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Alles ist ein Symbol

Nach dem Zweiten Weltkrieg, beginnend im August 1945, bekamen es Präsident Truman und das amerikanische Volk mit dem stärksten politischen Rauschmittel überhaupt zu tun: Hegemonie. Das Land war mehr als Erster unter Gleichen. Es war nicht nur mächtig, sondern fast allmächtig; es konnte dem Rest der Welt seinen Willen diktieren. Das hat es natürlich nicht getan, aber es wäre dazu imstande gewesen. Wir Amerikaner nahmen eine Kostprobe von der Hegemonie und kamen sofort auf den Geschmack. Wir wurden süchtig danach. Leider dauerte die Phase nicht lange. Die Fast-Allmacht der Vereinigten Staaten hielt während der zweiten Hälfte der vierziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts an, ging Anfang der fünfziger Jahre jedoch schnell zu Ende. Wer kann es uns verdenken, dass wir voller Wehmut an Truman und seine Zeit zurückdenken? Die amerikanische Geschichte danach kann als lange Phase der Entzugserscheinungen eines Hegemonie-Abhängigen verstanden werden.

Was Truman und das Amerika der vierziger Jahre getroffen hat, traf nach der Schlacht in der Karibischen See auch die Gemeinschaft von Baracoa. Das Gefühl fast unbegrenzter Macht kann sehr berauschend sein. Wer davon erfasst wird, denkt leicht an Größe, an ein Reich.

Provost Suzikaya sprach bei der Ratsversammlung. »Wir müssen jetzt an die großen Verpflichtungen denken, die uns das Schicksal auferlegt hat, an die Verpflichtung, die Welt in eine neue Richtung zu lenken, sie auf den Weg hin zu Erleuchtung und Prosperität zu bringen.« Er legte eine Pause ein, jede stille Sekunde voller Bedeutung. »Unsere kleine Gemeinschaft steht plötzlich im Zentrum der Kultur und Zivilisation, im Mittelpunkt der intellektuellen Aktivität. Ich wähle meine Worte sehr sorgfältig, Freunde. Wenn ich hier vom ›Mittelpunkt der intellektuellen Aktivität‹ spreche, so meine ich, dass wir gewissermaßen das Gehirn der neuen Welt sind.« Suzikaya sprach eine volle Oktave höher als sonst, das Ergebnis jahrelanger Übung. Es weckte in den Zuhörern den Wunsch, ihn zu kneifen, um ihn quieken zu hören. Er dehnte jedes Wort bis zum Zerreißen und dabei gelang es ihm, selbst die Zwischenräume zwischen den einzelnen Silben zu betonen: »in-tel-lek-tu-el-le Ak-ti-vi-tä-t«. Wenn Suzikaya sprach, konnte Homer sofort einschlafen. »Nicht nur auf dem Gebiet der Wissenschaft steht uns die Führung zu, sondern auch in der weltweiten Politik, bei der globalen Wirtschaft und natürlich bei den Künsten.«

Dem von Loren aus gesehen auf der anderen Seite des Tischs sitzenden Barodin fiel es schwer, sich zurückzuhalten. Der einzige Hinweis auf Kunst in ihrer Gemeinschaft beschränkte sich bisher auf einen Theaterabend, bei dem kleine Sketche aufgeführt und Lieder gesungen worden waren, teilweise von Kelly auf der Mundharmonika begleitet. Barodin rutschte langsam auf seinem Stuhl nach vorn und verschwand immer mehr unter dem Tisch, bis nur noch eine Hand zu sehen war. Suzikaya gab vor, es nicht zu bemerken.

»So wie die alten Griechen ein Zentrum von Kultur und Bildung waren, so wird auch unsere kleine Nation die Führung einer Welt übernehmen, die bereit und sogar darauf erpicht ist, sich von uns führen zu lassen. Natürlich ist sie bereit und erpicht, denn sollte sie es nicht sein, müsste sie damit rechnen, dass unsere weit überlegene Macht jeden Widerstand zerschmettert und …«

»Ja, danke, Mr. Provost«, sagte Chandler. »Danke dafür, dass Sie dieses Thema anschneiden. Ein Thema, das angeschnitten werden musste, wenn ich mich nicht irre. Ich denke, Provost Suzikaya hat mit dem Hinweis auf ›unsere kleine Nation‹ bewundernswerterweise genau den Punkt angesprochen, der hier diskutiert werden sollte. Meiner Ansicht nach haben wir zu lange nur als ›Baracoa‹ von uns gedacht, als ein Dorf. Aber das stimmt jetzt nicht mehr. Wir haben vom ganzen östlichen Drittel der kubanischen Landmasse Besitz ergriffen und wir kontrollieren den Rest. Meine Damen und Herren, wir gestatten keiner anderen Nation, sich auf diesem Rest von Kuba niederzulassen. Ich sage das ohne Furcht vor Widerspruch. Wir könnten es uns als moderne Monroe-Doktrin vorstellen, vielleicht als Hopkins-Doktrin, wenn ich sie so nennen darf. Unserer Gemeinschaft gehört die ganze Insel.

Aber ich möchte Ihre Aufmerksamkeit nun auf ein interessantes Para­dox richten. Meine Tochter Stacey hat mich diese Woche darauf angesprochen. Sie sagte: »Wer sind wir, Paps? Beginnen wir damit, von uns als Kubanern zu denken?« Da haben wir die Frage. Ich lege sie vor Ihnen auf den Tisch. Diese neue Nation braucht einen Namen. Sie braucht einen Namen, der in die Geschichte eingeht, während wir das Schicksal erfüllen, das Provost Suzikaya auf so anschauliche und überzeugende Weise dargelegt hat. Es wäre vermutlich eine nette Geste, den Namen zu übernehmen, den dieser Ort von seinen früheren Bewohnern erhielt, die leider zum größten Teil verstorben sind. Aber mit diesem Namen gehen Assoziationen einher, die nicht zu unserem Image passen. Ich meine Assoziationen in Richtung von Bananenrepublik, Dorn im Auge einer fortschrittlichen Kultur, militärisches Abenteurertum …«

»Kuba war nie eine aufgeklärte Nation«, warf Rektor Brill ein.

»Genau. Danke für diese Bemerkung, Rektor. Wir hingegen sind es, wie der Provost gezeigt hat. Aufgeklärt, meine ich. Nein, ich glaube, der Name Kuba eignet sich nicht für uns. Stattdessen brauchen wir einen Namen, der uns als die Kraft von Kultur und fortschrittlicher Führung präsentiert, zu der wir geworden sind. Einen Namen wie Großbritannien, zum Beispiel.«

»Dieser Name wird derzeit benutzt«, sagte Edward. Chandler warf ihm dafür einen bösen Blick zu.

»Ich weiß nicht, ob ich all dem zustimmen kann«, ließ sich Dekanin Sawyer vernehmen. »Mir gefällt der Name Kuba. Er klingt romantisch, nach Musik und Nachtleben. Ich mag dieses Bild. Es gibt Schlimmeres als einen Namen, der für Fröhlichkeit steht, für einfache irdische Freuden …«

»Irdische Freude«, wiederholte Chandler und schüttelte den Kopf. »Genau da liegt das Problem.«

Loren hob die Hand. »Ich weiß nicht genau, welches Problem Sie meinen, aber es gibt einen anderen Grund, warum Kuba sich nicht als Name für unser Land eignet. Kuba ist spanisch und wird es immer bleiben. Und wir sind nicht spanisch. Ich meine, ich bin es, aber unser Land nicht. Kuba ist und bleibt spanisch, katholisch, kommunistisch, dritte Welt. Keine dieser Beschreibungen trifft auf uns zu. Unsere Sprache ist Englisch, unsere Kultur wurzelt in der von Westeuropa, unsere Religion ist die Wissenschaft und unsere Politik geht in Richtung Individualismus und Gelegenheit – so scheint es zumindest. Der Name unseres Landes sollte all das widerspiegeln oder wenigstens nicht im Widerspruch dazu stehen.«

»Alles ist ein Symbol«, sagte Kelly,

»Stimmt«, pflichtete Loren ihr bei. »Der Name ist ein Symbol. Bisher musste niemand für unsere Gemeinschaft sterben, aber früher oder später wird es dazu kommen. Wir können nicht hoffen, dem Rest der Welt auf Dauer voraus zu bleiben. Und wenn es ums Sterben geht oder um die Bereitschaft dazu, brauchen wir ein Symbol.«

»Wie also sollte der Name lauten?«, fragte Chandler ihn direkt.

»Ich weiß nicht. Dass wir hier sind, verdanken wir einem Mann, Homer Layton. Vielleicht sollte sich der Name unseres Landes an seinen Namen anlehnen. Ich bin nicht besonders gut mit Namen. Vielleicht etwas in der Art von Latonia.« Selbst für Lorens Ohren klang es nicht sehr eindrucksvoll.

Claymore wurde munter, als er diesen Vorschlag hörte. »Das gefällt mir«, sagte er.

»Homericus«, schlug Albert Tomkis vor. »Oder Homerica.«

Die Blicke der Versammelten gingen ins Leere, als sie über Namen nachdachten.

Peter Chan stand auf. »Mit der gebührenden Hochachtung für meinen Freund und Kollegen Dr. Layton …«, sagte er und nickte in Richtung des schlummernden Homer. »Ich denke, es war nicht er, der dieser Nation einen Sinn gab. In mir ist eine feste, unerschütterliche Loyalität in Hinsicht auf diese Gemeinschaft gewachsen, doch sie hat nichts mit wissenschaftlichen Errungenschaften zu tun, eher mit der Art und Weise, wie wir damit umgegangen sind. Wir sind dem Bösen entgegengetreten und haben ihm die Stirn geboten. Darum geht es, für uns alle. Wir haben dem Bösen ins Auge gesehen und ihm eine Lektion erteilt. Ich staune noch immer darüber, dass wir im Mai vergangenen Jahres einen Krieg verhindert haben, und anschließend gelang es uns, zwei mächtige Flotten zu besiegen, die mit der Absicht kamen, uns alle zu töten. Wir traten für etwas ein, das viel besser ist als alles, das sich unsere Feinde vorstellen können. Und wir haben gewonnen. Irgendwo darin liegt das Symbol.«

Chandler blickte über den Tisch und war sich der vollen Aufmerksamkeit der Anwesenden gewiss. Angesichts so viel geballter Brainpower brauchte er sich nicht einmal selbst einen Namen einfallen zu lassen. »Proctor Pinkham?«

»Victoria.«

Stille folgte, als sie darüber nachdachten.

»Aber es klingt martialisch, Ted«, wandte Dekanin Sawyer ein. »Kriegerisch.«

»Sind wir nicht kriegerische Leute, Maria?«, warf Kelly ein. »Sieh uns nur an, wie wir hier sitzen. Alle bis auf Homer tragen Blau. Und dies sind keine unschuldigen blauen Trainingsanzüge mehr, sondern Uniformen unserer Marine. Sieh dich selbst an, Maria. Du trägst nicht nur Uniform, sondern hast auch einen militärischen Rang.« Sie deutete auf die Captainsstreifen, die Dekanin Sawyer am Ende des Schuljahrs erhalten hatte. »Es war nur zum Teil komisch, dass die Dekanin unserer Schulen einen Rang nur eine Stufe unter dem von Van Hooten bekam. Und der Umstand, dass du die Streifen seitdem trägst, weist deutlich darauf hin, dass du ihre Bedeutung für unsere Gemeinschaft verstehst.«

»Mein pazifistischer Vater, Richter Sawyer, wäre entsetzt gewesen.«

»Wir haben zwei große Schlachten und einen Angriff auf die Hauptstadt des Feinds hinter uns«, fuhr Kelly fort. »Loren hat darauf hingewiesen, dass bisher niemand für unser Land gestorben ist, aber er selbst ist zweimal verwundet worden. Schwer.« Ihre Stimme zitterte. »Er verlor so viel Blut in dem kleinen Dingi, dass Mr. Pease beinahe in Ohnmacht gefallen wäre. Und Danny McCree hätte es fast erwischt. Als er von einem Pfeil getroffen vor mir zu Boden sank, habe ich ihn für tot gehalten. Ich dachte schon daran, was wir Gina und den Mädchen sagen sollten.

Wir sind kriegerische Leute. Wir sind ein Volk im Krieg. Die Fanatiker, die in Amerika die Macht an sich gerissen haben, werden nicht ruhen, nur weil sie bisher keinen Erfolg gegen uns hatten. Sie werden uns weiter angreifen, ungeachtet aller Verluste. Weil sie fanatisch sind. Wir werden lange mit ihnen im Krieg sein. Derzeit sind wir ihnen gegenüber im Vorteil, aber das wird, wie Loren eben gesagt hat, nicht immer so bleiben. Langfristig stehen die Aussichten eher schlecht für uns: Wir sind einige Hundert und unser Gegner zählt Millionen. Wir sind der Underdog, trotz unserer Schiffe und der Laserstrahlen. Wir brauchen ein Symbol, das uns zusammenhält und uns Kraft gibt. Symbole dürfen nicht zu subtil sein, sie müssen Herz und Seele erreichen. Auf den Namen Victoria trifft das zu. Er erzählt etwas über unser Volk, das Volk von Victoria Island.«

*

Senator Hopkins freute sich über den Ausgang der Abstimmung. Sie wurde nicht nur seiner latenten Anglophilie gerecht, sondern auch einer anderen Sache, die ihm wichtig war. Er nutzte die gute Gelegenheit und sprach:

»Der Name Victoria steht natürlich nicht nur für Victory, Sieg, sondern auch für eine allgemeine Einstellung, für Respekt dem Anstand gegenüber …«

Von den Versammelten kam ein kollektives Stöhnen. Dies war eins von Chandlers Lieblingsthemen und es erfreute sich keiner großen Beliebtheit.

»Stöhnen Sie ruhig. Und protestieren Sie. Ich sehe, dass Sie protestieren. Aber ich beharre auf dieser Angelegenheit, in Ihrem eigenen Interesse. Wir brauchen ein gewisses Social Engineering bei der Entwicklung einer neuen Kultur für Victoria. Wir würden unsere historische Rolle verraten, wenn wir nicht die unheilvollen Konsequenzen in Betracht zögen, die sich durch ein zu hohes Maß an Laxheit, Nachgiebigkeit und falscher Toleranz ergeben könnten, und lassen Sie mich betonen, dass ich, wenn auch widerstrebend, Schritte einleiten und Maßnahmen ergreifen muss, die etwas repressiv erscheinen mögen, obwohl sie es natürlich nicht sind, denn wenn es zu viel Freizügigkeit gibt, an der uns nichts gelegen sein kann, weil, ich meine …« Chandler verlor den Faden.

Rektor Brill kam ihm zu Hilfe. »Ein mutiger Standpunkt, Senator. Wir sind die Baumeister einer ganz neuen Gesellschaft. Und während wir sie bauen, müssen wir mit geeigneten Maßnahmen den Schutz von Victorias Jugend gewährleisten. Fast die Hälfte der Bevölkerung von Victoria ist jünger als sechzehn Jahre. Und es kommt noch schlimmer: Fast die Hälfte unserer Bevölkerung steht kurz vor der Pubertät. Wir waten hier regelrecht in Hormonen. Die Erwachsenen müssen ihnen ein gutes Beispiel geben, womit ich meine, dass sie nicht nur anständig sein sollen, sondern regelrecht prüde. Alles andere liefe auf ein Spiel mit dem Feuer hinaus. Welchen Sinn hat es, wenn wir uns auf Wissenschaft, Verteidigung, die Künste oder unsere kulturelle Bedeutung für den Rest der Welt konzentrieren, wie es der Provost angedeutet hat, wenn es in unserer Nation massenhaft zu pubertären Orgien kommt? Wir müssen jetzt handeln, um so etwas zu verhindern und Victoria den Viktorianismus zu geben.« Brill zögerte und schien zuerst weitersprechen zu wollen, fand dann aber, dass ihm vermutlich keine besseren Schlussworte einfallen würden. Er setzte sich abrupt.

»Ich glaube, der Rektor hat den Nagel auf den Kopf getroffen.« Chandler verbeugte sich mit echter Zuneigung vor Brill.

Elgar Klipstein wirkte skeptisch. »Und welche Form soll der neue Viktorianismus annehmen, wenn ich fragen darf?«

Chandler straffte die Schultern und gab sich streng. »Die Form von Heirat, Captain Klipstein.« Er richtete einen ernsten Blick auf seinen Widersacher, der plötzlich errötete. Die am Ende des Tischs sitzende Melissa Blake hob die Hand vor den Mund, um ein Kichern zu verbergen.

»Heirat!«, wiederholte Chandler und sprach diesmal direkt zu Homer, der noch immer schlummerte. »Heirat!«, wandte er sich an Maria neben Homer. »Heirat«, fügte er gebieterisch an Adjouan gerichtet hinzu, der zufälligerweise als Nächster von seinem Blick getroffen wurde.

»Ich bin verheiratet, mein lieber Senator. Wenn ich noch mehr verheiratet wäre, liefe es auf Bigamie hinaus.«

»In der Tat, Mr. Elijah. Ich bitte um Entschuldigung. Sie und Ms. Elijah sind ein hervorragendes Beispiel für unsere Jugend. Aber es gibt andere an diesem Tisch, die einen Weg eingeschlagen haben, der nichts Gutes für unsere junge Nation verheißt. Die Betreffenden sollten so schnell wie möglich auf den rechten Pfad zurückkehren.« Chandler hob die Stimme und sah Klipstein und Melissa Blake an.

»Ich protestiere, Senator«, sagte Walter Porter. Chandler bedeutete ihm, still zu sein, aber der Professor war bereits aufgestanden und legte los. »Sollen wir den Aufbau der neuen Gesellschaft mit Repression und Unterdrückung beginnen? Nein, sage ich. Lasst uns unsere Ideale höher setzen. Nehmen wir uns ein Beispiel an Jefferson, Madison und Jay. Wenn es hier darum geht, den Grundstein für eine ganz neue Nation zu legen, so sollten wir um Himmels willen das Individuum und seine Freiheit in den Mittelpunkt stellen. Ich denke an eine Nation, in der die Vorurteile einer Gruppe nie das Gewicht von Gesetzen bekommen. Beginnen wir wie damals Jefferson, indem wir die Rechte des Individuums nicht beschneiden, sondern heiligen. Beginnen wir mit einer ›Charta der Freiheit‹. Wie können wir auch nur daran denken, woanders zu beginnen? Und lasst uns den anderen Rechten, die wir seit mehr als zweihundert Jahren zu schätzen wissen, eines hinzufügen, das der Oberste Bundesrichter Blackmun als Erster formulierte, nämlich das Recht, in Ruhe gelassen zu werden.« Professor Porters Gesicht glühte, als er fertig war.

Stille herrschte, als er sich setzte. Ed Barodin stand auf und zeigte seine volle Größe von mehr als ein Meter achtzig. Die anderen erwarteten, dass er sprach, aber er schwieg, sah nur Walter an und begann zu applaudieren. Loren war der erste, der ebenfalls aufstand und klatschte, gefolgt von Dekanin Sawyer, Dr. Chan und schließlich den meisten anderen. Sie applaudierten lange und laut.

»Nun«, sagte Chandler, als es wieder still wurde. »Nun. Ich wollte mich natürlich niemandem aufdrängen. Ich meine, es ging mir nur um Ordnung und … Ach, machen Sie, was Sie wollen«, sagte er verdrießlich.

»Danke«, erwiderte Edward. »Diesen Rat beherzigen wir gern.«

Die Lippen des Senators bebten kurz und dann sagte er mit von Herzen kommender Bitterkeit: »Ich bin nur Oberhaupt dieser Gemeinschaft, bis sich jemand findet, der für diese Aufgabe besser geeignet ist, wie Dr. Layton gesagt hat.« Er sah Homer an, der beim Applaus erwacht war. »Sie haben darauf hingewiesen, dass jemand aus unserer Mitte wachsen und schließlich meinen Platz einnehmen würde. Ich bin gern bereit, zur Seite zu treten, aber wo ist er, mein Nachfolger?«

Betretenes Schweigen folgte. Homer erwiderte Chandlers Blick mit ausdrucksloser Miene. Vielleicht wusste er gar nicht, worum es ging.

»Wo ist unser Oberhaupt?«, fuhr Chandler fort. »Wo ist er?«

Die Antwort kam nicht von Homer, sondern von Captain Candace Hopkins auf der anderen Seite des Raums.

»Sie«, sagte Candace.

Chandler sah sie verwirrt an. »Wie bitte?«

»Unser Oberhaupt, Chandler. Nicht Er, sondern Sie. Eine Frau. Sie ist schon vor einer ganzen Weile aus unserer Mitte ›gewachsen‹, wie du es genannt hast, und sie hat die von Homer vorhergesagte natürliche Autorität. Eine Autorität, die wir alle zu schätzen gelernt haben. Schon seit einer ganzen Weile gibt sie uns Rat und weist die Richtung. Es geht nur noch darum, sie offiziell als unser Oberhaupt anzuerkennen.«

Loren richtete einen unsicheren Blick auf Dekanin Sawyer und vermutete, dass Candace sie meinte. Aber Maria sah Kelly an und lächelte. Und dann galten ihr alle Blicke. Kelly blickte sich überrascht um und schien nicht zu verstehen, warum sie sich plötzlich im Zentrum der Aufmerksamkeit befand. »Aber ich bin doch nicht …«

Chandler stand auf. Er lächelte nicht, sondern strahlte regelrecht. Er sah seine Frau an, die ihn mit einem Nicken ermutigte. Daraufhin trat Chandler an Kellys Seite, nahm ihre Hand und zog sie auf die Beine. »Meine Damen und Herren, Bürger von Victoria … Hier ist unser Oberhaupt.«

Diesmal war es Dr. Armitage, der sich erhob und applaudierte. Fast sofort waren alle auf den Beinen und klatschten. Nacheinander gingen sie zu Kelly, um sie zu umarmen oder ihr die Hand zu schütteln. Loren war der Erste. Er küsste sie und hob sie hoch. »Es stimmt. Du bist unser Oberhaupt. Und meins.«

Kelly wirkte noch immer verdutzt und überwältigt.

Als wieder Stille einkehrte, führte Chandler Kelly zum oberen Ende des Tischs. Dann nahm er dort Platz, wo sie bis eben gesessen hatte, und sah sie wie alle anderen erwartungsvoll an.

»Aber ich will doch gar nicht Präsidentin sein …«, begann Kelly. »Ich weiß gar nicht, worauf es dabei ankommt. Und Chandler hat es so gut gemacht. Ich kann nicht Rektor, Provost, Proctor oder so etwas sein.«

»Sie können delegieren, Kelly. Sie müssen nicht alles sein.« Jared Williams klopfte ihr auf die Schulter.

»Na schön, dann delegiere ich hiermit die Aufgaben, die Sie alle bisher wahrgenommen haben. Ich möchte, dass Sie bleiben, was Sie sind. Geht das? Wären Sie bereit, auch weiterhin unser Präsident zu sein, Chandler? Wenn ich Sie darum bitte?«

»Selbstverständlich, Kelly. Um was auch immer Sie bitten.«

Sie wandte sich an Proctor Pinkham, der glücklich nickte, und an Suzikaya und Brill, bekam auch von ihnen eine Bestätigung. »Das erleichtert mich sehr. Ich kann gern eine Art Repräsentationsfigur sein, solange es nicht mehr bedeutet.«

»Nein, Kelly«, sagte Jared. »Wir erwarten mehr von Ihnen. Candace hat eben für uns alle gesprochen. Sie haben natürliche Autorität und sind unser Oberhaupt. Das ist uns allen im Lauf des vergangenen Jahrs klargeworden. Wer in diesem Raum hat Sie nicht irgendwann einmal um Rat gefragt? Ich habe das getan und die anderen ebenfalls. Sie haben uns den Weg gewiesen. Andere können für Sie die Verwaltung übernehmen, doch Ihre Stimme soll es sein, die die Richtung bestimmt.«

Kelly blickte voller Unbehagen auf ihre Hände.

»Welchen Rang soll sie haben?«, warf Dekanin Sawyer ein. »Es muss etwas sein, das Bedeutung verleiht, nicht nur für uns, sondern für alle. Wir können nicht einfach nur als ›Chef‹ von ihr denken. Es sollte ein förmlicher Titel sein, für unsere Kinder, für unsere Bevölkerung, wenn die Nation wächst. Kelly könnte uns die nächsten fünfzig Jahre führen und bis dahin ist aus unserer kleinen Gemeinschaft vielleicht ein Volk von einer Million Bürgern geworden. Wie sollen wir sie nennen?«

Es folgte ein stiller Moment und alle dachten nach. Als Kelly mit gesenktem Blick dasaß, mit goldenem Haar, das ihr auf die Schultern fiel … Sie sah so sehr nach einer Prinzessin aus, dass Claymore Layton es in Worte fasste. »Könnte Kelly nicht unsere Prinzessin sein?«

*

Der Rat ersann seine eigenen Regeln. Es gab keine festgelegte Prozedur dafür, jemanden zur Prinzessin zu machen, und deshalb wurde eine erfunden: Wahl durch Akklamation. Wer sollte sie daran hindern? Der Rausch der Hegemonie dauerte an. Die Versammelten erklärten Kelly zur Prinzessin von Victoria, was in ihren Gedanken an »Kaiserin von allem« grenzte.

Wie man es von einer gesitteten, herzigen Prinzessin erwartete, versuchte Kelly, die Ehre zurückzuweisen, was die anderen nur in ihrer Absicht bestärkte. »Ich bin gar nicht der Prinzessinnentyp«, sagte sie. »Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich Prinzessinnen und dergleichen gutheißen kann. Ich sehe mich eher als Verfechterin des Egalitarismus. Glaube ich wenigstens.« Sie richtete einen hilfesuchenden Blick auf Loren. Er lächelte nur und freute sich. »Könnte ich nicht Ballkönigin oder etwas in der Art sein? Vielleicht nur am Wochenende?«

»Ich möchte etwas dazu sagen, wenn ich darf.« D.D. Pease stand auf und wartete darauf, dass ihm Kelly Redeerlaubnis erteilte. Sie nickte geistesabwesend. »Captain Hopkins hat genau die richtigen Worte gewählt. Sie betonte, Kelly sei bereits das Oberhaupt unser Gemeinschaft und es fehle nur noch die offizielle Bestätigung. Das stimmt. Es stimmt schon seit vielen Monaten. Sie ist auch ein Symbol für uns gewesen. Als Dr. Martine mich für den Angriff auf Fort Belvoir auswählte, habe ich mir vor Angst fast in die Hose gemacht, wenn ich das so sagen darf. Ich brauchte etwas, für das es sich lohnte, das Leben aufs Spiel zu setzen, und dieses Etwas war Kelly. In meinen Gedanken stand sie für Baracoa und jetzt soll sie für ganz Victoria stehen. Alles ist ein Symbol, Kelly. Ihre eigenen Worte. Wenn ich noch einmal mein Leben riskiere, so für Prinzessin Kelly. Sie sind unser Symbol. Sie sind unsere Prinzessin. Wir müssen es nur noch offiziell bestätigen. Das ist erforderlich, damit wir fortfahren und zu größeren Taten schreiten können. Wir haben so getan, als genügte eine Abstimmung, um Sie in Ihre neue Rolle zu pressen, aber das genügt natürlich nicht. Sie müssen dazu bereit sein. Wir müssen Sie fragen und Sie müssen zustimmen. Und so frage ich nun für uns alle: Sind Sie bereit, unsere Prinzessin zu sein?«

Kelly wartete einen langen Moment und nickte dann, den Blick noch immer gesenkt.

Pease lächelte. »Jetzt zum schweren Teil. Sie haben uns lange Zeit geführt, ohne darüber nachzudenken. Von nun an müssen Sie alle Entscheidungen bewusst treffen. Wir nehmen unsere Anweisungen von Ihnen entgegen.«

Kelly nickte erneut und sah schließlich auf, als Pease wieder Platz nahm. Sie wirkte zuerst konfus, doch die Verwirrung löste sich schnell auf. Mit zuerst unsicherer, dann aber schnell fester werdender Stimme sagte sie zu Walter Porter: »Professor Porter, darf ich Sie darum bitten, eine Gruppe zusammenzustellen und eine Charta der Freiheit zu erarbeiten?«

»Es wäre mir eine Ehre.«

Sie wandte sich an Chandler. »Ich möchte Sie um etwas Besonderes bitten, Präsident Hopkins.«

»Gern.«

»Bitte skizzieren Sie für mich Ihre Pläne in Hinsicht auf einen neuen Viktorianismus. Es soll natürlich nur ein Vorschlag sein, mit dem wir uns an die Bevölkerung wenden, keine Haltung, die wir mit Gesetzen erzwingen. Aber ich denke, aus den von Ihnen genannten Gründen könnten wir am besten mit Selbstdisziplin und Stolz stark werden, nicht mit unbeschränkter Freizügigkeit. Ich werde mit Ihnen Rücksprache halten, wie sich dieses Ziel ohne Repression erreichen lässt.«

»Selbstverständlich.«

»Mr. Tomkis, Albert …«

»Ja. Was auch immer.«

»Könnten Sie sich Gedanken über Victorias Beziehungen zum Rest der Welt machen? Wenn wir stark sein sollen …« Kelly unterbrach sich und wählte ihre Worte neu. »Wir müssen stark sein, denn immerhin sind wir die Hüter des Friedens. Wenn wir uns unterwerfen lassen, kehrt die Welt zu dem Zustand zurück, in dem sie sich befand, bevor Dr. Layton den ersten Effektor einschaltete. Es ist unsere Pflicht, die Welt vor ihren eigenen schrecklichen Leidenschaften zu schützen. Wenn wir stark genug bleiben wollen, um dieser Aufgabe gerecht zu werden, müssen wir wachsen. Das bedeutet eine größer werdende Bevölkerung für Victoria, genug Bürger für die Sicherung unserer Grenzen. Wir müssen mit dem Rest der Welt Handel treiben und uns überlegen, wie wir das bewerkstelligen können, ohne unseren gegenwärtigen Vorteil aufzugeben. Wie wäre es möglich, unsere Technologie zu teilen und der Welt beim Wiederaufbau zu helfen, ohne unsere Rolle zu gefährden? Wären Sie bereit, darüber für mich nachzudenken?«

»Natürlich … Prinzessin.«

»O bitte!« Kelly schnitt eine Grimasse.

»Ich werde darüber nachdenken, Kelly. Sie können auf mich zählen.«

Loren wollte plötzlich nach draußen, um die gute Nachricht zu verkünden. Den anderen erging es vielleicht ebenso. Er wartete darauf, dass Kelly die Besprechung beendete, doch zum Schluss hob Chandler noch einmal die Hand. Kelly nickte ihm zu.

»Noch eine letzte Sache an diesem bereits ereignisreichen und aufregenden Tag. Es gibt da noch ein anderes Symbol, über das wir nachdenken sollten. ›Alles ist ein Symbol‹, hat unser Oberhaupt betont. Versuchen Sie einmal, dies alles aus der Sicht eines Schulkinds von Victoria zu sehen, zum Beispiel eines Vierzehnjährigen.« Chandler dachte dabei vor allem an eine bestimmte Vierzehnjährige. »Unsere Inselnation hat jetzt die Identität, die wir alle für richtig halten. Sie hat auch eine Fahne und eine wundervolle Prinzessin. Aber wie wäre es, wenn die Prinzessin verheiratet wäre, und zwar mit Victorias größtem Helden, einem attraktiven jungen Mann, der uns zum Sieg geführt hat und dabei zweimal verwundet wurde …«

»Chandler!« Ed Barodin warf die Hände hoch. »Sie haben Nerven!«

»… mit einem Mann«, fuhr Chandler fort, »der unsere Prinzessin liebt, wenn mich meine alten Augen nicht täuschen, und von ihr geliebt wird. Denken Sie nur, wie stark ein solches Symbol für uns alle wäre.«

Loren stand auf, lächelte und schüttelte den Kopf. »Sie haben echt Nerven, Chandler. Da hat Ed recht. Und Ihre Augen haben Sie nicht getäuscht.« Er trat zu Kelly, fühlte sich wohl und seiner sicher. Neben ihrem Stuhl sank er auf ein Knie, legte ihr die Hand auf den Arm und zögerte lange genug, um ihr zu zeigen, was jetzt kam. Die anderen am Tisch erhoben sich. »Willst du mich heiraten, Prinzessin? Willst du, Kelly? Gibst du mir deine Hand?«

Loren hatte an mehrere mögliche Antworten gedacht, aber Kelly gab ihm keine davon. Stattdessen blickte sie auf den Tisch und lächelte schüchtern. Als sie sprach, galten ihre Worte nicht allein Loren, sondern der ganzen Gruppe.

»Das könnte eine gute Lösung für unser kleines Problem sein«, sagte sie.

»Welches kleine Problem?«, fragte Chandler nach kurzem Zögern.

Kelly senkte erneut den Blick. »Eure viktorianische Prinzessin ist schwanger.«