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Maria Sonnenschein

Der Mann namens Nehemiah war in St. James erfolgreich gewesen. Die meisten anderen von Rupert Paule entsandten Spione arbeiteten in La Sabana, in der Nähe der Technik, die sie stehlen sollten. Doch Nehemiahs Ziel war nicht technologischer Natur. Er hatte Arbeit im Büro von Rektor Brill gefunden und nahm die dortigen Aufgaben ebenso ernst wie seine Tätigkeit als Spion. Es dauerte nicht lange, bis er das Vertrauen des Rektors gewonnen hatte und sich praktisch um das ganze Büro kümmerte, was ihm nicht nur Zugang zu Informationen aller Art gab, sondern auch großen Bewegungsspielraum.

Eines Morgens führte ihn etwas, das erledigt werden musste, zum Büro des Quästors, was ihm Gelegenheit gab, durch einen langen Flur im obersten Stock des Regierungsgebäudes zu gehen. Er hörte das Klacken von Absätzen und stellte fest, dass ihm eine einzelne Frau entgegenkam. Als sie ins Licht der Fenster kam, wurde ihm plötzlich klar, um wen es sich handelte: um die Prinzessin. Es erstaunte ihn, wie groß und schön sie war, wie elegant selbst in einer einfachen Jeans. Das Haar trug sie hochgesteckt. Er drehte sich um, als sie an ihm vorbeigegangen war, betrachtete ihren Rücken und vor allem den langen Hals. Ich werde sie töten, dachte er. Und es würde einfach sein. Vor dem inneren Auge sah er seine Hände an ihrem Hals und das Bild erregte ihn so sehr, dass er eine Erektion bekam. Doch zuerst musste er sich um seine Mission kümmern, bei der es um etwas anderes ging.

Nehemiah schritt weiter durch den Flur und versuchte, sich wieder zu fassen.

*

Edward Barodin, Meisterarchitekt von St. James, fühlte sich wohl. Er saß Kelly gegenüber in der obersten Etage der Bibliothek von Monterreal. Im Kamin neben ihnen brannte ein kleines Feuer und sie genossen ein Glas kubanischen Brandy nach dem Essen. Loren war sofort nach der Mahlzeit zu Bett gegangen und so blieben Kelly und Edward allein. Edward war mal mitteilsam, mal nachdenklich. »Im Ernst, Kelly, was ich am meisten vermisse, ist der Spaß, den wir zusammen hatten. Nicht Wissenschaft und Forschung. Erst recht nicht die Mathematik. Und Computer habe ich immer gehasst. Aber es hat mir immer gefallen, wenn wir zusammensaßen, ein bisschen scherzten und lachten: du, Loren, Homer, Sonia, Claymore und ich. Es waren schöne Zeiten.«

Kelly nickte verträumt.

»Jetzt habe ich ein Projekt, bei dem ich wirklich ich selbst sein kann. Es begeistert mich so sehr, dass ich mich manchmal wie berauscht fühle. Ich kriege einfach nicht genug davon. Aber manchmal … Manchmal wünsche ich mir, jemanden zu haben, mit dem ich meine Besessenheit teilen kann.«

»Du hast Mr. Pease …«

»Pease ist mein Guru. Ich sitze zu seinen Füßen, Kelly. Er weiß so viel mehr als ich jemals wissen werde. Ich liebe ihn, meinen guten alten D.D. Aber er ist kein Fachkollege. Er ist jetzt das für mich, was Homer früher für mich war: eine Inspiration, ein Berater und jemand, an den ich mich wenden kann, wenn ich nicht weiterweiß. Ich habe also einen neuen Homer. Aber wer mir fehlt, ist Loren.«

»Ausgerechnet Loren?«

»Ja. Er und ich, wir waren wie Kinder, die sich zusammen auf dem großen Spielplatz der Wissenschaft vergnügten und sich in allen Ecken und Winkeln eines Themas umsahen, manche von ihnen so faszinierend wie der Schrank von Narnia. Wie waren unschuldig und von unserer Unschuld entzückt. Wie sehr ich ihn vermisse! Manchmal möchte ich ihn packen und ihm den perfekten Gewölbebogen zeigen, den ich für ein neues Dach geplant habe, oder ein kleines Fenster für ein kleines Zimmer, so hübsch, dass man beim Eintreten lächelt. Aber er sieht sich so etwas an, ohne etwas zu sehen. Unsere Wege haben sich voneinander getrennt und führen in verschiedene Richtungen. Das ist das Traurigste von allem.«

»Lass nicht zu, dass so etwas passiert, Edward! Schüttle ihn. Öffne ihm die Augen. Er möchte sehen, was du ihm zeigst. Ihm liegt ebenso viel an dir wie dir an ihm.«

»O nein, ich glaube, ich habe ihn verloren. Er ist fortgegangen, hat eine schöne Prinzessin geheiratet und eine entzückende Tochter gezeugt. Er kümmert sich um eine ganze Flotte und hat keine Zeit für einen alten Jugendfreund.«

»Das ist dummes Zeug, Edward Barodin. Loren ist dein guter Freund und wird es immer sein. Du solltest nur etwas mehr Zeit mit ihm verbringen.«

»Dafür gibt es kaum Gelegenheit, bei all seinen Verpflichtungen und auch meinen. Wir bekommen uns kaum zu Gesicht und wenn wir uns einmal begegnen, so bei offiziellen Anlässen wie dem Essen heute Abend. Und sieh nur, was dann passiert. Er ist so müde, dass er um halb zehn ins Bett geht.«

»Ich werde eingreifen und euch beide auf eine gemeinsame Mission schicken. Darüber denke ich schon seit einer Woche nach. Ich habe beschlossen, euch nach Europa zu senden.«

»Im Ernst, Kelly: Was die Universitätsgebäude betrifft, habe ich eine Aufgabenliste so lang wie mein Arm …«

»Die Leute kommen auch ohne dich zurecht, Edward, du wirst überrascht sein. Jemand anderer wird vortreten und sich um die Arbeit kümmern, voller Freude über die gute Gelegenheit.«

»Ich behaupte nicht, dass es keine Versuchung für mich wäre, aber ich kann wirklich nicht …«

»Edward! Denk an mich. Welchen Spaß macht es, Prinzessin zu sein, wenn man niemanden herumkommandieren darf? Dies ist ein Befehl. Du wirst mit Loren nach Europa fliegen. Du musst. Oder ich schicke dich zum Scharfrichter. Ich bin eine sehr launische Prinzessin und kriege Wutanfälle, wenn ich nicht meinen Willen bekomme.«

»Oh, das lässt natürlich alles in einem ganz anderen Licht erscheinen. Ich wusste gar nicht, dass du einen Scharfrichter hast.«

»Dutzende.«

*

Im Jahr zuvor hatte Victoria Kontakt mit der französischen Regierung aufgenommen und den Grundstein für Handelsbeziehungen gelegt. Die Franzosen brauchten Transportmittel für ihre Waren, doch mehr als alles andere erhofften sie sich die Möglichkeit, eigene Luftschiffe zu bauen. Der Rat beschloss, das Pavillon-Monopol wenigstens fünf weitere Jahre zu behalten und die Technologie anschließend relativ stabilen Gesellschaften zur Verfügung zu stellen. Die Franzosen schienen dafür infrage zu kommen. Es wurden Botschafter mit Paris ausgetauscht.

Kellys Motive, die Ardent nach Frankreich und dann nach Spanien zu schicken, hatten kaum etwas mit internationalen Beziehungen und weitaus mehr mit der Festigung von Lorens und Edwards Freundschaft zu tun. Vor allem aber diente die Reise dazu, Loren zu seiner Familie zu bringen. Es war Kelly ein Rätsel, warum er sich nicht längst auf den Weg nach Alba de Tormes gemacht hatte, wo seine Schwestern lebten, warum er nicht einmal eine Nachricht geschickt hatte. Wenn er von seiner Familie sprach, steckten seine Worte immer voller Liebe, doch er schien es nicht eilig zu haben, sie wiederzusehen. Er meinte immer wieder, bestimmt seien alle sicher. Kelly vermutete, dass er Zweifel hatte und befürchtete, dass die Wirklichkeit ganz anders aussah.

Immer wieder sprach sie ihn darauf an, auf ihre fröhliche, aber nicht zu beirrende Art: »Es ist auch meine Familie, Loren. Und ich habe so wenige Verwandte.« Und so erklärte er sich schließlich zu der Reise bereit.

Im Morgengrauen vor dem Abflug der Ardent zog Loren Kelly aus dem Bett und stellte sie schläfrig und nackt vor den großen Spiegel. Er schlang die Arme um sie und bewunderte ihr Spiegelbild. »Ein perfektes menschliches Wesen«, sagte er. »Perfekt, exquisit, wunderschön, sexy und herrlich, vor allem aber perfekt.«

Sie gähnte. »Bin ein bisschen flach«, sagte sie.

»Kelly! Davon verstehst du nichts. Du bist perfekt.«

»Ich finde nur, dass ich hier oben etwas mehr gebrauchen könnte.«

»Nein.«

»Einen schönen großen Busen … wie Sonia.«

»Nein. Wenn man etwas Perfektes ändert, wird es unvollkommen.«

»Ich bin immer eifersüchtig auf sie gewesen und dachte, man sähe es mir deutlich an. Sie war all das, was ich immer sein wollte: gebildet, schön, anmutig, elegant, eine hervorragende Schauspielerin. Und sie hatte eine atemberaubende Figur. Es schien einfach nicht gerecht zu sein. Sie hatte alles.«

Loren drehte sie, zog sie an sich, küsste sie auf Wangen, Stirn und Lider und sagte: »Meine Kelly, meine einzige Liebe. Gibt es etwas, das du nicht für mich bist? Geliebte, Besessenheit, Porno-Prinzessin, Mutter meiner wunderschönen Tochter, Oberhaupt einer großen Nation, Symbol für alles, das uns wichtig ist …«

Sie sah ihn ernst an. »Wie sind deine Schwestern, Loren?«

»Was?«

»Wie sind sie als Frauen?«

»Ich weiß nicht.« Er wandte den Blick ab. »Ich schätze, du wirst sie eines Tages kennenlernen.«

»Bring eine von ihnen hierher, wenn sie möchte, Loren. Wenn es in ihr Leben passt und wenn sie zu einem Besuch bei uns bereit ist. Ich habe das Gefühl, dass es jetzt auch meine Schwestern sind, aber ich kenne sie gar nicht. Ich könnte eine Schwester gebrauchen. Erfüllst du mir diesen Wunsch, Loren?«

»Ja, natürlich. Wenn eine von ihnen mitkommen möchte. Doch das bezweifle ich. Wahrscheinlich sind sie alle verheiratet und dicke alte Mütter.«

Kelly wusste, welche ihm am wichtigsten war. »Bringst du Chlotide mit? Bittest du sie, dich hierher zu begleiten, damit ich Gelegenheit habe, sie kennenzulernen, Loren?«

»Ja. Ich bin sicher, dass sie nicht mitkommen kann, aber ich werde sie fragen.«

*

Edward war noch nie auf einem der neuen großen Kampfpavillons gewesen. Der Luxus des Gästequartiers an Bord der Ardent erstaunte ihn ebenso wie die allgemeine Eleganz. Durch das Fenster seiner Kabine auf dem Oberdeck sah er das aufgewühlte Meer einige Dutzend Meter weiter unten. Eine schmale Inselkette verschwand am südlichen Horizont: die Inseln unter dem Winde, wie er vermutete. Ganz sicher war er nicht, denn es geschah zum ersten Mal, dass er so weit nach Osten flog. In den letzten beiden Jahren hatte er Victoria überhaupt nicht verlassen. Die lange goldene und weiße Fahne Victorias wehte am horizontalen Mast, der direkt hinter der Kabine aus der Steuerbordseite ragte. Er beobachtete, wie die Fahne eingeholt wurde und in ihrem Gehäuse verschwand. Die Sonne stand niedrig am Himmel hinter ihnen, berührte gerade den Horizont. In ihrem Licht sah Edward sein Spiegelbild in der Mahagoni-Verzierung am Rand des Fensters.

Er drehte sich zum Spiegel um und fuhr damit fort, sich anzuziehen. Zu den Vorbereitungen dieser Reise hatte der Erwerb mehrerer neuer Anzüge, Hemden, Schuhe, Krawatten und sogar eines Huts gehört. Nur bei der Heirat von Loren und Kelly hatte sich Edward jemals so herausgeputzt. Die neue Kleidung war nicht nur für Paris und Spanien bestimmt, sondern auch für die Abendessen an Bord, die recht formell sein sollten, wie er gehört hatte.

Das erste Abendessen war eine private Angelegenheit in der Suite des Captains. Edward fragte sich voller Neugier, wie sie beschaffen sein mochte. Angesichts der überall präsenten Dekorationen und Veredelungen nahm er an, dass das Quartier des Captains üppig ausgestattet war. Auf dem Weg dorthin ging Edward die breite Treppe zum Hauptsalon hinab und vermied es, zum großen, von einem Geländer umgebenen Bodenfenster zu blicken. Es sah nach einem Loch aus, ein Eindruck, der ihm Unbehagen bescherte. Vom Salon aus führte ein Flur nach achtern, mit Offizierskabinen zu beiden Seiten, und am Ende dieses Flurs befand sich die Suite des Captains. Edward erreichte eine geschlossene weiße Tür, vor der zwei Besatzungsmitglieder Wache hielten, eines von ihnen eine Frau. Er nickte ihnen freundlich zu. »’n Abend.«

»Dr. Barodin«, sagte der Mann. »Guten Abend, Sir.«

Die beiden Wächter öffneten die Doppeltür für ihn und was sich dahinter befand, sah nach einem Foyer mit Bücherschränken auf beiden Seiten aus. Ein Kadett in Galauniform eilte ihm entgegen. »Dr. Barodin«, grüßte er und führte Edward zwei Stufen hinunter in den Hauptraum, der das ganze Heck des Fliegers beanspruchte. Die gewölbte Rückwand wies mehrere längs unterteilte Fenster auf, die Blick auf die in der Ferne verschwindenden Inseln boten. Der Raum war sehr großzügig bemessen, vergleichbar mit dem Wohnzimmer eines großen Luxusapartments. Ein Dutzend Personen hatten sich eingefunden. Loren winkte von einem grauen Diwan, wo er einem älteren Paar gegenübersaß. Schwarz, Weiß und Grau bestimmten die Einrichtung des Raums – die Offiziere in ihren weißen Uniformen passten gut in diese Umgebung. Der Kadett führte Edward herum und stellte ihn den Anwesenden vor.

»Unser Arzt, Dr. Bolen. Ich glaube, Sie kennen ihn bereits.«

»Steven.«

»Hallo, Edward. Freut mich, dass Sie bei uns sind. Bitte werden Sie nicht krank. Ich stelle mir dies gern als Urlaub vor und beabsichtige, während der Reise nach Paris vor allem zu schlafen.«

Anschließend präsentierte der Kadett zwei Offiziere. »Dr. Barodin, dies sind Commander Myer, der stellvertretende Kommandant, und Lieutenant Bentenjew.«

Edward schüttelte dem Commander die Hand und wandte sich dann Lieutenant Bentenjew zu, einer Frau fast ebenso groß wie er, mit weißblondem Haar und hellblauen Augen. Sie trug keine Uniform, sondern ein Abendkleid, und schenkte ihm ein schelmisches Lächeln. Er deutete eine Verbeugung an und gab ihr einen festen Händedruck. »Lieutenant.«

»Rita.«

»Äh, Edward.«

»Ich weiß. Dies ist Oliver Myer«, sagte sie und deutete auf den anderen Offizier. Dann kehrte ihr Blick zu Edward zurück. »Auf der Ardent kursiert das Gerücht, dass Sie sich die Belle-Époque-Architektur in Paris ansehen wollen, mit der Absicht, sich von den Fassaden für die Universität inspirieren zu lassen.« Rita Bentenjew lächelte bei ihren Worten, zeigte perfekte Zähne. Sie beugte sich vor und legte Edward die Hand auf den Arm. »Wären Sie bereit, eine interessierte Amateurin mitzunehmen? Wenn sie die Skizzenblöcke für Sie trägt?«

Edward hätte es nie für möglich gehalten, dass ein Lieutenant so gut riechen konnte.

»Interessieren Sie sich für Architektur, Lieutenant?«

»O ja. Zumindest für die Architektur von Paris. Und die von St. James.«

»Dann müssen Sie mich begleiten«, sagte Edward.

Rita Bentenjew blieb an seiner Seite, als er den übrigen Gästen vorgestellt wurde, unter ihnen der französische Botschafter und seine Frau, die von einem Besuch in Victoria heimkehrten. Als er seinen Platz am Tisch fand, stellte er fest, dass das Gedeck neben ihm für Rita reserviert war.

Während des Essens sprach Loren davon, dass er großen Respekt vor dem Ermessen und der Tüchtigkeit eines gewissen jungen Lieutenants habe, und Edward ahnte, dass alles für ihn vorbereitet worden war – vielleicht sollte er verkuppelt werden. Was musste sein Freund von ihm denken, nach all den Jahren ohne Frau? Vielleicht hielt Loren ihn für schwul oder asexuell, was beides nicht stimmte. Wenn Loren tatsächlich so etwas vermutete, stellte die hübsche Offizierin in ihrem blauen Chiffon­kleid vielleicht eine Art Feuerprobe dar. Sie hatte ein tiefes, erotisches Lachen, das einen erschauern und nach Worten suchen ließ, die Rita erneut zum Lachen brachten. Edward merkte, wie er dumm lächelte, bereits halb von ihr verzaubert. Am Ende der Mahlzeit wusste er, dass sie zur einen Hälfte Russin und zur anderen Finnin war, dass sie in Yale bildende Künste studiert hatte und nicht gebunden war. Das alles sagte sie ihm direkt. Die indirekte Botschaft war sowohl stärker als auch subtiler. Sie hing in der Luft zwischen ihnen, zusammen mit ihrem Duft.

Am Ende des Abends begleitete ihn Rita bis zum Hauptsalon, bevor sie durch den Offiziersflur zu ihrer Kabine zurückkehrte. Als sie sich eine gute Nacht wünschten, blieb Edward darauf konzentriert, nicht zum Boden­fenster zu schauen, das nachts noch beunruhigender wirkte. Er ging die Treppe hoch, den Blick starr nach vorn gerichtet. Aber anschließend, als er sich die Zähne putzte und auszog, waren seine Gedanken wieder bei Rita. Wie schön und sympathisch sie doch war. Er hoffte, dass sie bald den Mann fand, der alles für sie sein konnte, was sie sich wünschte.

*

Nach vier Tagen in Paris segelte die Ardent nachts über den offenen Atlan­tik und wandte sich dann nach Süden, in den Golf von Biscaya. Am Morgen erreichte sie die portugiesische Stadt Oporto. Direkt dahinter mündete der Duero ins Meer. Loren wies den Steuermann an, dem Flusstal nach Osten ins Landesinnere zu folgen. Der Juniwind über dem warmen Land war unbeständig und wehte manchmal gar nicht. In größerer Höhe gab es vermutlich zuverlässigere Winde, aber bei der gegenwärtigen Geschwindigkeit hätte der Aufstieg in große Höhen eine Ewigkeit gedauert. Loren gab sich damit zufrieden, langsam durchs Tal zu schweben, während er im vorderen Kontrollraum frühstückte. Am späten Vormittag überflogen sie die spanische Grenze und erreichten den Tormes.

Edward kam zu ihm, als sie sich Lorens Heimatort näherten. Die gelben Mauern von Salamanca zeigten sich windwärts. Loren deutete für Edward auf die Sehenswürdigkeiten der Stadt.

»Verlang bloß nicht von mir, dass ich Tintenfisch esse, Loren.«

»Du wirst ihn probieren und dir mehr davon wünschen. Tintenfisch in seiner eigenen Tinte …«

»Igitt.«

»… von meiner Schwester Celuza zubereitet. Sie ist sehr stolz auf ihren Pulpo en su tinta. Natürlich willst du nicht ihre Gefühle verletzen, weil sie so nett und liebenswürdig und empfindsam ist, und deshalb isst du auch noch eine zweite Portion und vielleicht eine dritte obendrein.«

»Meine Güte. Ich fürchte, darauf läuft es hinaus.«

»Und meine Tante ist für ihre Aale bekannt, kleine Aale, in Öl und Knoblauch sautiert. Sie zischen auf dem Teller, wenn man sie isst, und man könnte meinen, dass sie noch leben.«

»Lieber Himmel.«

Edward spürte, wie sich Lorens Hand um seinen Arm schloss. »Oh, Edward, da ist es.« Loren zeigte auf ein weiß getünchtes Gebäude am Fluss.

»Welch ein herrlicher Flecken Erde. Er ist genau so, wie du ihn beschrieben hast.« Edward bemerkte, dass Loren blass geworden war. Er legte ihm den Arm um die Schultern. »Es ist alles in Ordnung mit deinen Schwestern, mit jeder einzelnen von ihnen. Du wirst sehen.«

»Ja.«

Loren deutete zu den roten Hügeln, die sich hinter dem Dorf erhoben, und die Ardent änderte den Kurs und wurde noch langsamer. Kurze Zeit später verharrte sie etwa neun Meter über dem Boden. Der Aufzug brachte sie nach unten und als sie ihn verließen, sahen sie Kinder und Hunde, die über den Hang auf sie zuliefen. Einige Erwachsene folgten nicht weit dahinter. Bevor das von lautem Gebell begleitete Willkommenskomitee eintraf, war der Aufzug wieder oben und die Ardent kreuzte gegen den Wind, kehrte ins Zentrum des Tals zurück. Sie wollte den Rest des Tages über dem hügeligen Land verbringen und anschließend im Schutz der Dunkelheit mehr als dreihundert Kilometer weit nach Madrid fliegen. Loren hatte Anweisung gegeben, eine kleine Gruppe von Leuten, die Spanisch sprachen, in Madrid abzusetzen – sie sollten die dortige Lage sondieren. Es war vorgesehen, dass die Ardent in genau sieben Tagen nach Alba de Tormes zurückkehrte.

Die Kinder wahrten sicheren Abstand, bis die Erwachsenen zu ihnen aufschlossen, und näherten sich dann zusammen mit ihnen. Edwards Spanisch war ein bisschen eingerostet, aber er glaubte, die ersten Worte zu verstehen. Sie lauteten. »Es ist der Martine-Junge, stellt schon wieder Unfug an.« Sprecherin war eine alte Frau, die ein braunes Schultertuch und ein Kopftuch trug. Loren ergriff ihre Hand und küsste die Rückseite.

»Tia Juana, so gesund wie damals, als ich ein Junge war, und nicht dünner.«

Mit der freien Hand zwickte sie seine Wange.

»Was ist mit meinen Schwestern, Juana?«

»Sind alle bei guter Gesundheit und in guter Stimmung, was sie keineswegs ihrem Tunichtgut von Bruder verdanken. Und wer ist dieser große Mann mit dem Haar so lang wie das eines Mädchens?«

»Mein Freund Eduardo. Dies ist Señora Iguarda, Edward. Sie war Zahlmeisterin in der Mühle meines Onkels.« Loren sagte es auf Spanisch.

Edward fühlte sich ein wenig hilflos und fragte sich, wo er das Wörterbuch verstaut hatte. Die Señora reichte ihm die Hand und er beugte sich tiefer als Loren darüber. Sollte er den Handrücken wirklich küssen oder nur mit den Lippen berühren? Ein Fehler ließ ihn vielleicht wie einen Tölpel dastehen. Er entschied sich, die Hand tatsächlich zu küssen, und offenbar fand Tia Juana nichts daran auszusetzen.

Sie hatten Reisetaschen zu tragen und gingen deshalb langsam über den Hang. Die Kinder eilten mit der Nachricht ihrer Ankunft voraus und mit dem Hinweis, dass sich Loren Martine unter den Besuchern befand, die mit einem fliegenden Schiff unter silbernen Segeln gekommen waren. Als sie sich den Häusern näherten, bemerkte Edward eine junge Frau mit schwarzem Haar, die ihnen eilig entgegenlief. Ihr offener weißer Kittel wehte wie eine Fahne hinter ihr. Sie lief auch dann noch, als sie den Hügel erreichte und es nach oben ging. Aus dem Augenwinkel sah Edward, wie Loren neben ihm seine beiden Reisetaschen losließ. Aus einer Entfernung von fast zwei Metern sprang die Frau, landete in seinen Armen und warf ihn fast zu Boden. Sie küsste ihn erst auf den Mund und dann überall im Gesicht, sagte immer wieder »Lorentino«. Als Loren sie schließlich absetzte, war Loren sprachlos und brachte keinen Ton hervor. Die Frau wandte sich an Edward, wischte sich Tränen von der Wange, streckte die Hand aus und sagte in gutem Englisch: »Ich bin Chlotide.«

»Das dachte ich mir«, sagte Edward und nahm die Hand. Die Frau lächelte, den anderen Arm noch immer um Loren geschlungen. »Es ist mir eine große Freude …« Und dann unterbrach er sich, als er die Ähnlichkeit bemerkte. Chlotide ähnelte Sonia so sehr, dass sie Zwillinge hätten sein können: dunkle Haut, das zart wirkende Gesicht, die Figur, etwa die gleiche Größe. Auch diese Frau hatte das Haar hinter die Ohren geschoben und es war ebenso lang wie Sonias, als Edward sie zum letzten Mal gesehen hatte. Loren wusste offenbar, was seinem Freund durch den Kopf ging, denn er wandte den Blick ab. Nur der Gesichtsausdruck war anders. Chlotide steckte voller Sinnlichkeit und Fröhlichkeit, ganz anders als Sonia, die immer zurückhaltend gewesen war. »… hier zu sein«, beendete Edward den begonnenen Satz.

Chlotide lachte, trotz der Tränen, die ihr jetzt wieder über die Wangen rannen. Dann zog sie Loren zu sich und küsste ihn erneut. Vorn steckte ein Stethoskop in der Tasche ihres weißen Kittels. Sie war Ärztin, hatte Edward früher gehört.

Schließlich fand Loren die Stimme wieder. »Das ist mein großer Freund Eduardo«, sagte er. »Eduardo Barodin, Chlotide Martine.«

»Oh, ein großer Freund. Nun, in dem Fall …« Sie bot ihre Lippen Eduard an, der sich beugte, sie küsste und ihr dabei in die Augen sah.

»Er sieht sehr gut aus, dein Eduardo. Vielleicht könnte er eine deiner Schwestern heiraten … Oh, er ist doch nicht verheiratet, oder?«

»Nein. Welche Schwester sollen wir für ihn auswählen? Vielleicht Celuza?«

»Celuza hat einen Freund.«

Es standen noch immer Kinder um sie herum. Chlotide nahm zwei Jungen, zerzauste ihnen das Haar und belud sie dann mit dem Gepäck. »Behaltet diese beiden im Auge«, sagte sie über die Schulter hinweg und auf Spanisch zu Loren und Edward. »Es sind Diaz-Jungen, zwei richtige Schlingel. Wahrscheinlich enden eure Reisetaschen im Fluss.« Dann nahm sie Loren am einen Arm und Edward am anderen und führte sie hinunter zur Mühle.

Kurze Zeit später hatte Edward Sierpa, ihren Mann Alberto und die beiden Söhne kennengelernt. Beim Mittagessen eine Stunde später begegnete er Asunción und den Babys der Familie, Ana-Lucia und Sanchy, inzwischen vierzehn und siebzehn Jahre alt. Vor dem Abendessen versammelten sie sich auf der Terrasse auf dem Fluss, tranken Vino tinto und aßen Tapas. Bei dieser Gelegenheit traf Edward Celuza und ihren Freund Juan. Er versuchte, den Überblick zu behalten – bisher waren ihm sechs von Lorens Schwestern bekannt. Kurz bevor sie zum Abendessen Platz nahmen, stellte man ihn Maria del Sol vor und in dem Moment geschah etwas, das er für unmöglich gehalten hatte: Er verliebte sich.

*

Maria del Sol war das größte der Martine-Mädchen, sogar die Größte in der ganzen Familie. Sie war groß genug, um ihm auf gleicher Höhe in die Augen zu sehen und genau das machte sie, wobei ihr zu gefallen schien, was sie sah. Zwar sprach sie nicht darüber, aber ihre Schwestern wussten, was sie dachte. Loren bekam das alles natürlich nicht mit.

Sie war neunundzwanzig und damit ein Jahr älter als Loren. Nach einem weiterführenden Studium der Anthropologie war sie Professorin dieses Fachgebiets geworden. Zwar befasste sich die Anthropologie in erster Linie mit dem Menschen, aber MariSols Interesse galt mehr den Vögeln und anderen Tieren, den Nachbarn des Menschen auf der Erde. Sie war Naturalistin. Wenn sie in der Universität keine Vorlesungen hielt und nicht mit der Familie beschäftigt war, verbrachte sie ihre Zeit in den Hügeln und Bergen, beobachtete und zeichnete jedes lebende Geschöpf, das sie entdeckte. Ihre Zeichnungen waren wundervoll: mit Bleistift angefertigte Skizzen, später mit bunter Tusche ausgemalt. Die Universität hatte ein Buch mit ihren Illustrationen und Beschreibungen des Lebens in den Bergen herausgebracht.

»Wir gehen heute Nachmittag nach meiner Rückkehr auf die Jagd«, teilte sie Edward am zweiten Morgen mit. »Wir werden schrecklich spät fürs Abendessen sein. Gefällt dir die Jagd?«

»Ich glaube, sie wird mir gefallen, wenn du möchtest, dass sie mir gefällt.«

»Das möchte ich wirklich. Wir jagen ohne Waffen, nur mit unseren Händen.«

»Oh.«

Als sie an jenem Nachmittag in den Bergen unterwegs waren, erklärte MariSol die Regeln der Jagd: »Unsere Beute ist der Falke, der die kleinen Erdhörnchen tötet. Ich mag die Erdhörnchen. Sie gefallen mir mehr als die Falken. Das ist unfair, ich weiß, aber so ist das nun einmal. Also jagen wir Falken.«

»Mit bloßen Händen.«

»Nur mit den Händen. Ich werde es dir zeigen.«

Sie mussten zu den Höhlen der Erdhörnchen kriechen, auf dem Bauch liegend und ohne einen Laut. Edward beobachtete ein Weibchen mit zwei Jungen aus einer Entfernung von nur zehn Metern – nie zuvor war er einem echten Wildtier so nahe gekommen. Fasziniert sah er zu, wie das Weibchen die Jungen putzte. Es war ein so sanftes, liebevolles Bild, dass er verstand, warum Maria del Sol diese Seite gewählt hatte. Er schaute zu ihr und sie drehte demonstrativ die Augen nach oben. Ganz langsam hob Edward den Kopf und sah den Falken, der dort am Himmel kreiste, genau über dem Weibchen mit den beiden Jungen. MariSols Lippen formten die Worte: »Ich zeige es dir.« Der Falke war so groß wie ein kleiner Adler, wirkte ebenso entschlossen wie gefährlich. Sorge regte sich in Edward. Der Vogel hatte es ganz offensichtlich auf die Erdhörnchen abgesehen.

Plötzlich fiel der Falke und wurde im Sturzflug immer schneller. Als er die Erdhörnchen fast erreicht hatte, sprang Maria del Sol auf, hielt die Hand wie eine Pistole und rief: »Peng! Peng! Peng!« Dann sank sie auf den Boden zurück und lachte, als der Falke mit einem Schrei fortflog.

Edward stand blass da und brauchte einen Moment, bis er begriff, dass sie ihn gefoppt hatte. »Auf diese Weise jagst du mit bloßen Händen?«

»Ja«, lachte sie. »Was hältst du davon?«

»Ich weiß nicht recht.«

Sie setzten ihre Wanderung durch die Berglandschaft fort, bis die Sonne dem Horizont entgegensank. Sie machten sich auch dann noch nicht auf den Rückweg, als der Sonnenuntergang unmittelbar bevorstand. MariSol meinte, dies sei eine besonders interessante Zeit für die Beobachtung von Tieren. Edward folgte ihr durch eine schmale Schlucht und hinunter zu einer kleinen grünen Wiese neben einem Bach. Im niedrigen Gestrüpp am Rand der Wiese hielten sie inne.

»Jetzt musst du ganz still sein, vielleicht für lange Zeit«, sagte MariSol. Sie legte sich auf den Rücken und schaute zu den Bergen in der Ferne, die bereits die Farben des beginnenden Abends trugen. Ihr Blick schien ins Leere zu gehen. Edward sah zum Bach, wo vermutlich irgendwann Tiere erscheinen würden, um zu trinken. Als er sich wieder MariSol zu­wandte, waren ihre Augen geschlossen und das Gesicht wirkte wie im Schlaf entspannt. Aber Edward glaubte, dass sie noch wach war. Er bedauerte plötzlich, sein Skizzenbuch nicht mitgebracht zu haben. Dies wäre eine gute Gelegenheit gewesen, nicht etwa Tiere zu malen, sondern die Frau an seiner Seite. Sie hatte hohe Wangenknochen, fast wie eine amerikanische Indianerin, und langes kastanienfarbenes Haar mit roten und beinahe rotblauen Tönen. Die Finger ihrer auf der Brust gefalteten Hände waren sehr lang. Diese Hände, dachte er, hätte er zuerst gezeichnet. Die Wimpern lagen flach auf den Wangen, ein dunkles Braun auf dem etwas helleren Braun der Haut. Die Wangen hatten etwas Erstaunliches, etwas, das ihm schon vorher aufgefallen war, ohne dass er es benennen konnte: die Abwesenheit von Schatten oder Ringen unter den Augen. Sie schien jede Nacht tief und fest zu schlafen und jeden Morgen vollkommen erfrischt zu erwachen. Das Gesicht dieser Frau zeigte nicht einen Hauch von Anspannung. Nie zuvor hatte Edward einen friedlicheren Menschen gesehen.

Offenbar gab es ein Geräusch. Edward hörte nichts, aber MariSol öffnete die Augen. Sie blickte nicht zum Bach, rollte sich stattdessen auf die Seite und flüsterte ihm auf Spanisch ins Ohr: »Sieh jetzt zum Wasser, unten beim toten Baum.«

Edward hob den Blick, hielt Ausschau und fühlte dabei überdeutlich den warmen Atem am Ohr. Am Ufer des Bachs bemerkte er ein Tier so groß wie ein Terrier, aber niedriger und mit dichtem Fell. Nachdem das Geschöpf getrunken hatte, setzte es sich auf die Hinterläufe und sah sich um. Edward konnte es recht deutlich erkennen: schwarz, mit einem weißen Streifen, der von der breiten Schnauze ausging, zwischen den Ohren hindurchreichte und über den ganzen Rücken lief. Das Tier wirkte irgendwie vertraut.

»Ein Tejón«, sagte MariSol. »Ein Dachs.«

Sie beobachteten den Dachs, bis er sich schließlich auf und davon machte. Maria del Sol meinte, dass es sich um ein Männchen handelte, etwa fünf Jahre alt.

Die lange Dämmerung gab ihnen etwas mehr Zeit. MariSol führte Edward zurück durch die kleine Schlucht und zu einigen Kiefern auf einem kleinen Plateau. Dort fiel ihr etwas auf und sie bedeutete ihm, leise näher zu kommen. Vorsichtig hob sie einen großen Zweig an und darunter erschien ein kleiner Hase, der mit einer Mischung aus Furcht und Hoffnung zu ihnen hochsah. MariSol ließ den Zweig wieder sinken und führte Edward weiter, zu einem Felsvorsprung hinter den Kiefern, der einen guten Blick auf den Tormes und den Ort Alba bot. Der Felsvorsprung war gerade groß genug, dass sie nebeneinander sitzen konnten. MariSol hielt Edward fest, bis er sicher saß. Vor ihnen ging es steil dreißig Meter in die Tiefe.

Er fühlte ihre Wärme dort, wo sie sich berührten, an Schulter, Arm, Hüfte und Bein. Mit einem kleinen Lächeln wandte sie sich ihm zu und sagte nichts. Ihre Augen waren groß und klar.

»Weißt du, welche Nacht dies ist?«, fragte er sie.

»Oh, ja. Deshalb fühle ich mich so wundervoll.«

»Heute ist der 21. Juni. Dies ist die Nacht der Sonnenwende.«

»Ja.«

Edward streckte die Hand nach oben, zu einem Moosfladen mit einer kleinen Blume in der Mitte. Er pflückte die blaue Blume, die nicht größer war als ein Streichholzkopf.

»Darf ich dir dieses kleine Geschenk geben, Maria Sonnenschein? Für die Mittsommernacht?«

»Ja, danke.« Sie nahm die Blume würdevoll entgegen. »Ich werde sie in der Nähe meines Herzens tragen.« Sie legte die kleine Blume auf die Spitze ihrer Zunge und schluckte. »Ganz nahe.«

»Dies ist meine erste Mittsommernacht«, sagte Edward. »An die anderen erinnere ich mich nicht und diese werde ich nicht vergessen.«

MariSol blickte lächelnd übers Tal. Nach einem Moment hakte sie sich bei ihm ein. »Mein kleines Geschenk für diese Mittsommernacht ist ein Kuss.« Sie beugte sich zu ihm und sah ihm in die Augen, als sie sich küssten. Und dann sanken ihre Lider, als sie sich ganz dem Kuss hingab.

»Jetzt müssen wir uns sputen«, sagte sie anschließend. »Denn selbst am Mittsommerabend wird es schließlich dunkel und wir haben einen weiten Weg vor uns.«

*

Jeden Abend nach dem Essen wurde gesungen. Für Asunción war Musik die wichtigste Ergänzung der schulischen Bildung. Sie meinte, die Schulen brächten junge Menschen hervor, die sich mit Sprache, Wissenschaft, Mathematik und Literatur auskannten, in musikalischer Hinsicht aber völlige Ignoranten waren. Also sangen sie jeden Abend, in so vielen verschiedenen Stimmen wie es Personen gab. Auch Edward musste singen; die strenge Asunción ließ keine Ausnahmen zu.

Bei einem Lied, einem Liebeslied, sang Celuza den Teil der jungen Frau und der Chor schlüpfte in die Rolle des Geliebten. Celuzas Stimme war die höchste und reinste von allen und sie stand auf, um ihren Teil des Lieds zu singen. Als sie sang, sah Juan Navarro zu ihr auf und seine Augen schienen zu schmelzen. Seine Liebe war so offensichtlich, dass Sanchy schließlich den Kopf zu ihm beugte und voller Schalk sagte:

»Halte durch, junger Mann! Wenn du jetzt nachgibst, musst du dich der Feuerprobe stellen.« Und dann lachte sie zusammen mit dem Rest der Familie.

Nur Juan und Edward lachten nicht. Juan lief vor Verlegenheit rot an und Edward war einfach nur verwirrt. »Das musst du mir erklären«, wandte er sich an Asunción.

»Oh, ja, ich glaube, du solltest Bescheid wissen«, erwiderte sie. Edward verstand nicht, warum das die allgemeine Heiterkeit fördern sollte, doch offenbar war es der Fall. Insbesondere Sanchy und Ana-Lucia prusteten laut. »In der Region von Salamanca«, fuhr Asunción fort, »gibt es ein Gesetz, das Heiraten regelt. Nach diesem Gesetz kann kein Mann heiraten, ohne sich zuerst gründlich vom Arzt seines Wohnorts untersuchen zu lassen. Es ist eine sehr gründliche Untersuchung.«

Juan errötete noch mehr, sofern das überhaupt möglich war, und Edward war noch immer verwirrt. »Das scheint durchaus vernünftig zu sein …«

»Ja, es ist vernünftig. Wir sprechen von ›Feuerprobe‹, weil der Arzt in Alba Dr. Chlotide Martine ist.«

»Oh.«

»Eins unserer Mädchen zu heiraten, ist keine leichte Sache«, sagte Chlotide. »Denn der Arzt von Alba nimmt seine Aufgabe sehr ernst.« Sie lächelte und sah Edward direkt an. »Die Untersuchung ist die Feuer­probe.«

Edward lachte ein wenig unsicher mit den anderen und vielleicht errötete auch er ein bisschen.

An den meisten Abenden blieben sie nach dem Essen am Tisch sitzen, erzählten sich Geschichten und standen erst auf, wenn jemand so müde wurde, dass er oder sie schlafen gehen musste. Die Geschichten, an denen die Familie Martine besonderes Interesse zeigte, betrafen Victoria. Die Kunde von der jungen Nation in der Karibik – und insbesondere ihrer Prinzessin – übte auf die jungen Frauen der Familie Martine großen Reiz aus.

Als alle Geschichten erzählt waren, die Loren und Edward einfielen, baten die Mädchen darum, die besten noch einmal zu erzählen. »Erzähl uns noch einmal, wie die Prinzessin mit dem Schwert in der Hand aufs Deck des feindlichen Schiffs gesprungen ist, Lorentino«, bettelte Sanchy. Und dann erzählte Loren noch einmal die Geschichte von der Schlacht im Bahama Channel, wie die blutüberströmte Kelly versuchte hatte, den Kanister mit dem Nervengas über Bord zu stoßen. Als er fertig war, saßen seine sieben Schwestern still und mit in die Ferne gerichtetem Blick da: Jede schien sich vorzustellen, mit der Machete in der Hand einem Feind gegenüberzutreten.

»Ist sie wirklich so schön, die Prinzessin?«, fragte Ana-Lucia mit großen Augen. Sie schien bereit zu sein, jede Übertreibung zu glauben.

»Sie ist wahrscheinlich die schönste Frau, die jemals gelebt hat«, sagte Edward. »Und vielleicht ist sie sogar noch schöner.« Er sah Ana-Lucia in die Augen, als er diese Worte an sie richtete.

»Meine Güte!«, entfuhr es ihr.

Loren hielt den Zeitpunkt für geeignet, um auf den eigentlichen Zweck seines Besuchs zu sprechen zu kommen. »Die Prinzessin würde sehr gern ihre Schwestern kennenlernen. Sie hat mich gebeten, eine von euch mitzubringen, wenigstens für einen Besuch.«

Sofort erklangen aufgeregte Stimmen am Tisch – alle sieben Schwestern boten sich begeistert an.

Loren lachte. »Irgendwann bekommt jede von euch Gelegenheit zu einem Besuch. Aber ich dachte mir, die erste sollte längere Zeit in Victoria bleiben und zur besonderen Freundin der Prinzessin werden.«

Chlotide saß neben Loren. Sie legte ihm die Hand auf den Arm und sagte ernst: »Ich kann meine Praxis schon ab morgen früh meinem Assistenz­arzt überlassen. Wähle mich, Loren.«

»Oh, ich glaube, du bist hier zu wichtig, um dich fortzubringen«, lautete Lorens Antwort. Er sagte es leichthin, aber sie zuckte zusammen, als hätte sie einen Schlag erhalten, und zog die Hand zurück. Es folgte eine Stille, die niemand mit Worten zu füllen wusste. Schließlich fügte Loren matt hinzu: »Jede von euch kommt früher oder später nach Victoria.«

*

Schließlich war es Maria del Sol, die mit der Ardent nach Victoria flog. Asunción gab Edward strenge Anweisungen mit auf den Weg:

»Du musst sie oft zu uns zurückbringen, Edward. Und gib in der Zwischenzeit gut auf sie Acht.«