Die Kundschafter waren zurückgekehrt und Van Hooten gab ihren Bericht bekannt. Nach Aussage der Stadtbewohner waren die Jansenisten Tage zuvor mit ihren Luftschiffen aufgebrochen und nach Westen geflogen.

Durchs Beobachtungsfenster im Boden blickte Loren auf die Dächer des Herrschaftshauses hinab. Es war niemand da, der Kellys Olivenzweig in Empfang nehmen konnte; in gewisser Weise mussten sie also von einer Ablehnung ausgehen. Er konnte von Van Hooten verlangen, alles in Schutt und Asche zu legen, als Zeichen dafür, welchen Preis man zahlen musste, wenn man Victoria herausforderte. Ein leeres Gebäude niederzubrennen, war nicht unbedingt das, was sich Loren gewünscht hatte, aber es war immer noch besser als gar nichts. Ja, er würde es tun. Von der ganzen Anlage sollten nur Ruinen übrig bleiben.

»Meine Güte, sieht das toll aus.« Myer trat neben ihn ans Beobachtungsfenster. »Sehen Sie sich nur die Dächer an. All die Verzierungen … Ein wahres Meisterwerk. Biltmore, so lautete der Name dieses Herrschaftshauses, das fast wie ein Schloss aussieht.« Er richtete einen fast flehentlichen Blick auf Loren. »Olmstead hat den Park entworfen, Frederick Lay Olmstead. Es war sein letztes großes Werk. Und das Haupthaus … Ich muss wohl nicht viele Worte darüber verlieren, denn Sie haben es von innen gesehen.«

Bin ich so transparent? fragte sich Loren. Konnte selbst Myer erkennen, was ihm durch den Kopf ging?

»Es ist eins dieser Prachtstücke aus der Vergangenheit, die in der modernen Ära ihresgleichen suchen. Es ist unsere Pflicht, sie für die Nachwelt zu erhalten.«

Angewidert und von hilflosem Zorn erfüllt ging Loren fort.

*

Auf dem Rückweg wurden sie von einer aus zehn kleinen Pavillons bestehenden Flotte angegriffen. Es geschah über dem Golf, südlich von New Orleans.

»Himmel«, sagte der Airman am Radarschirm neben Loren. »Sehen Sie sich das an, Captain.«

Loren blickte auf das Display und sah eine Gruppe aus hellen Punkten, die von Westen herankam. Er langte nach dem Mikrofon des Funkgeräts, aber Van Hootens Stimme tönte bereits aus dem Lautsprecher.

»Mögliche feindliche Pavillons in zwei sieben fünf. Entfernung sechzig Kilometer. Kurs halten. Die Resolute hat ihre Linsen gestartet.«

Aber zu spät, dachte Loren. Die Linsen nützten nur dann etwas, wenn sie sich in einer Höhe von mehreren Kilometern befanden, zwischen der Sonne und ihren Zielen. Sie würden Stunden brauchen, um eine solche Höhe zu erreichen. So viel Zeit blieb ihnen auch, wenn Van Hooten entschied, den Angreifern lange genug auszuweichen und sich ihnen erst dann zum Kampf zu stellen, wenn die Linsen einsatzbereit waren. Plötzlich bedauerte Loren, nicht mit mehr Nachdruck auf dem Oberbefehl bestanden zu haben. Ihm war klar, was getan werden musste, aber galt das auch für Van Hooten? Es ging jetzt darum, dass sie schneller wurden und sich vom Feind entfernten; auf keinen Fall durften sie aufsteigen.

»Alle Schiffe beginnen mit Aufstieg auf tausendfünfhundert Meter.«

Loren versuchte, sich seinen Kummer nicht anmerken zu lassen. Er hörte, wie Myer den Befehl weitergab, woraufhin die Ardent zu steigen begann. Dadurch verlor sie Geschwindigkeit und je langsamer sie wurde, desto näher rückte der Zeitpunkt des Gefechts. Neben ihm befahl Rita, die Projektilwaffen zu laden. Die mit Federspannung betriebenen Raketenwerfer waren im Nahkampf sehr wirkungsvoll, mussten nach der ersten Salve aber mit Muskelkraft neu gespannt werden, was umständlich war und lange dauerte. Sie brauchten jetzt vor allem Zeit. Wenn sie genug Zeit bekamen, konnten sie weiter aufsteigen und ihre Hauptwaffe, die Linsen, in Position bringen.

Loren griff nach dem Mikrofon. »Ardent an Resolute

»Wir hören, Ardent

»Bitte um Erlaubnis, den Kurs zu ändern, Sir. Auf eins vier fünf, direkt vor den Wind, für maximale Segelgeschwindigkeit.« Das bringt uns von den Angreifern weg, Admiral, falls Sie das noch nicht bemerkt haben.

Mehrere Sekunden lang blieb das Funkgerät still und dann wies Van Hooten die Flotte an, nach Südosten zu drehen. Jetzt noch der Befehl, die Höhe zu halten, dachte Loren, aber der Lautsprecher schwieg erneut.

»Entfernung?«, fragte er den Radarmann.

»Vierzig Kilometer. Kommen weiter näher.«

»Stellen Sie die Höhe fest.« Bestimmt flogen sie weit oben, dachte Loren. Es bedeutete einen großen Vorteil, über dem Gegner zu sein. Gegen einen Anflug in einer Höhe von drei oder mehr Kilometern sprach nur die Kälte – in ihren offenen Pavillons drohten Sonias Leute zu erfrieren, wenn sie längere Zeit in einer solchen Höhe flogen. Loren war sich dessen während der ganzen Reise bewusst gewesen, aber Van Hooten schien nicht daran gedacht zu haben. Wenn der Feind über Luftschiffe verfügte, mussten die Victoria-Pavillons in maximaler Höhe fliegen, über drei Kilometer hoch. Er spürte, wie die Ardent in den horizontalen Flug überging, aber sie fühlte sich träge an. Beim Steigflug hatte sie die Hälfte ihrer Geschwindigkeit eingebüßt.

»Höhe der feindlichen Schiffe: tausendachthundert Meter.«

»Höhe der feindlichen Schiffe: tausendachthundert Meter«, sprach Loren ins Mikrofon des Licht-Funks. Selbst Van Hooten, der hinter einem Schreibtisch besser aufgehoben war, sollte verstehen, was das bedeutete. Es wäre dumm gewesen, sich einem Feind zum Kampf zu stellen, der einen Höhenvorteil von dreihundert Metern hatte. Die längeren und schnelleren Pavillons von Victoria konnten beschleunigen, die Distanz zum Feind halten und dabei nach und nach aufsteigen, um etwa dreihundert Meter jede Viertelstunde. Es kam nur darauf an, zunächst eine direkte Konfrontation mit den Verfolgern zu vermeiden. Das war natürlich genau das, was der arme Van Hooten nicht wollte. Er wollte umdrehen und kämpfen. Wenn sie den Steigflug mit ihrer gegenwärtigen Geschwindigkeit fortsetzten, konnten sie zwar die Höhe des Feinds von tausendachthundert Metern erreichen, aber auf Kosten praktisch ihrer ganzen Vorwärtsgeschwindigkeit. Der Gegner hätte den Kampf dann mit seinem größeren Bewegungsmoment kontrollieren können. Loren sah zur Uhr an der Wand. Halte dich noch vierzig Minuten zurück, Van Hooten, dachte er. In vierzig Minuten, oder besser noch in einer Stunde, würden sie über dem Feind und Herr der Lage sein. Vielleicht hatten sie bis dahin sogar die Linsen in Position. Loren blickte zur Sonne, die schon recht tief stand. Das war ein weiterer Punkt, den es zu berücksichtigen galt. Die Linsen nützten ihnen nichts mehr, wenn es zu spät wurde. In diesem Fall spielte es kaum eine Rolle, denn Loren rechnete ohnehin nicht damit, dass sie mit den Linsen etwas anfangen konnten.

Er sah erneut auf die Uhr. Noch etwas Geduld, Admiral.

Nach fünfundzwanzig Minuten gab Van Hooten die Anweisung, auf tausendachthundert Meter zu steigen und Vorbereitungen für den Kampf zu treffen. Die Ardent stieg weiter auf und wurde dabei immer träger. Als sie die angegebene Höhe erreichte, war ihre horizontale Bewegung fast auf null gesunken und der Feind kam schnell näher.

»Ich frage mich, womit sie angreifen wollen«, sagte Myer.

Loren hatte sich noch nicht die Zeit genommen, darüber nachzudenken. Natürlich musste der Gegner Waffen haben, denn sonst würde er nicht angreifen. Nun, es würde sich bald herausstellen, worüber er verfügte. Durch die Fenster auf der Steuerbordseite waren die schwarzen Pavillons bereits zu sehen. Rita bereitete sich darauf vor, die Raketen abzufeuern, und die Ardent erzitterte, als sich das erste Geschoss auf den Weg machte. Einen Moment später ging einer der schwarzen Pavillons in Flammen auf.

»Meine Güte, Rita, womit haben Sie geschossen?«

»Es war nur ein Bleiprojektil. Was auch immer dort brennt, es befand sich bereits an Bord.«

»Ein schwarzer Pavillon vor uns«, sagte Myer. Er sprach ruhig. »Kommt direkt auf uns zu.«

Plötzlich begriff Loren, was die Waffe des Gegners war. »Steuermann!«, rief er. »Sturzflug.«

Der Steuermann bewegte den vertikalen Regler; die Ardent verließ ihre Position und sank.

»Hart nach links.« Loren legte dem Steuermann die Hand auf die Schulter. »Noch härter.«

Die Ardent raste nach unten und der schwarze Pavillon nahm die Verfolgung auf, kam auf Kollisionskurs heran.

»Passt auf!«, rief Myer.

Für ein oder zwei Sekunden fragte sich Loren, was man mit einer solchen Anweisung anfangen sollte. Worauf sollte man aufpassen? Dann warf er sich zu Boden und der dunkle Angreifer schmetterte gegen die Seite der Ardent.

Loren war sofort wieder auf den Beinen. Überall lagen Holz, Plastik und Glas, aber die Ardent war noch intakt. Der Angreifer war zu leicht gewesen, um allein mit dem Aufprall schwere Schäden anzurichten. Vom mittleren Bereich des Kontrollraums war ein Teil fortgerissen worden. Das Deck des kleinen schwarzen Fliegers hatte sich auf der einen Seite hineingebohrt, bis hin zur gegenüberliegenden Seite. Es roch stark nach Benzin, aber zum Glück gab es kein Feuer. Loren griff erneut nach dem Mikrofon des Licht-Funks.

»Den Angreifern ausweichen!«, rief er. »Es sind Kamikaze. Sturzflug, Van Hooten. Befehlen Sie der ganzen Flotte den Sturzflug.«

»Was?«

»Nach unten. Hinab zum Meer.«

Die Ardent flog wieder horizontal und wartete auf den Befehl, aber Van Hooten zögerte erneut. Und während er noch überlegte, wurde die Swiftsure getroffen.

Bei allen bisherigen Kämpfen hatte Victoria nicht ein Leben verloren, doch damit war es nun vorbei. Ein schwarzer Pavillon nahm die Swiftsure aufs Korn und traf sie mittschiffs. Das Benzin an Bord des Angreifers ergoss sich auf das Ziel und entflammte, vielleicht durch den Aufprall oder von einem Zünder in Brand gesetzt, der trotz der veränderten Zeit funktionierte. Von einem Augenblick zum anderen stand die Swiftsure lichterloh in Flammen.

»Sturzflug«, sagte Van Hooten.

Jared Williams’ Stimme drang aus dem Lautsprecher. »Hier ist die Superb. Es sind noch vier Angreifer übrig, und sie kreisen. Es wird einige Minuten dauern, bis sie zurückkehren können. Bitte um Erlaubnis, der Swiftsure zu helfen.«

Loren beobachtete, wie weiter oben Besatzungsmitglieder vom brennenden Pavillon sprangen. Die Superb näherte sich von der Seite und manövrierte, um unter die Swiftsure zu gelangen.

»Jared …« Loren sprach ins Mikrofon. »Richten Sie den Bug auf die Angreifer, wenn sie herankommen. Halten Sie die Position so lange wie möglich und gehen Sie dann in den Sturzflug. Sie erreichen die Höchstgeschwindigkeit nach dreißig Sekunden und schneller können die Angreifer nicht werden. Sie haben nichts zu befürchten, wenn Sie mehr als dreißig Sekunden vor dem Eintreffen des Gegners mit dem Manöver beginnen.«

»Verstanden, Loren.«

Noch mehr Besatzungsmitglieder der Swiftsure sprangen und landeten auf der Superb. An Bord der Ardent wies Rita zwei Airmen mit Feuerlöschern an, einen Schaumteppich auf das benzingetränkte Deck zu legen. Der Steuermann befand sich wieder an seinem Posten. »Wenden, Steuermann«, sagte Loren. Er wusste nicht genau, wie viel Segel ihnen geblieben war, aber die Ardent brachte ihren Bug schnell in den Wind und drehte sich. »Segel für Geschwindigkeit. Fliegen Sie unter der Superb hindurch. Wir versuchen, den einen oder anderen Angreifer von ihr abzulenken.« Er sah sie nun, die schwarzen Pavillons, wie sie sich von Osten näherten. »Lieutenant Bentenjew, ist Ihre Projektilwaffe einsatzbereit?«

»Die Kontrollen funktionieren. Weiß der Himmel, ob noch etwas da ist, das abgefeuert werden kann. Vielleicht haben wir die Geschosse bei der Kollision verloren.«

»Erledigen Sie einen der feindlichen Flieger. Wählen Sie einen aus.«

»Ja, Sir.«

Die Ardent erzitterte zweimal, als zwei weitere Raketen starteten. Eine von ihnen traf das Ziel und setzte es in Brand. Zwei der übrigen Angreifer gingen tiefer und hielten auf die Ardent zu. Der Blick des Steuermanns war auf diese beiden Flieger gerichtet.

»Den Kurs halten, Steuermann. Wir gehen erst runter, wenn der Angriff beginnt.« Loren brauchte seine ganze Willenskraft, um ruhig zu sprechen. »Bis es zu spät für sie ist, umzudrehen und die Superb anzugreifen. Auf Kurs bleiben. Und jetzt … Sturzflug!«

Der Bug der Ardent kippte nach unten und sie fiel dem Meer entgegen. Loren wankte zum Heckfenster und hielt nach den schwarzen Fliegern Ausschau – beide folgten und schienen näher zu kommen. Trümmer stürzten an ihnen vorbei. Wind rauschte durch die offenen Fenster der Ardent.

»Höhe?«, rief der Steuermann.

»Meine Instrumente funktionieren nicht mehr«, antwortete der Airman hinter ihm. Er musste fast schreien, um das Heulen des Winds zu übertönen. »Sie sind auf sich allein gestellt.«

»Winkel halten!«, rief Loren und blickte erneut durchs Heckfenster. Die beiden Flieger hinter ihnen kamen weiterhin näher, aber langsamer als vorher, und nach einigen Sekunden schrumpfte die Entfernung nicht mehr. Sowohl die Ardent als auch ihre Verfolger hatten die vom Luftwiderstand bestimmte Höchstgeschwindigkeit erreicht. »Jetzt abfangen, aber vorsichtig, damit wir nicht auseinanderbrechen.« Loren fühlte sich schwerer werden; das Deck unter ihm schien nach oben zu drücken. Es donnerte und krachte, als Trümmer fielen und durch den Kontrollraum rutschten. »Weiter so.« Durch die vorderen Fenster war noch immer nichts anderes zu sehen als blaues Meer – kein Zeichen von einem Horizont. Loren hielt den Atem an, den Blick auf das Blau gerichtet. »Noch etwas mehr.« Das Heulen und Krachen wurde ohrenbetäubend laut.

»Dort«, sagte der Steuermann, als der Streifen des Horizonts in Sicht geriet. »Komm schon, Baby, heb die Nase.«

Loren sah zurück, als die Ardent aus dem Sturzflug kam. Einer der beiden schwarzen Flieger hatte seine Takelage zusammen mit den Segeln verloren und der andere zog einen Schweif aus Trümmern hinter sich her. Beide versuchten, dem Beispiel der Ardent zu folgen und den Sturzflug ebenfalls zu beenden. Einer schaffte es, der andere nicht. Loren beobachtete, wie der zweite schwarze Pavillon zerbrach. Im einen Moment war er ein noch einigermaßen intaktes System aus Holz, Metall, Seilen und Segeln, im nächsten nur noch ein Durcheinander aus Einzelteilen, die in dieselbe Richtung fielen, aber nicht mehr miteinander verbunden waren. In der Trümmerwolke erkannte Loren Menschen. Sein Blick folgte ihnen, als sie zusammen mit den Trümmern fielen und schließlich ins Meer stürzen.

»Wir steigen auf, Steuermann, und lassen den anderen Pavillon unter uns hindurchfliegen. Er hat seine Segel verloren und kann uns nichts mehr anhaben. Gut so. Jetzt in die Horizontale und Höhe halten. Lieutenant, schicken Sie einige bewaffnete Airmen an Bord des feindlichen Fliegers. Wir bleiben darüber, bis er anhält. Der Captain soll zu mir gebracht werden. Ich habe eine Botschaft für ihn.«

*

Commander Myer war nicht mehr da. Unmittelbar vor der Kollision hatte er neben Loren gestanden und dann war er plötzlich weg gewesen. Niemand wusste, was mit ihm passiert war. Es gab keine weiteren Opfer an Bord der Ardent. Jared und die Superb waren mit einigen Überlebenden der Swiftsure entkommen, die sich während des Sturzflugs an Deck festgeklammert hatten. Neun von zehn Angreifern waren zerstört. Der Feind hatte neun kleine Pavillons und etwa zwanzig Mann verloren. Victoria hatte die Swiftsure, eine großen Teil ihrer aus vierzig Personen bestehenden Crew sowie Oliver Myer verloren. Ein klarer Sieg für die Drachenlady.

Lorens Stimmung war gedrückt, als ein junger Mann in schwarzem Caban und schwarzer Hose zu ihm gebracht wurde. Es ärgerte ihn, dass die Begegnung im halb zerstörten Kontrollraum der Ardent stattfinden musste. Die Airmen empfanden ähnlich wie Loren und behandelten den Gefangenen ziemlich grob. Sie stießen ihn auf einen Sitz neben der Flugkonsole. Loren stand und blickte auf ihn hinab.

»Von mir erfahren Sie nichts«, zischte der Mann.

»Aber Sie werden zuhören und mehr verlangen wir gar nicht.«

Der Mann starrte wortlos.

»Ich nehme an, Sie wissen, wo die Lady ist.«

»Ich werde es Ihnen nicht sagen.«

»Ich nehme weiter an, Sie werden zu ihr zurückkehren, nicht wahr?«

»Reine Spekulation.«

»Oh, ich spekuliere gern. Geben Sie ihr dies. Eine Botschaft von Victorias Prinzessin.« Loren reichte ihm einen Umschlag.

Der Mann nahm den Umschlag entgegen, öffnete ihn sofort und zog den Inhalt heraus. Er blinzelte verwundert. »Was ist das?«

»Die Lady wird verstehen.«

Der Mann betrachtete noch einmal den Inhalt des Umschlags: das Foto eines kleinen dunkelhaarigen Mädchens. Darunter stand geschrieben:

»Miss Laura Martine-Duryea, jansenistische Botschafterin und Garant von Victorias Sicherheit, übermittelt ihre Grüße.«

Der Gefangene zuckte die Schultern und steckte das Foto in seine Hemdtasche.

Loren wandte sich an die Airmen, die den Mann zu ihm gebracht hatten. »Werfen Sie einen Ballen Segeltuch und was sonst noch nötig ist auf den Flieger unter uns. Und werfen Sie auch diesen Burschen hinab. Achten Sie darauf, dass er überlebt.«

»Sechs Meter«, sagte einer der Airmen. »Ich denke, dass könnte er überleben. Gerade so.«

Loren schickte sie mit einem angewiderten Wink fort.