17
»Alles ladet zur Fahrt …«

Der Stromausfall störte den am Jachthafen diensttuenden Wachmann von United Services nicht weiter. Dwight David »D.D.« Pease war daran gewöhnt, während der stillen Stunden nach zwei Uhr nachts zu lesen, und zu diesem Zweck hatte er eine kleine batteriebetriebene Leselampe dabei. Für gewöhnlich trug er seine Tasche mit den Büchern und der kleinen Lampe zum Ende des Piers, wo er hoffen durfte, dass der warme Nachtwind die Mücken fernhielt. In den meisten Fällen konnte er damit rechnen, dort vier Stunden ungestört zu bleiben. In dieser Nacht wollte er über einige Anführer der Französischen Revolution lesen. Das entsprechende Buch hatte er sich auf dem Weg zur Arbeit aus der Bibliothek ausgeliehen. Der dicke Band war vielversprechend: Es ging hauptsächlich um Louis-Antoine Saint-Just und Maximilien Robespierre und die seltsame Beziehung zwischen ihnen. Sie hatte Pease immer fasziniert und er rechnete damit, das Buch bis zum Morgen durchgelesen zu haben. Der Stromausfall spielte dabei überhaupt keine Rolle.

Der leichte Hexenschuss war ein kleines Ärgernis, das ihn schon seit Jahren begleitete. Auch seine Füße schmerzten, weil er in seinem anderen Job die ganze Zeit auf den Beinen war. Abgesehen davon konnte er nicht klagen. Manchmal störte ein leises Geräusch seine Konzentration, doch solche Störungen waren kein Grund zu Klage. Die United Services Company bezahlte ihn dafür, gestört zu werden. D.D. Pease hob jetzt den Kopf, als jemand auf dem Parkplatz versuchte, den Motor eines Wagens anzulassen. Er wollte einfach nicht anspringen und deutlich war zu hören, dass sich der Anlasser immer langsamer drehte, als die Batterie schwächer und schwächer wurde.

Die Sterne leuchteten klar in einer Dunkelheit, die man in der modernen Welt nur bei Stromausfall bekommt. Pease schaltete seine kleine Leselampe aus. Am Horizont bemerkte er ein schwaches Rosarot, fast wie ein Nordlicht. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Ohne den Strom in der Stadt war alles still und friedlich, vor allem jetzt, als sich der Anlasser nicht mehr rührte. Die Klimaanlagen des nahen Hotels brummten nicht und auch die Insektenlampen blieben still. Erstaunlicherweise gab es auch keinen Verkehr. Pease seufzte und wünschte sich einen Stromausfall in jeder Nacht.

Hinter ihm näherten sich zwei Lichter. Es schienen die Scheinwerfer eines Wagens zu sein, doch er hörte keinen Motor. Dafür vernahm er Geräusche wie von vielen Füßen auf dem Pflaster. Er lauschte mit geschlossenen Augen und versuchte, eine Vorstellung davon zu gewinnen, was in der Dunkelheit geschah. Der Wagen, dessen Scheinwerfer durch die Nacht leuchteten, wurde von Leuten geschoben; das erklärte die Füße auf dem Pflaster. Wenn sie das Fahrzeug schoben, sollte ein gelegentliches Stöhnen zu hören sein. Leute stöhnten immer, wenn sie etwas Schweres schoben. Er horchte und da war es. Offenbar waren es vier. Jetzt hörte er auch gedämpfte Stimmen und mindestens eine davon gehörte einer Frau. Die Scheinwerfer des Fahrzeugs waren ziemlich hell; es konnte wohl kaum der Wagen sein, dessen Anlasser er eben gehört hatte. Was für ein sonderbarer Zufall, dachte er. Zwei Fahrzeuge, die nicht ansprangen, in derselben Nacht. Aber warum wurde ein Wagen geschoben, mit dessen Batterie alles in Ordnung zu sein schien? Pease verstaute Buch, Notizblock und Leselampe in der Tasche und stand auf.

Seit vier Jahren bewachte er den Jachthafen, sechs Nächte die Woche. Es geschah nie viel. Während der Frühjahrsferien kam es vor, dass Gruppen betrunkener Schüler und Studenten kamen und auf die Boote wollten. Es war Pease nie sehr schwer gefallen, sie wegzuschicken. Es gab noch einen Hafen in der Nähe, ohne Wächter und nur eine halbe Meile die Straße hinunter. Dieser Hinweis genügte meistens. Wenn nicht … Dann zeigte er seinen Schlagstock oder die Pistole mit dem Perlmuttgriff. Nur eine Jacht war jemals gestohlen worden, wenn er sich richtig erinnerte, von ihrem Eigentümer, wie sich später herausgestellt hatte, wegen der Versicherung.

Pease näherte sich dem Scheinwerferlicht. Es schien ein kleiner Transporter zu sein, eine Art Lieferwagen. Die Personen, die ihn geschoben hatten, blieben hinter dem Lichtschein verborgen. Das Fahrzeug stand am Straßenrand und das Licht der Scheinwerfer erreichte die nahen Jachten. Die Stimme einer Frau erklang. »Der rote Stoffbeutel, wie eine große Einkaufstasche.« Aus dem Innern des Transporters kam eine gedämpfte Antwort.

»’n Abend, Leute«, sagte Pease.

Weitere Stimmen ertönten, hinter dem Van. Dann näherte sich ein großer, kahlköpfiger Mann in mittleren Jahren von der einen Seite. Er hielt die eine Hand auf dem Rücken und schien ein wenig verlegen zu sein. Er blieb stehen und rückte mit der rechten Hand seine Brille zurecht, während die linke auf dem Rücken blieb. Pease entspannte sich. Seine achtzehnjährige Erfahrung erst als Stadtpolizist und dann als bewaffneter Wächter teilte ihm mit, dass dieser Mann keine große Gefahr darstellte. Ein junger, dunkelhäutiger Bursche, vielleicht ein Hispano, näherte sich von der anderen Seite des Fahrzeugs. Er wirkte noch weniger gefährlich. Für Peases alte Augen sah er aus wie ein harmloses Muttersöhnchen. Er hatte eine Hand in einem Beutel.

»’n Abend«, grüßte Pease erneut.

»Äh, dies ist mir sehr peinlich«, sagte der große Mann. »Aber uns bleibt leider nichts anderes übrig, als einige dieser Jachten zu stehlen. Zwanzig, um ganz genau zu sein.«

»Ach, tatsächlich?«

»Ja. Ich versichere Ihnen, dass Sie alles verstehen würden, wenn Ihnen die Hintergründe bekannt wären. Wir brauchen die Boote. Darauf läuft es hinaus. Übrigens, ich arbeite für das State Department. Falls das eine Rolle spielt.«

»Die Regierung beschlagnahmt also zwanzig Jachten.«

»Äh, nicht in dem Sinne. Wir stehlen sie, um ganz ehrlich zu sein.«

»Oh.«

»Ja. Ich hoffe, Sie stellen sich uns nicht in den Weg. Wir sind bewaffnet, wissen Sie.« Die linke Hand des großen Mannes kam hinter dem Rücken hervor, mit einer Pistole. »Zeig ihm deine Waffe, Loren.«

Der dunkelhäutige junge Mann zog etwas aus dem Beutel, das eine Halbautomatik zu sein schien. Er richtete sie auf Pease.

»Waffen und Diebstahl. Eine gewagte Kombination. Waffen, Diebstahl und wahrscheinlich ein paar Drinks zu viel.«

»Wir haben nichts getrunken«, erwiderte der Kahlköpfige empört. »Dazu hatten wir gar keine Zeit.«

Zwei junge Frauen traten aus der Nacht, gefolgt von einem dritten Mann, schmächtig und um die Dreißig, mit rötlichem Bart und das lange Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie sahen aus wie einige Studenten, die von einem ihrer Väter begleitet unterwegs waren. Pease lächelte amüsiert. »Fünf Personen, die hierhergekommen sind, um zwanzig Jachten zu stehlen. Was wollen Sie denn mit so vielen Booten anfangen, wenn ich fragen darf?«

»Nun, das geht Sie eigentlich nichts an«, sagte der kahlköpfige Mann. »Ich meine, wir könnten es Ihnen erklären, aber es würde zu lange dauern. Wichtig ist, dass wir diese Waffen haben. Versuchen Sie also nicht, uns aufzuhalten.«

»Ich bitte Sie.« Pease hob beide Hände und näherte sich langsam.

»Bleiben Sie stehen, D.D. Pease! Dies ist kein Scherz.«

Pease blieb stehen, überrascht davon, dass der Mann seinen Namen kannte. »Sie sind mir gegenüber im Vorteil, Sir. Sie kennen meinen Namen, aber Ihren haben Sie noch nicht genannt.«

»Ich bin Albert Tomkis.«

»Nun, Albert, lassen Sie uns in aller Ruhe darüber reden. Es kann doch nicht schaden, darüber zu reden und ein bisschen nachzudenken. Vielleicht vermeiden wir dadurch, dass Sie sich selbst und diese jungen Leute in große Schwierigkeiten bringen.«

»Treten Sie zurück oder ich schieße. Ich meine es ernst. Dies ist eine ernste Angelegenheit.«

»Ich werde nicht zulassen, dass Sie diese Jachten stehlen. Das ist Ihnen doch klar, oder? Ich bin hier der Nachtwächter. Meine Aufgabe ist es, Diebstähle zu verhindern. Ich kann Sie also nicht in die Nähe der Boote lassen. Die United Services Company bezahlt mich seit Jahren und bisher habe ich nicht viel für all das Geld tun müssen. Dies ist meine Chance. Wenn ich diese Jachten jetzt nicht beschütze, dauert es vielleicht ein ganzes Jahrzehnt, bis ich erneut Gelegenheit dazu erhalte. Sie sehen also: Es ist nicht möglich, dass Sie hier irgendwelche Boote stehlen. So sieht die Sache aus.«

»Aber wir sind bewaffnet!« Albert schien der Verzweiflung nahe zu sein.

»Da Sie gerade über Waffen sprechen, Albert … Ich habe ebenfalls eine.« Ganz langsam zog Pease seine Pistole aus dem Halfter und richtete sie auf den Kahlköpfigen. »Sehen Sie?«

Einige Sekunden blieb es still. Niemand bewegte sich – die Szene hatte fast etwas Komisches. Dann sagte Albert: »Dies ist lächerlich. Ihre Waffe nützt Ihnen überhaupt nichts.«

»Glauben Sie? Ich bin vom Gegenteil überzeugt. Ich denke, diese Waffe nützt mir viel, denn sie befindet sich in der Hand eines Mannes, der damit umzugehen weiß, in der Hand eines Profis. Wissen Sie, ich habe schon vor langer Zeit Frieden geschlossen mit der Vorstellung, von einer Waffe Gebrauch zu machen. Ich glaube, Sie können es nicht über sich bringen, auf einen armen alten Mann wie mich zu schießen, aber bei mir sieht das anders aus. Ich könnte auf Sie schießen, weil Sie bewaffnet sind und es auf mir anvertrautes Eigentum abgesehen haben. Das ist ein großer Unterschied.«

»Sie setzen ziemlich viel aufs Spiel.« Albert winkte nervös mit der Waffe, hielt sie noch weiter von seinem Körper weg und richtete sie auf den Kopf des Wächters.

Pease sah ihn an, während seine eigene Pistole auf Tomkis’ Taille zielte. »Wissen Sie, Albert, Sie schießen nicht. Wenn Sie dazu bereit gewesen wären, hätten Sie geschossen, als ich meine Waffe zog. Damit ist diese dumme Sache vorbei. Ihr seid einfach nicht die Art von Menschen, die auf andere Menschen schießen.«

Der junge Bursche namens Loren steckte seine Waffe in den Beutel zurück. »Er hat uns durchschaut, Albert.« Er kramte im Beutel, auf der Suche nach etwas. »Wir müssen die Viehstöcke benutzen. Sie sind unsere einzige echte Waffe.« Er holte zwei lange schwarze Stäbe hervor und reichte einen dem bärtigen jungen Mann an seiner Seite.

Die beiden jungen Frauen hatten bisher nicht gesprochen. Eine von ihnen, die mit dem dunklen Haar, trat vor und hielt den jungen Mann zurück, der einen Schritt in Richtung Pease gemacht hatte. »Nein, Loren. Diese Stäbe können sehr schmerzhaft sein. Vielleicht gibt es eine andere Möglichkeit.«

Pease musterte sie im Scheinwerferlicht des Transporters. Sie schien Mitte zwanzig zu sein, eine exotische dunkle Schönheit mit schwarzem Haar und dunklen Augen. Er beobachtete, wie sie sich bückte und ein langes Seil aufhob, die Festmacherleine eines kleineren Segelboots. Sie band das eine Ende zu einer kleinen Schlinge und das andere zu einer größeren. Dann trat sie auf ihn zu und begann damit, die größere Schlinge über ihrem Kopf kreisen zu lassen – ein Lasso. Pease behielt sie voller Unbehagen im Auge und stellte fest, dass die Schlinge einen perfekten Kreis in der Horizontalen bildete. Sie stieg auf und sein Blick folgte ihr. Vorsichtshalber wich er einen Schritt zurück und sah die Frau an, die ihn nicht aus den Augen ließ. Er blickte wieder zur Schlinge, bereit dazu, zur Seite zur springen, wenn sie ihm entgegenfallen sollte. Als er wieder zur Frau sah, war sie zur Seite getreten. Pease sprang so, wie er es geplant hatte, reagierte aber zu langsam. Die Frau zog an der Leine und die Schlinge folgte seiner Bewegung, legte sich ihm um die Schultern. Einen Moment später war sie fest zusammengezogen und Pease verlor das Gleichgewicht. Er fiel und bevor er wieder aufstehen konnte, war die Frau da, mit einem Knie auf seiner Brust. Sie schlang ihm das Seil auch um die Füße. Er wollte sich dagegen wehren und zappelte, vergeblich – er war gefesselt.

Die anderen hatten sich nicht von der Stelle gerührt und starrten mit offenem Mund auf ihn herab. Die Frau saß jetzt rittlings auf ihm, hob ihr Haar im Nacken und band das Halstuch los, das vorn in der Bluse steckte. Pease begriff zu spät, was sich anbahnte. Er holte tief Luft, mit der Absicht, um Hilfe zu rufen, aber plötzlich stürzte sich der dunkelhäutige junge Mann auf ihn und hielt ihm mit beiden Händen den Mund zu. Pease drehte den Kopf von einer Seite zur anderen und versuchte, sich zu befreien. Die Frau hielt jetzt die Enden des Halstuchs in ihren Händen, wartete einen Moment und beugte sich vor, als der junge Mann zurückwich. Pease bekam das Halstuch zwischen die Zähne und biss fest zu, damit die Frau es nicht straffen konnte. Sie band es hinter seinem Kopf zusammen, hielt ihn dabei mit dem Gewicht ihres Oberkörpers fest. Er fühlte ihre warme Brust an der Wange und leistete keinen Widerstand mehr.

Die fünf Personen beobachteten ihn, wie er hilflos dalag. Es kamen noch mehr Leute, Dutzende, sie erschienen im Scheinwerferlicht. D.D. Pease brummte verärgert.

*

Die nächsten beiden Stunden waren für Pease wie ein Albtraum oder ein unverständlicher Horrorfilm. Fremde umgaben ihn, zweihundert oder mehr. Sie sahen wie gewöhnliche Leute aus: Männer und Frauen, jung und alt, sogar Kinder, aber sie alle waren Diebe, die aus irgendeinem rätselhaften Grund zwanzig Jachten stehlen wollten. Welchen Sinn hatte das? Wie konnten so viele so normal aussehende Leute es für sinnvoll halten, mitten in der Nacht zwanzig Jachten zu stehlen? Pease rechnete jeden Augenblick damit, dass die Stadtpolizei eintraf und dem Spuk ein Ende bereitete. Sie würde die Rädelsführer verhaften und die anderen mit einer strengen Verwarnung nach Hause schicken. Was sollte dieser Unfug? Selbst wenn es ihnen gelang, mit den zwanzig Jachten aufzubrechen … Wie wollten sie den Schnellbooten der Küstenwache entkommen, die kurze Zeit später mit der Suche nach ihnen beginnen würden? Mehr als ein oder zwei Stunden Vorsprung konnten sie sich nicht erhoffen. Was nützte das, wenn man mit einem Segelboot unterwegs war?

Der Rücken schmerzte. Pease hasste es, flach zu liegen; selbst im Bett stützte er sich mit Kissen ab. Er versuchte, sich auf die Seite zu drehen, um das Kreuz zu entlasten. Die große, blonde junge Frau sah auf ihn herab. Vielleicht glaubte sie, dass er fortkriechen wollte, obwohl das in gefesseltem Zustand kaum Sinn hatte. Einige Sekunden lang beobachtete sie ihn in seiner geänderten Position, legte dann ihr Klemmbrett beiseite und kletterte in die Plicht der Irena, der nächsten großen Jacht. Dort zog sie eins der blauen Kissen hinter dem Steuerrad hervor und stellte es vor den Verteilerkasten neben Pease. Anschließend half sie ihm in eine sitzende Position, mit dem Kissen im Rücken.

»Besser?«, fragte sie. Er nickte.

Von seinem neuen Aussichtspunkt beobachtete er das Treiben der Fremden. Was auch immer sie planten, sie schienen gut organisiert zu sein. Die fünf Personen, die Pease zuerst gesehen hatte, waren offenbar die Anführer: Sie hatten Listen und erteilten den anderen Anweisungen. Nach einer Weile gewann Pease den Eindruck, dass der attraktive junge Mann, den sie Loren nannten, das Oberhaupt war, denn seine Gefährten baten ihn mehrmals um Rat und er wirkte sehr selbstsicher. Als zwei ältere Männer und eine erstaunlich schöne ältere Frau eintrafen, änderte Pease seine Meinung. Alle begegneten dem älteren der beiden Männer mit großem Respekt, jemandem, der T-Shirt, Khakihose und aus irgend­einem Grund Pantoffeln trug. Er gab keine Befehle, doch es bestand kaum Zweifel daran, dass er der Anführer war. Er schien sehr erschöpft zu sein, setzte sich auf Peases Gartenstuhl und schloss die Augen.

Die meisten Leute wirkten benommen und fast wie in Trance, als sie die Anweisungen befolgten. Inzwischen war ein zweiter Transporter eingetroffen und stand direkt an der Rampe. Dutzende von Männern und Frauen schritten zwischen den beiden Fahrzeugen und den Jachten hin und her, trugen Kisten mit Proviant und Ausrüstungsmaterial aller Art, darunter elektrische Geräte, Autobatterien und Monozellen in allen Größen. Pease prägte sich alles gut ein, damit er später bei den polizeilichen Ermittlungen genaue Angaben machen konnte. Die zwanzig Boote waren inzwischen ausgewählt und markiert. Es handelte sich ausnahmslos um Segelschiffe mit einer minimalen Länge von fünfzehn Metern. Die Kisten wurden an Bord gebracht und unter Deck verstaut. Die Leute hatten zwei Bolzenschneider mitgebracht, um sich Zugang zu den Jachten zu verschaffen. Damit durchtrennten sie das Sicherheitskabel des Surfbrettständers und anschließend wurden die Surfbretter zu den Booten gebracht und auf Deck festgebunden. Das erschien Pease noch seltsamer als alles andere. Warum stahlen diese Diebe nicht nur Segelboote, sondern auch Surfbretter?

Ein Mädchen war zu Loren gekommen, der nur wenige Meter von Pease entfernt stand. Es wirkte recht ernst und hatte die Stirn gerunzelt.

»Was ist los, Stacey?«

»Ich nehme an, Sie stellen die Mannschaften für die einzelnen Boote zusammen.«

»Ja. Ich habe dich und deine Eltern der Kiruna zugeteilt. Das hübsche rote Boot dort, das zweite in der Reihe. Ich gehe mit Kelly an Bord der Irena, die den Abschluss bildet. Claymore kommt an Bord der ersten Jacht; er ist vermutlich unser bester Seemann. Findet das alles deine Zustimmung?«

»Ja.« Das Mädchen lächelte automatisch. »Zum Glück gibt es mehrere gute Seeleute in unserer Gruppe. Weil wir alle aus überprivilegierten Verhältnissen kommen.«

Loren blickte auf Stacey hinab und unterdrückte ein Schmunzeln. »Ich schätze, da hast du recht.«

»Man sollte meinen, dass der Senator, der ebenfalls einen überprivilegierten Background hat und sich als guten Jachtfahrer bezeichnet … Man sollte meinen, dass er die logische Wahl wäre, um Captain eines der Boote zu werden.«

»Stimmt. Deshalb gebe ich ihm die Kiruna

»Dachte ich mir. Nun, Sie sollten wissen, dass der Senator schnell seekrank wird. Ich plaudere nicht gern aus dem Nähkästchen, aber so ist das nun einmal. Er kann nur etwa eine Stunde lang ein guter Captain sein. Anschließend ist ihm so speiübel, dass er sich nicht mehr um das Boot kümmern kann. Ich sage das mit allem gebührenden Respekt. Immerhin ist er mein Vater und ein sehr anständiger Mann. Ich hoffe, Sie glauben nicht, dass ich mich schlecht benehme.«

»Ganz und gar nicht, Stacey. Danke für den Hinweis. Ich schicke den Senator auf Homers Boot. Das wird seinem Ego schmeicheln und auch erklären, warum er kein eigenes Kommando bekommt. Als Homers Stellvertreter kann er sich wohl kaum zurückgesetzt fühlen.«

»Das halte ich für eine ausgezeichnete Lösung des Problems. Übrigens ist meine Mutter der bessere Seemann in der Familie, aber sie wird so sehr mit dem Senator beschäftigt sein, dass sie kein Kommando führen kann. Nun, eine Person, die nicht aus überprivilegierten Verhältnissen stammt, ist Mr. Williams. Zufälligerweise kennt er sich gut mit der Seefahrt aus. Er war Captain des Segelteams von Ann Arbor, bevor er es verlassen musste. Das wissen Sie vielleicht nicht.«

»Das wusste ich tatsächlich nicht. Noch einmal besten Dank, Stacey. Ich gebe Mr. Williams das Kommando über die Kiruna

»Wunderbar. Ich kümmere mich übrigens um Curtis. Diesen Auftrag hat Kelly mir gegeben. Es ist eine sehr anstrengende Aufgabe, denn typisch für einen Jungen steckt Curtis voller Schalk und Teufeleien. Ich habe ihn für einige Minuten meiner Mutter überlassen, damit wir dieses wichtige Gespräch führen konnten.«

»Gut gemacht. Ich habe eine Aufgabe für euch beide. Wir halten Curtis unter deiner Aufsicht beschäftigt, damit er keine ›Teufeleien‹ anstellt und dir helfen kann.«

»Klingt gut.«

»Lass dir von Sonia Dramamine-Tabletten und Pappbecher geben. Geh herum und sorg dafür, dass jede Person eine Tablette nimmt, Kinder eine halbe. Lass dir von niemandem sagen, dass er oder sie keine braucht, Stacey. Jeder, jeder muss eine Tablette Dramamine nehmen. Du musst darauf bestehen. Curtis kann die Becher mit dem Wasser tragen, wenn er möchte.«

»In Ordnung, Loren.«

Das Mädchen lief zu einem der Boote, wo sich eine gut gekleidete Frau um einen kleinen Jungen kümmerte. Der Mann, den Stacey »Senator« genannt hatte, konnte nur Chandler Hopkins sein. Er war Pease gleich bekannt vorgekommen. Und die attraktive Frau in seiner Begleitung musste Candace Hopkins sein, geborene Fournier. Ihr Foto war oft in der Zeitung und in Zeitschriften gewesen, als sie Chandler Hopkins geheiratet hatte. Ein US-Senator (jetzt Präsident einer Universität, wenn sich Pease richtig erinnerte) war also an dem Diebstahl der zwanzig Jachten beteiligt. Die ganze Angelegenheit wurde immer rätselhafter. Er drehte den Kopf und beobachtete, wie sich Stacey mit einem kleinen Jungen im Schlepptau der dunklen Frau näherte, die ihn mit einem Lasso überwältigt hatte. Die Frau öffnete einen Rucksack bei den Gepäckstücken, die neben ihr einen Haufen bildeten, und reichte Stacey einen großen Krug und eine Packung Pappbecher. Sie musste »Sonia« sein. Pease versuchte, den Personen die richtigen Namen zuzuordnen, damit die Polizei später Bescheid wusste.

Der bärtige junge Mann hieß Edward und machte sich mit einer Gruppe daran, eins der Boote zu wenden. Sie gaben ein Seil weiter und benutzten eine Winde, um den Bug zu drehen. Anschließend zogen sie die Jacht an der Rampe entlang und um die Ecke, damit der Bug zum Kanal wies. Die blonde junge Frau (Pease wusste noch nicht, wie sie hieß) las Namen von einer Liste, woraufhin einzelne Personen und Familien über die Rampe traten und an Bord gingen. Schließlich verkündete sie, dass jemand namens Claymore Layton ihr Captain sein würde. Der kleine Mann mit dem kurzen grauen Haar nahm seinen Platz am Ruder ein. Zwei Männer hielten sich am Hauptmast bereit, das Segel zu setzen. Als der Captain ihnen zunickte, begannen sie damit, die Genua hochzuziehen. Offenbar wollten sie vom Pier ablegen, aber erstaunlicherweise versuchten sie nicht einmal, den Motor zu starten; wenn das Boot ihr Eigentum gewesen wäre, hätten sie bestimmt nicht im Traum daran gedacht, unter Segeln abzulegen. Pease bemerkte, dass es sich bei der betreffenden Jacht um die Slup Columbia handelte, mehr als zwanzig Meter lang und mindestens eine Dreiviertelmillion Dollar wert.

Der Wind war sanft und kam genau aus der richtigen Richtung, um ganz durch den Kanal bis zum offenen Meer zu segeln. Captain Claymore gab den Befehl, die Fockschot einzuholen. Als das Boot schneller wurde, nickte er den beiden Frauen an den Bug- und Achterleinen zu. Allein mit der Genua nahm die Jacht Fahrt auf, segelte fast parallel zum Kai und hielt direkt auf eine Pfahlkonstruktion zu. Claymore blieb gelassen auf Kurs und ließ das Boot schneller werden. Dann drehte er den Bug in den Wind, lenkte die Columbia an der Pfahlkonstruktion vorbei und brachte sie anschließend wieder auf den ursprünglichen Kurs durch den Kanal. Nicht schlecht, dachte Pease. Die beiden Männer, die die Genua hochgezogen hatten, traten nun zum Mast, um das Hauptsegel zu setzen. Loren eilte über den Pier und rief den Leuten auf dem Boot letzte Anweisungen zu. Pease hörte die meisten seiner Worte. »Bleibt für zwei Stunden auf null neun null und wartet dann auf den Rest von uns. Geht vor Anker, wenn ihr müsst. Bis dahin solltet ihr etwa zehn Meter Wasser unter dem Kiel haben.«

Unterdessen wurde ein zweites Schiff auf die Fahrt durch den Kanal vorbereitet. Die blonde junge Frau nannte erneut die Namen der Crew und Pease erkannte das zweite Boot als die Ketsch Kiruna. Ein Schwarzer ging an Bord und nahm seinen Platz am Steuerrad ein. Das musste der Mann namens Williams sein. Einige Momente später war auch die Kiruna unterwegs, wich der Pfahlkonstruktion aus und segelte durch den Kanal.

Nicht genug, dass ein Senator und ein Universitätspräsident an diesem Massendiebstahl von Jachten teilnahmen – Pease stellte verblüfft fest, dass auch die Managerin des Grand Marina Hotels, Gina McCree, mit von der Partie war. Sie stand neben einem Haufen aus Tornistern, Rucksäcken und Reisetaschen, hielt die Hände ihrer beiden Töchter und schien darauf zu warten, dass man sie an Bord einer der Jachten rief. Warum unternahm sie nichts, um diesen Unfug zu beenden? Immer wieder blickte sie zur Straße und Pease wollte glauben, dass sie wie er selbst auf die Ankunft der Polizei wartete. Er beobachtete, wie sie die Hand eines der beiden kleinen Mädchen losließ und winkte. Als er daraufhin zur Straße sah, bemerkte er etwa fünfzehn Fahrräder, auf ihnen eine bunt gemischte Gruppe von Teenagern, die meisten Schwarze oder Hispanos. Ganz vorn auf dem ersten Fahrrad saß ein Erwachsener, den Pease als Ehemann der Hotelmanagerin erkannte, Danny McCree. Die Teenager wirkten alle sehr aufgeregt, als stünde ihnen ein großes Abenteuer bevor.

Die Blondine mit den Listen lief den Neuankömmlingen entgegen. McCree trat zu ihr, gefolgt von seiner Frau und den beiden Töchtern. Sie waren so nahe, dass Pease sie hörte.

»Das sind die jungen Leute meines Siedlungsprojekts. Ich konnte sie nicht zurücklassen und glaube, dass sie uns gute Dienste leisten werden. Alle stecken voller Elan. Sie können sie bestimmt gut gebrauchen. Und sie brauchen es, gebraucht zu werden.«

»Natürlich«, erwiderte die blonde junge Frau. »Wir sind ohnehin ein bisschen knapp dran. Ich schreibe nur schnell die Namen auf.«

»Vielleicht sollten wir auch die Fahrräder mitnehmen, Sie könnten von Nutzen sein.«

»Wir haben entschieden, auf Fahrräder zu verzichten, weil es am Ziel genug davon geben dürfte. Aber vielleicht wäre es ganz gut, zwei mitzunehmen, für den Anfang. Wählt zwei hübsche aus und bringt sie an Bord einer der markierten Jachten. Sagt den Leuten, dass sie auf Deck festgebunden werden sollen.« Die Blondine trat in die Gruppe der Neuankömmlinge, notierte Namen und wies die Jugendlichen verschiedenen Booten zu. Stacey und Curtis verteilten Dramamine-Tabletten und Pappbecher mit Wasser.

Pease versuchte, sich die Namen der Jachten zu merken, als sie ablegten und durch den Kanal segelten. In Gedanken wiederholte er sie immer wieder, um sie nicht zu vergessen. Als er aufsah, stand die Blondine vor ihm, mit dem jungen Mann namens Loren an ihrer Seite.

»Mr. Pease …«, sagte sie. »Ich bin Kelly Corsayer und würde gern mit Ihnen sprechen. Dazu werde ich Ihnen den Knebel abnehmen und Sie müssen mir versprechen, nicht zu schreien. Einverstanden?«

Er überlegte einen Moment. Nichts zu verlieren. Er nickte.

Kelly ging in die Hocke und löste den Knoten des zum Knebel umfunktionierten Halstuchs. Pease bewegte Mund und Kiefer, als sich die blonde Frau neben ihn setzte. »Sind Sie verheiratet, Mr. Pease?«, fragte sie.

»Verwitwet«, sagte er.

»Tut mir leid. Haben Sie Kinder?«

»Niemand würde Lösegeld für mich bezahlen, wenn Sie das meinen.«

Kelly lächelte schief. »Nein, das meine ich nicht. Leben Ihre Kinder hier in der Nähe? Hängen sie von Ihnen ab?«

»Ich habe eine Tochter in Kalifornien. Sie ist ein spätes Blumenkind. Wenn Sie Lösegeld von ihr verlangen, schickt sie Ihnen Narzissen, Rosinen und Tomaten aus ihrem Garten. Viel Glück. Sie hat nicht einmal Telefon.«

»Es ist also niemand hier. Sie sind alleinstehend?«

»Ja.«

»Haben Sie nicht einmal einen Hund oder eine Katze?«

Pease schnitt eine Grimasse. »Tot«, sagte er. »Meine alte Katze starb vor ein paar Wochen.«

Kelly wandte sich an den jungen Mann neben ihr. »Wir sollten ihn mitnehmen, Loren. Er hat hier überhaupt keine Bindungen. Und er ist nett. Ich möchte, dass er mitkommt. Homer meinte, dass wir zweihundert sein sollten, und derzeit sind wir hundertneunundneunzig. Er ist unsere Nummer zweihundert.«

»Was?«, fragte Pease entgeistert.

Loren nickte. »Wie du willst, Kelly. Hab nichts dagegen.«

»Wir bieten Ihnen ein großes Abenteuer, Mr. Pease. Erst segeln wir übers Meer und dann gründen wir eine ganz neue Gesellschaft.«

»Ich werde auf keinen Fall …«

Die dunkle Frau näherte sich. »Was ist los?«

»Mr. Pease hat gerade beschlossen, sich uns anzuschließen.«

»Von wegen!«

»Bringen wir ihn an Bord der Irena«, sagte Sonia. »Die Sonne geht bald auf.«

»Warten Sie!«, platzte es aus Pease heraus.

Sonia bückte sich, griff nach den Stricken an seiner Brust und hob ihn mühelos an. Kelly nahm die Beine. Sie trugen ihn über die Rampe und an Bord der Irena. Sonia kehrte zurück, holte das Kissen und legte es ihm unter den Rücken.

»Ich werde seekrank«, jammerte Pease. Das Mädchen namens Stacey näherte sich ihm.

»Eine ganze Tablette Dramamine für Mr. Pease«, sagte es und legte ihm die Tablette in den Mund. Er wollte sie ausspucken, aber Stacey hielt ihm den Mund zu. »Ich bitte Sie, Mr. Pease. Seien Sie brav und schlucken Sie Ihre Medizin. Wenn nicht, haben Sie gleich einen bitteren Geschmack im Mund.« Stacey hob sein Kinn und Pease fühlte, wie ihm die Tablette nach hinten rutschte. Das Mädchen nahm einen Pappbecher mit Wasser von Curtis und setzte ihn Pease an die Lippen. »War doch gar nicht schlimm, oder?«

Das Boot vor der Irena wurde nun in den Kanal gezogen. Edward und Sonia sprangen an Bord. Auf dem Kai befanden sich jetzt nur noch Kelly, Loren und der alte Mann, der mit offenem Mund auf Peases Stuhl schlief. Kelly weckte ihn sanft.

Stacey und Curtis setzten sich in der Plicht neben Pease und beobachteten, wie der alte Mann erwachte und nach seinem Nickerchen benommen war.

»Das ist Dr. Homer Layton«, sagte Stacey. »Er hat dies alles geplant und ist unser Anführer. In ganz Amerika gibt es keinen gescheiteren Mann.«

»Das will nicht viel heißen«, erwiderte Pease.

Kelly führte den Alten zur Palomar und half ihm an Bord. Sie warf die Achterleine, als das Boot mit der Lasso-Frau am Ruder Fahrt aufnahm. Neben Pease winkte Stacey ihren Eltern an Bord der Palomar zu. Kelly lief zur Bugleine der Irena und begann damit, die zwanzigste und letzte Jacht zum Kanal zu ziehen. Pease hörte, wie das Segel gesetzt wurde.

Einige Momente später war die Irena unterwegs und Kelly sprang im letzten Augenblick an Bord. Loren hatte das Ruder übernommen, hielt das Gesicht in den Wind und wirkte wie jemand, der sein ganzes Leben auf dem Meer verbracht hatte. Pease hörte, wie der Rumpf durchs Wasser glitt, ein leises Zischen und Gurgeln. Er lauschte konzentriert, weil er sich alles für die Polizei merken wollte, und auch aus persönlichem Interesse, denn er war zum ersten Mal mit einem Segelschiff unterwegs.

Loren steuerte die Jacht geschickt an dem Pfahlwerk vorbei und anschließend wurden die Schratsegel gesetzt. Ein halbes Dutzend oder mehr Personen befanden sich an Deck und unter Deck noch einmal so viele, unter ihnen auch Kinder. Als sie am öffentlichen Landungssteg vorbeisegelten, sah Pease ein junges Paar, das ihnen zuwinkte – es schienen zwei Liebende zu sein, die den Sonnenaufgang bewundern wollten. Er blickte zum Bug und stellte fest, dass der obere Rand der Sonne über den östlichen Horizont ragte.

*

Als sich die Jachten sammelten, war die Küste von Florida nur noch eine dünne Linie am Horizont. Die Boote lagen mit eingeholten Segeln vor Anker, hintereinander, mit der Columbia ganz vorn. Ihr Fock und Großsegel waren auf gegenüberliegenden Seiten backgehalten, ein Manöver, über das Pease einmal gelesen hatte und das man »Beidrehen« nannte, wenn er sich richtig erinnerte. Jedenfalls, sie ritt friedlich vor Anker, obwohl der Wind auffrischte. Diese Leute schienen sich recht gut mit dem Segeln auszukennen.

Loren halste die Irena, lief übers Deck und rief den anderen Booten den neuen Kurs zu. Pease hörte die Anweisung neunzehnmal. Von hier aus sollte die Reise mit Kurs eins acht null nach Süden weitergehen. Man verbrachte nicht viele Jahre in Florida, ohne zu erfahren, welche Landmasse im Süden lag – diese Leute wollten nach Kuba.

Der neue Kurs schien die anderen Captains nicht zu überraschen. Sie hatten schriftliche Anweisungen bekommen und manche von ihnen winkten als Bestätigung damit. Außerdem standen die Boote mithilfe kleiner Walkie-Talkies in Verbindung. Loren ging am Ende der Jachtenreihe in Position und wartete darauf, dass die anderen Anker lichteten, Segel setzten und Fahrt aufnahmen. Zehn Minuten später waren sie alle unterwegs nach Süden.

Unter Deck wurde Schinken gebraten. Es hatte Probleme damit gegeben, den Herd in Gang zu bringen; Loren und Kelly hatten es sogar für nötig gehalten, die anderen Boote darauf hinzuweisen. Für Pease ergab das ebenso wenig Sinn wie alles andere. Aus irgendeinem Grund verwendeten diese Leute keine Streichhölzer für den Herd. Nein, sie benutzten Vergrößerungsgläser und Zeitungspapier, um Feuer zu entzünden, und als es ihnen gelungen war, das Papier mit konzentriertem Sonnenlicht in Brand zu setzen, trugen sie das Feuer vorsichtig nach unten zum Herd. Wie dumm. Bei allen anderen Dingen schienen sie gut vorausgedacht zu haben. Konnte es sein, dass sie ausgerechnet Streichhölzer vergessen hatten? Jemand anderer an D.D. Peases Stelle hätte vielleicht längst mit dem Versuch aufgehört, in dem rätselhaften Geschehen um ihn herum einen Sinn zu erkennen, aber D.D. Pease fühlte sich von dem Rätsel herausgefordert. Warum die Sache mit den Vergrößerungsgläsern und dem Zeitungspapier? Warum hatten sie nicht versucht, die Motoren der Segelboote zu starten? Warum hatten sie keine Motorjachten gestohlen, mit denen sie wesentlich schneller vorangekommen wären? Was bewegte so viele offenbar anständige Leute, Boote zu stehlen und mit ihnen nach Kuba zu fahren? Pease dachte die ganze Zeit darüber nach und spekulierte, dass er es vielleicht mit den Anhängern eines bizarren religiösen Kults zu tun hatte, der Motorboote, Streichhölzer und Kapitalismus ablehnte.

Kelly kam von unten und nahm neben ihm Platz. »Ich glaube, wir müssen über das eine oder andere reden, Mr. Pease. Es gibt vieles, das Sie nicht wissen.« Sie hatte klare graue Augen, die gern zu lächeln schienen, obwohl sie derzeit recht ernst blickten.

Pease brummte.

»Ja, es gibt viele Dinge, von denen Sie nichts wissen. Leider habe ich bisher keine Zeit gefunden, denn sonst hätte ich Ihnen das eine oder andere erklärt. Wenn Sie von mir die Hintergründe erfahren und wenn Sie alles verstanden haben … Dann können wir Ihnen diese dummen Fesseln abnehmen. Weil Sie uns dann helfen wollen.«

»Das bezweifle ich.«

Kelly lächelte. »Haben Sie einen Vierteldollar in der Tasche?«, fragte sie.

Pease nickte. »Ich denke schon.«

»Ich bin mir meiner Sache so sicher, dass ich bereit bin, um einen Vierteldollar mit Ihnen zu wetten. Normalerweise wette ich nicht, aber diesmal gibt es für mich nicht den geringsten Zweifel. Wenn ich Ihnen alles erklärt habe, sind Sie einer von uns. Dann nehme ich Ihnen die Fesseln ab und Sie geben mir einen Vierteldollar. Abgemacht?« Sie holte eine Münze aus der Tasche ihrer Shorts und legte sie auf das Kissen neben Pease. Er zuckte die Schultern.

»Sie hätten mit Ihrer Pistole gar nichts gegen uns ausrichten können, selbst wenn Sie bereit gewesen wären, damit zu schießen. Wussten Sie das?«

»Sie war nicht geladen.«

»Oh.«

»Ich hatte immer Angst, mir in den Fuß zu schießen oder gar irgendwelche College-Studenten zu töten. Man bekommt keine Medaillen, wenn man in Fort Lauderdale College-Studenten erschießt.«

Kelly lächelte erneut. »Auch unsere Waffen waren nicht geladen. Und von jetzt an nützen solche Waffen überhaupt nichts mehr. Ich erkläre Ihnen, warum das so ist.«

Sie war noch nicht ganz mit ihren Erklärungen fertig, als Pease sie unterbrach. Wer ihn kannte, wusste von seiner Angewohnheit, bei jeder Gelegenheit aus irgendwelchen Gedichten zu zitieren. Als er zu verstehen begann, warum sie segelten und auf die Motoren verzichteten, sprach er Worte, die er in einem Buch über alte griechische Legenden gelesen hatte:

»Alles ladet zur Fahrt … Windet den Anker heraus, entstrickt, o Schiffer, das Tauwerk. Richtet die Masten empor, gebet die Segel dem Wind. Also ermahnt vom Gestad Priàpos euch, Pflüger des Meeres, dass ihr zu frohem Gewinn lenkt die glückliche Fahrt.«

»Bei unserer Fahrt geht es nicht um frohen Gewinn, sondern ums Überleben«, sagte Kelly und erklärte auch den Rest.

Am Ende der Stunde löste sie die Fesseln und bekam ihren Vierteldollar. Pease sah sich noch einmal die Beweise an, die Kelly präsentiert hatte, um ihm den Effekt zu zeigen und zu veranschaulichen, was während der Nacht geschehen war. Er fragte sich, ob man ihn täuschte, ob er auf besonders ausgefallene Taschenspielertricks hereinfiel. Aber nein, das erschien ihm unwahrscheinlich. Er glaubte Kelly und stellte fest, dass er sie und auch die anderen Leute auf der Irena mochte. Als er keine Fesseln mehr trug, kamen sie nacheinander, um ihm die Hand zu schütteln, und sie sagten ihm, dass sie sich freuten, ihn jetzt auf ihrer Seite zu wissen. Anschließend setzte sich Pease wieder neben Kelly, blickte nach Süden und fragte sich wie alle anderen, was als Nächstes geschehen würde.