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T-prime

Es war ein Kinderspiel. Homer hatte ihm den Auftrag am Sonntag um acht Uhr abends gegeben und um zehn Uhr am Montagmorgen war Loren mit der Arbeit fertig. Wenn Homer ihn aufgefordert hätte, alles in vier Stunden zu erledigen, wäre das Ergebnis kaum anders gewesen. In vier Stunden hätte er die Gleichungen schreiben und einige empirische Tests skizzieren können, um ihre Stichhaltigkeit zu beweisen. Vier Stunden hätten ihm reichlich Zeit gegeben.

Für Loren war es eine Frage der Ehre gewesen, nicht sofort mit der Aufgabe zu beginnen. Bis zum Montagmorgen hatte er sogar vermieden, daran zu denken. Die letzten Stunden des Sonntags widmete er seinem Ärger darüber, wie Homer ihn behandelt hatte. Als sein Groll nachließ, machte er sich mit einem großen Bündel schmutziger Wäsche auf den Weg zur rund um die Uhr geöffneten Wäscherei an der College Avenue und füllte dort sechs Maschinen. Während sie arbeiteten, machte er einen Abstecher in die ebenfalls geöffnete Buchhandlung auf der anderen Straßenseite. Später, in seiner Küche, wusch er das ganze schmutzige Geschirr, das sich in der Spüle angesammelt hatte, und holte zwei Pfannen, eine Rührschüssel, ein Schneidbrett und ein Messer hervor.

Der Körper war wach und für den Geist gab es nicht mehr zu tun, als zuzusehen, wie die Hände Kartoffeln in perfekte, drei Millimeter dicke Scheiben schnitten. Zweimal hielt er inne und schärfte das Kochmesser. Das Gemüse kam mit Olivenöl in eine große Pfanne auf niedriger Flamme. Während es garte, reinigte er den Küchenboden. Anschließend verrührte er fünf Eier in der Schale, gab sie in die heiße Butter der anderen Pfanne und fügte die Zwiebel und Kartoffeln hinzu. Er säuberte die erste Pfanne, langte dabei gelegentlich nach der zweiten Pfanne und schüttelte sie. Als die Tortilla de patata auf einer Seite fertig war, schüttelte er sie erneut und drehte sie in der Luft, wie es Asunción machte, damit ihre andere Seite braten konnte. Er deckte den Tisch für eine Person, setzte sich und aß den größten Teil der Tortilla mit einem Baguette und einem Glas Wein. Danach räumte er die Küche auf, nahm ein langes Bad und schnitt sich die Nägel. Dummer Homer. Er zog sich langsam vor dem Spiegel an. Der junge Mann, der ihn dort verdrießlich ansah, würde Teil eines wichtigen Ereignisses in der Welt der Physik werden, daran bestand kein Zweifel. Homer hatte etwas Fundamentales entdeckt, das die Wissenschaft für immer verändern würde, und Loren gehörte zum Team. Er würde einige Lorbeeren für das kassieren, was er in einigen Stunden zu Papier bringen wollte. Wie hatten sich De Broglie oder Thomson in einem solchen Moment gefühlt? fragte sich Loren. In welcher Stimmung war Newton gewesen, bevor er sich hingesetzt und die Prinzipien geschrieben hatte? Diese Leute hatten bestimmt etwas empfunden. Er hingegen spürte nichts.

Seufzend kehrte er in die Küche zurück und schien sich dort erneut in einen Beobachter zu verwandeln, der zusah, wie die Hände arbeiteten. Sie schnitten eine braune Einkaufstüte auf und glätteten sie auf dem Tisch. Die rechte Hand schrieb Gleichungen mit einem schwarzen Kugelschreiber. Lorens Intellekt war vielleicht gar nicht daran beteiligt oder nur wenig. Es schien ihm ein mechanischer Vorgang zu sein, wie das Schneiden von Kartoffeln.

Am Morgen starrten ihn sechs Gleichungen an, die sechs Gleichungen, die die Wissenschaft der Quantenphysik neu definieren würden.

*

Homer, Sonia und Edward würden an diesem Abend gegen halb sieben oder sieben eintreffen und dann erwartete man vermutlich eine Präsentation von Loren. Für Homer hätte sie keine neuen Informationen, aber für Sonia und Edward musste die Sache umwerfend sein. Also hielt Loren es nur für angemessen, alles in die richtige Form zu bringen. Er kehrte nach Clark Hall zurück und entwickelte einige Bilder, die während der Präsentation auf dem Plasmaschirm erscheinen sollten. Vor dem Computerraum begegnete er Curly Burlingame, der zum Mittagessen wollte.

»Oh, Loren. Sie sind hier. Ich hätte da eine Frage.«

»Klar.«

»Sie halten mich nur für eine Art Verwalter, aber ich kenne mich ebenfalls ein bisschen mit der Physik aus. Ich meine, ich kann lesen. Und ich habe zum Beispiel dies hier gelesen.« Er gab Loren einen Zeitungsausschnitt, der aus dem Syracuse Herald American vom vergangenen Tag stammte. Folgende Worte waren zweimal eingekringelt und unterstrichen:

»Wissenschaftler haben sehr genau gemessen, dass 99,97 Prozent der Masse eines Atoms im Atomkern steckt. Sie haben auch festgestellt, dass die Sonne 99,87 Prozent der Masse des ganzen Sonnensystems hat.«

»Was halten Sie davon?«, fragte Burlingame aufgeregt.

»Es ist interessant.«

»Oh, sehr interessant. Aber halten Sie es nur für einen Zufall?«

»Äh, ich denke schon. Ich meine, was sollte es sonst sein?«

»Ordnung. Es gibt phänomenale Ordnung im Universum.«

»Die gibt es tatsächlich, das stimmt.«

»Nicht nur eine Ordnung, wie Sie und ich sie auf unseren Schreib­tischen schaffen, um nur ein Beispiel zu nennen, sondern eine Art übernatürliche Ordnung.«

»Hm. Woher kommt Ihrer Meinung der Unterschied von einem Zehntel Prozent?«

»Keine Ahnung. Das wollte ich Sie fragen.«

»Oh.« Loren sah ihn an und wusste nicht, was er sagen sollte.

»Es liegt Bedeutung in diesem Unterschied«, fuhr Burlingame fort. »Da bin ich ganz sicher. Viele Dinge haben Bedeutung, man muss sie nur finden. Es ist fast perfekt, aber nicht ganz, und darin verbirgt sich eine Botschaft. Es ist so, als hätte der Schöpfer etwas an den Himmel geschrieben.« Er hob die Hände, als wollte er auf die Schriftzeichen am Himmel zeigen. »Seine Worte lauten: DIES IST DIE WAHRHEIT … ODER VIELLEICHT AUCH NICHT. Er stellt uns vor ein Rätsel. Er fordert uns heraus. Ich weiß es. Ich hatte mir von Ihnen eine Erklärung erhofft.«

Loren suchte nach einer Antwort, die Burlingame zufriedenstellte. Er sollte mit dem Projekt zufrieden sein, das war wichtig. Loren überlegte, wie Senator Hopkins auf diese Frage reagieren würde, welche Reaktion er von ihm, Loren, erwartete. Ihm fiel nichts ein.

»Meine Erklärung lautet: Es ist wahrscheinlich Zufall. Oder, in diesem Fall, fast Zufall.«

Das war nicht die Antwort, nach der Burlingame gesucht hatte. Er wirkte enttäuscht und auch verärgert. »Zufall. Sagen Sie mir, Dr. Martin, wie viele Grad liegen zwischen gefrorenem und kochendem Wasser.«

»Hundert.«

»Ich meine in Amerika, verdammt.«

»Auf der Fahrenheit-Skala sind es hundertachtzig: zweihundertzwölf minus zweiunddreißig.«

»Genau. Und wie viel Grad liegen zwischen Norden und Süden?«

»Hundertachtzig.«

»Und das halten Sie wohl auch für einen Zufall, wie?« Burlingame drehte sich um und stürmte hinaus.

*

Die Vorbereitung der Präsentation nahm mehr Zeit in Anspruch als die Entdeckung der falschen Konstante, die sich in der Zeit verbarg. Loren programmierte Dutzende von Bildern, überlegte und fügte ihnen ein einfaches Diagramm hinzu, um das Konzept zu veranschaulichen. Schließlich führte er das einfachste der Bestätigungsexperimente durch, die er entwickelt hatte. Dabei ging es um die Messung der Phasenverschiebung eines weißen Lichtstrahls, der sich dem Maserstrahl näherte. Mit einer Digitalkamera machte er Aufnahmen vom Versuchsaufbau und den aufgezeichneten Ergebnissen und schickte die Bilder SHIELA, damit sie bei der Präsentation auf dem großen Schirm gezeigt werden konnten. Als die anderen kamen, war Loren bereit. Zwanzig Minuten später wussten sie, was er wusste.

Sonias Reaktion war fast rein emotional. »Es ist wunderschön, Loren. Es ist das Schönste, das ich je gesehen habe.« Sie sprang auf und umarmte ihn. Und dann, ganz langsam, küsste sie ihn vor allen anderen. Es geschah zum ersten Mal, dass sie ihn in Anwesenheit anderer Personen küsste.

Er bekam auch einen Kuss von Kelly. Loren hielt es für unwahrscheinlich, dass sie wirklich verstanden hatte, worum es ging, aber sie wusste: Etwas Wichtiges war geschehen. Und sie war ebenso aufgeregt wie die anderen. »Wir sind sehr stolz auf dich, Loren«, sagte sie.

»Es war brillant«, fügte Sonia hinzu. »Du bist brillant.«

»Wir verdanken es Homer.« Loren war nicht mehr verärgert, nur ein bisschen traurig, dass er so wenig damit zu tun hatte.

»Homer hatte die Ahnung«, erwiderte Sonia. »Wir alle wussten, dass er einem Phänomen auf der Spur war, das mit der Zeit in Verbindung steht. Aber du hast herausgefunden, was es damit auf sich hat.«

»Nein. Homer hat auch die Entdeckung gemacht. Ich sollte nur alles wiederholen und zu denselben Ergebnissen gelangen.«

Alle sahen Homer an, der lächelte. Er wirkte wie ein Kind, das eine ganz neue Art von Schalk erfunden hatte. »Nein, falsch. Ich habe versucht, der Sache auf den Grund zu gehen, aber es ist mir nie gelungen.«

»Aber du hast gesagt, du wüsstest über alles Bescheid.«

»Das war eine kleine, harmlose Lüge. Die gibt es hier bei uns in Amerika: kleine, harmlose Lügen.«

»Du hast gelogen!«

Homer schien es nicht zu bereuen. »Nur ein kleines bisschen. Ich hatte eine Ahnung, wie Sonia gesagt hat. Ich dachte, dass an der Idee vielleicht etwas dran ist. Aber als ich daranging, die Theorie auszuarbeiten, kam ich keinen Schritt weiter. Nicht einmal bis zu deiner ersten Gleichung bin ich gekommen. Sie erfordert einen Erkenntnissprung, eine neue Perspektive, eine neue Art des Verstehens. Den Rest hätte ich vielleicht geschafft, aber ohne die erste Gleichung war nichts zu machen. Was bin ich doch für ein Dummkopf gewesen. Jetzt, nachdem du es mir gezeigt hast, komme ich mir blöd vor. Und doch bin ich klug vorgegangen. Ich dachte mir: Wenn ich dir gegenüber behaupte, schon alles ausgearbeitet zu haben, bist du vielleicht zu dem Erkenntnissprung imstande. Ich konnte es nicht schaffen, weil mir der Glaube fehlte. Aber du hast geglaubt. Weil ich dich gefoppt habe.«

»Gefoppt? Was bedeutet das?«

»Ich habe dich getäuscht, hereingelegt, an der Nase herumgeführt, zum Narren gehalten.«

»Du alter Schwindler.«

»Ein alter Schwindler. Sehr alt und sehr verlogen. Aber noch nicht tot. Es steckt noch Leben in ihm! Er ist zu alt für anstrengendes Denken, aber nicht zu alt für die eine oder andere Fopperei. Und sieh dir nur das Ergebnis an! So hübsch wie die Relativitätstheorie oder die Quanten­mechanik. Dies ist …« Er deutete zum großen Bildschirm, auf die erste der Gleichungen. »Dies ist schrecklich, schrecklich … schön.«

Edward hatte bisher geschwiegen. »Lieber Himmel, Loren«, sagte er jetzt, und es klang zutiefst beeindruckt, »es ist unheimlich. Ich habe das Gefühl, am Rand eines Abgrunds zu stehen und in die Tiefe zu blicken. Ich komme mir irgendwie … nackt vor. Vor einer halben Stunde kannte ich noch tausend Wahrheiten, aber plötzlich ist alles infrage gestellt. Die Zeit war ein bekannter Faktor, der dabei half, alles andere zu verstehen. Als Siebenjähriger habe ich gelernt, dass Strecke gleich Geschwindigkeit mal Zeit ist. Und jetzt, mit einunddreißig Jahren, erfahre ich, dass dem nicht unbedingt so sein muss. Was zum Teufel bedeutet es, dass es zwei Variablen gibt und nicht nur eine? Was bedeutet es, dass das, was wir bisher für die Zeit gehalten haben, das Kreuzprodukt von t und dem neuen Faktor ›T-prime‹ ist?«

»Na ja, eigentlich bedeutet es gar nichts, solange T-prime unverändert bleibt. Was auch meistens der Fall ist. Die Strecke bleibt Geschwindigkeit mal Zeit. In den meisten Fällen.«

»›In den meisten Fällen‹«, wiederholte Edward. »Der Unterschied zwischen ›immer‹ und ›in den meisten Fällen‹ ist genau der Abgrund, in den ich blicke.«

Er stand auf und schüttelte Loren die Hand. »Aber es ist wunderschön, wie Sonia gesagt hat, Loren. Ich hätte nie gedacht, bei einem solchen Moment zugegen zu sein.« Er legte Loren den Arm um die Schulter.

Für einen Moment schien es, als sei es vorbei mit der Aufregung, als könnten sie einfach wieder an die Arbeit gehen und damit beginnen, die Konsequenzen der gerade erläuterten Entdeckung zu untersuchen. Dann sah Homer erneut die volle Bedeutung der Entdeckung, lehnte sich zurück und rief: »Huuuiiieeeh!« Der Stuhl kippte und Homer sprang auf, tanzte umher wie ein Apache. Es fiel schwer, nicht an dem Freudentanz teilzunehmen. Sie tanzten alle und klopften sich gegenseitig auf den Rücken.

So plötzlich Homer begonnen hatte, so plötzlich hörte er wieder auf.

»He, Leute, was soll das? Party auf Regierungskosten? Der Staat bezahlt euch einen Batzen Geld dafür, dass ihr arbeitet, und stattdessen tanzt ihr wie Irre. Also wirklich! Gegenseitiges Umarmen und Küssen während der Arbeitszeit. Was würde Curly Burlingame davon halten? Reißt euch zusammen. Schluss damit, setzt euch!« Er richtete einen anklagenden Zeigefinger auf Sonia und Loren. »Schluss damit, habe ich gesagt. Setzt euch, ihr alle.«

Sie setzten sich und grinsten noch immer. Homer zwang sich, ernst zu sein. Es wartete viel Arbeit auf sie. Vielleicht feierten sie, während Berkeley und Princeton den nächsten Schritt machten. Niemand von ihnen wusste, welche Fortschritte die Konkurrenz erzielt hatte. Vielleicht war sie schon viel weiter. Vielleicht ging sie vor ihnen an die Öffentlichkeit. Möglicherweise würden zukünftige Studenten T-prime »Princeton-Faktor« oder gar »die Armitage-Zahl« nennen. Ein schrecklicher Gedanke. Sie mussten die Arbeit fortsetzen, bevor Rivalen ihnen ihre große Entdeckung stahlen.

»T-prime. Was in aller Welt ist das? Wir wissen etwas. Aber mir geht es um das, was wir noch nicht wissen. Warum verändert sich T-prime in dem Strahl? Warum im Innern eines Maserstrahls und nicht in einem Laserstrahl? Wie kann die Zeit an einem Ort verzerrt sein und wenige Zentimeter entfernt völlig normal ablaufen? Warum ist die Veränderung von T-prime abrupt und nicht graduell, wenn man den Strahl verlässt? Warum findet die Veränderung etwa einen Zoll außerhalb des Strahls statt und nicht an seinem Rand? Warum ist die Flamme im Strahl viel niedriger, obwohl Kocinski beim Gasvolumen nur einen Unterschied von 0,04 Prozent festgestellt hat? Die Wirkung auf die Flamme ist viel größer, groß genug, um sichtbar zu sein. Was können wir mit dem Effekt anstellen? Wie kann man ihn verwenden? Was würde mit einem Menschen im Strahl passieren? Könnte er dort leben? Würde er Veränderungen wahrnehmen? Das sind zunächst genug Fragen. Ich erwarte zwei oder drei Antworten von jedem von euch, und zwar fix. Wer übernimmt was?«

Edward hob die Hand. »Ich glaube, ich weiß, warum die Flamme so und nicht anders brennt. Lass mich daran arbeiten. Wenn ich recht habe, kann ich in einer Stunde was zeigen.«

»Ed hat die Flamme. Sonia?«

»Ich möchte darüber nachdenken, was es bedeutet, Homer. Wir wissen, dass es zwei mögliche Werte für T-prime gibt, den normalen und den anderen, innerhalb des Strahls. Aber für die letzte Gleichung gibt es drei Lösungen, nicht zwei. Es existieren also drei stabile Werte für T-prime. Ich möchte überlegen, was es mit der dritten Lösung auf sich hat.«

»Dr. Duryea kümmert sich um den dritten stabilen Wert. Loren?«

»Ich möchte mich mit der Frage befassen, was die Veränderung bewirkt.«

»Loren übernimmt die Ursache. Kelly, wir beide führen die fünf anderen Bestätigungsversuche durch, die Loren vorgeschlagen hat, und zeichnen die Ergebnisse auf. Heute schreibt jeder etwas ins Protokoll. Kein coitus interruptus. An die Arbeit.«

*

Kelly kam in die Küche, als Loren Kaffee kochte. Es war zwei Uhr morgens.

»Ich habe alle Bilder ausgedruckt, die du bei der Präsentation benutzt hast, und sie dem Protokoll hinzugefügt. Und ich habe Homers diktierte Notizen in Schriftform gebracht. Sie sind noch nicht Teil des Protokolls, weil ich mir dachte, dass du den Text durchsehen und ihn korrigieren möchtest. Vielleicht habe ich das eine oder andere Wort falsch geschrieben.«

»Wieso tippst du, anstatt mit Homer zu arbeiten?«

»Er telefoniert seit einer Stunde mit Albert.«

»Tomkis?«

»Ja. Wer hätte gedacht, dass der alte Knabe um diese Zeit wach ist?«

»Ich schätze, im State Department ist irgendetwas los.« Loren zuckte mit den Schultern.

»Er klang besorgt. Aber so klingt er immer. Er ist sozusagen ein professioneller Pessimist. Ich finde ihn sehr nett, Loren. Er ist der einzige Mann der Projektaufsicht, bei dem ich glauben kann, dass er eine Mutter hatte und irgendwann einmal einen Liebesbrief geschrieben oder ein Baby gekitzelt hat.«

»Das macht ihn also besser. Wir sollten für Curly und Rupert Paule obligatorische Kurse in Babykitzeln fordern. Dann ginge es hier vielleicht vernünftiger zu.«

Kelly lächelte, war mit den Gedanken aber woanders. Sie dachte an T-prime, wie sie alle. »Was bedeutet es, dass dieser T-prime-Faktor der Zeit existiert, Loren? Wäre es damit zum Beispiel möglich, eine Zeitmaschine zu bauen? Oder könnten wir uns jünger machen?«

»Nein und nein. Ich fürchte, einen praktischen Nutzen hat es nicht. Es ist wie mit der Entdeckung der Fraktale oder der Goldbach’schen Vermutung in Hinsicht auf Primzahlen. Interessant ist so etwas nur für Leute wie uns, die von der realen Welt völlig abgekapselt sind.«

»Ich glaube nicht. Diese Sache ist zu fundamental, um keine konkreten Auswirkungen zu haben. Sie ähnelt der Entdeckung des Feuers und wird die Welt verändern, ich fühle es.«

»Die Welt der Physik wird sie zweifellos verändern, das steht fest«, sagte Loren.

»Auch die Welt der Menschen. Angenommen, man kann den Effekt vom Strahl trennen. Angenommen, man könnte eine Art T-prime-Taschenlampe entwickeln, deren Licht bei jedem, den es trifft, die Zeit verändert, sie langsamer ablaufen lässt. Wenn man die Taschenlampe auf einen zornigen Mann richtet, wäre er dann weniger geneigt, etwas Törichtes anzustellen?«

»Er wäre null Komma null vier Prozent weniger schnell. Keine große Hilfe, schätze ich.«

»Angenommen, wir richten die Taschenlampe auf die ganze Welt. Würde sie etwas ändern?«

»Ich weiß nicht, Kelly.«

Homers Tür stand wieder offen. Loren sah ihn im Sessel vor dem Schreibtisch sitzen und ins Leere starren.

*

»Hallo, ihr alle«, sagte Ed. »Wird Zeit, euch etwas zu zeigen.« Er deutete zum Computerraum und ging dann los, um Homer und Sonia zu holen, während Kelly und Loren Platz nahmen. Der Plasmaschirm zeigte eine kleine tanzende Flamme.

Als sie alle versammelt waren, begann Ed: »Wenn T-prime vom normalen ersten Wert zum stabilen zweiten wechselt, ergibt sich daraus eine nur sehr geringe Wirkung. Im Innern des Strahls vergeht die Zeit um 0,04 Prozent langsamer. Wenn man also eine Flamme in den Strahl hält, sollte man meinen, dass sie 0,04 Prozent weniger Wärme abgibt. Man sollte kaum einen Unterschied bemerken. Aber beim Experiment schrumpft die Flamme im Innern des Strahls auf etwa die Hälfte ihrer ursprünglichen Größe.«

Die anderen nickten.

»In der Flamme geschehen zwei Dinge, die ein wenig von dem abweichen, was man erwartet. Erstens: Die potenzielle Energie des Streichholzes ist geringer. Das Streichholz entstand unter dem Einfluss eines anderen T-prime. Der entsprechende Wert ist Teil seiner Struktur. Es gibt unter dem Einfluss von T-prime-zwei weniger Energie ab, weil es ein T-prime-Streichholz ist.«

»Keine große Sache«, kommentierte Homer. »Es brennt also 0,08 Prozent langsamer anstatt 0,04 Prozent. Man würde den Unterschied trotzdem nicht bemerken.«

»Nein, das würde man nicht«, pflichtete ihm Ed bei. »Es ist der andere Effekt, auf den es ankommt.« Er gab an seiner Konsole eine Anweisung ein und der Plasmaschirm zeigte eine einfache Differentialgleichung. »Der zweite Effekt verändert die ganze Art der Differentialrechnung. Bei jeder die Zeit betreffenden Ableitung muss man jetzt beide Faktoren berücksichtigen, sowohl T als auch T-prime.« Er legte eine kurze Pause ein, um seinen Zuhörern Gelegenheit zu geben, darüber nachzudenken. Homer, Sonia und Loren starrten mit offenem Mund auf die Gleichung.

»Hab Erbarmen, Edward«, sagte Kelly. »Was ist eine Ableitung? Ich bin nie bis zur Differentialrechnung gekommen.«

»Oh. Es geht dabei um die Art und Weise, wie sich Dinge verändern, Kelly. Etwas verlangsamt sich um 0,04 Prozent im Innern des Strahls, aber wenn es versucht zu beschleunigen, ist der Effekt viel größer als nur 0,04 Prozent. Man sieht eine Veränderung beim brennenden Streichholz. Die Temperatur des Gases müsste plötzlich zunehmen.«

»Mit anderen Worten …« Kelly überlegte. »Wenn wir mit einem kleinen Wagen im Strahl unterwegs wären, würde er um 0,04 Prozent langsamer, was mir gar nicht auffiele. Aber wenn ich aufs Gaspedal trete, reagiert der Wagen träger als sonst?«

»In gewisser Weise. Zunächst einmal: Du würdest die Veränderung der Geschwindigkeit um 0,04 Prozent selbst dann nicht bemerken, wenn deine Sinne dazu imstande wären, denn die Uhr deines Körpers ginge ebenfalls um 0,04 Prozent langsamer. Auch wenn du präzise Instrumente für die Messung der Geschwindigkeit hättest, sie wären wie alles andere um 0,04 Prozent verlangsamt und könnten gar keine Veränderung messen.«

»Na schön. Und die Beschleunigung?«

»Auch bei der Beschleunigung würdest du keinen Unterschied bemerken, wohl aber ein Beobachter mit anderem T-prime. Wenn dein T-prime geringer ist, wird die Beschleunigung langsamer, aber mit ihr auch deine Wahrnehmung der Beschleunigung.«

»Würde mir nicht auffallen, dass die Flamme niedriger brennt?«

»Ja, was aber an der Kombination beider Effekte liegt. Das Streichholz besteht aus gewöhnlichem T-prime-Holz. Wenn du im Strahl wärst und der Baum, dessen Holz für das Streichholz verwendet wurde, im Innern des Strahls gewachsen wäre, sähe für dich alles ganz normal aus. Für uns draußen wäre der Unterschied sehr gering. Aber wenn man die geringere Energie des Holzes mit dem erhöhten Widerstand Veränderungen gegenüber kombiniert, vergrößert sich der Unterschied so sehr, dass er in jedem Fall sichtbar wird, ganz gleich, von wo aus man das Geschehen beobachtet.«

Kelly blickte ins Leere. »Da das gesamte zur Verfügung stehende Holz und alle anderen Brennstoffe dem Einfluss von T-prime ausgesetzt waren … Würde es bedeuten, dass der Strahl wie eine Art elektronischer Feuerlöscher funktioniert?«

»Ja. Allerdings ist er nicht stark genug, um zu löschen. Er reduziert nur.«

Sonia hob die Hand. »Er könnte aber ein Feuerlöscher für Explosionen sein.«

Alle schwiegen einige Sekunden lang.

Sonia fuhr fort: »Im Innern des Strahls ist vielleicht keine Explosion möglich, weil in einem Sprengstoff von T-prime-eins nicht genug Energie steckt, um in T-prime-zwei zu explodieren. Hat jemand versucht, ein Streichholz im Innern des Strahls zu entzünden?«

»Haben wir das am Sonntag gemacht, Homer?«

»Nein. Zumindest ich nicht. Ich habe die Streichhölzer immer außerhalb des Strahls entzündet und sie dann in den Strahl gehalten.«

Alle fünf standen auf und gingen in Homers Zimmer. Loren schaltete den Maser ein und nahm die Streichhölzer. Er hielt die Hände in den Lichtstrahl und versuchte, ein Streichholz anzuzünden. Es ging nicht.

»Oh, oh, oh«, sagte Homer. Er kletterte auf eine Instrumententruhe und suchte dahinter nach etwas. Eine Zeit lang war nur sein Hintern zu sehen; der Rest von ihm war nach unten gebeugt. Als er sich wieder aufrichtete, hielt er eine Leuchtpistole in der Hand. Bei den Segelbootrennen für die Kinder der Stadt hatte er sie als Startpistole verwendet.

Loren spürte, wie sein Herz schneller schlug, als sich Homer dem Strahl näherte, die Pistole in den Strahl hielt und dreimal abdrückte. Nichts geschah. Dann hielt er die Pistole hoch in die Luft und drückte erneut ab. Es knallte laut, begleitet von einem gelben Lichtblitz.

Es dauerte einige Sekunden, bis das Dröhnen aus ihren Ohren verschwand.

Kelly lächelte: »Es gibt einen Verwendungszweck für unsere T-prime-Taschenlampe, Loren. Wenn wir sie auf den zornigen Mann richten, kann er nicht mehr schießen.«