38
Wo Engel
zittern
Die Männer brachten Loren in einen gefliesten Hygienetrakt im Keller des Herrschaftshauses. Dort gab es mehrere Duschkabinen, durch Vorhänge abgetrennte Umkleidezimmer und vier separate Toiletten mit Waschbecken. In einem Nebenzimmer stand eine alte Badewanne und hinzu kam ein Wandschrank – das war alles. Die Haupttür des Hygienetrakts war von außen verriegelt, die Fenster waren hoch und klein. Überall herrschte eine alles durchdringende feuchte Kälte.
Loren brauchte vier Stunden, um sich von den Fesseln zu befreien. Sein linkes Auge war angeschwollen, was er zumindest zum Teil dem Tisch verdankte, gegen den er gestoßen war. Bei einem der Waschbecken ließ er kaltes Wasser darüber laufen. Unter dem Auge zeigte sich eine hässliche Prellung an der Wange. Loren betrachtete sein Spiegelbild im matten Licht. Was war an ihm so hassenswert? Was hatte den Zorn der schwarzgekleideten Männer geweckt? Er fühlte nichts, was sie betraf; wie hatte sich in ihnen so viel Wut auf ihn anstauen können? Das blasse Gesicht im Spiegel erschien ihm ungeeignet für so intensive Empfindungen. Natürlich ging es gar nicht um das Gesicht, auch nicht um ihn selbst. Das wusste Loren. Er hatte nur das Pech, etwas zu symbolisieren, das die Männer hassten. Er war ein Symbol, nichts weiter. Ein Symbol für den Feind, das Unheilige, für die Dunkle Präsenz.
Die weißen Kacheln des Bodens waren eiskalt unter seinen bloßen Füßen. In einer Ecke lagen mehrere benutzte Handtücher, nicht zu feucht. Er schlang einige von ihnen um sich und versuchte zu schlafen. Sein Gehirn funktionierte nicht richtig; Schlaf half vielleicht. Er schien nicht einschlafen zu können, aber plötzlich erwachte er, vor Kälte zitternd. Es konnte nicht viel Zeit vergangen sein, vielleicht nur Minuten.
Es kam noch immer kein Licht durch die kleinen, hohen Fenster. Nur die schwach leuchtende Glühlampe an der Decke verhinderte vollständige Dunkelheit. Elektrischer Strom bedeutete, dass es vielleicht noch mehr Lampen gab. Loren begann mit einer Runde durch den Trakt, tastete im Dunkeln und suchte insbesondere neben der Tür, durch die man ihn hereingebracht hatte. Und tatsächlich: Seine Finger fanden einen alten Schalter. Als er ihn drehte, ging oben eine Leuchtstoffröhre an. In der Nähe von Asheville hatte es kaum Anzeichen von Elektrizität gegeben und er fragte sich, woher dieser Strom stammte. Wenn es Licht gab … Vielleicht existierte auch eine Heizung. Er hielt nach einem Thermostat Ausschau und als er keinen fand, probierte er es mit dem warmen Wasser in einer der Duschkabinen. Nach einigen Momenten wurde das kalte Wasser tatsächlich warm und dann heiß. Loren zog sich aus und trat in die Kabine. Nach der Dusche ließ er das heiße Wasser laufen, damit es in dem Raum etwas wärmer wurde. Mit grimmiger Befriedigung dachte er daran, dass er auf diese Weise vielleicht das ganze Warmwasser verbrauchte, wodurch die Leute, die ihn gefangen genommen hatten, gezwungen waren, am Morgen kalt zu duschen. Er fühlte sich viel besser, streckte sich auf dem aus Handtüchern improvisierten Bett aus und schlief tief und fest.
*
Gegen Mittag öffnete sich die Tür, und jemand schob ein Tablett mit warmen Cornflakes und einem Glas Milch herein – es hatte sogar jemand Honig auf die Cornflakes gegeben. Es folgten weitere Stunden des Wartens. Loren versuchte sich vorzustellen, was ihn erwartete, aber seine Fantasie versagte. Er hätte Angst haben sollen. Tatsächlich fürchtete er sich ein bisschen, wegen des Zorns der Schwarzgekleideten auf ihn. Und wegen Sonia. Unvernunft kennt keine Grenzen, erinnerte er sich.
Als sich die Tür das nächste Mal öffnete, war die Furcht Langeweile gewichen. Gehorsam ließ er sich von den Männern abführen.
Museumsstücke füllten die oberen Stockwerke des Herrschaftshauses: verzierte Holzmöbel, Wandteppiche, Vasen aus erlesenem Porzellan, mit Seide bezogene Diwane, Tische aus Ebenholz, darauf hohe barocke Lampen. Orientteppiche bedeckten den Boden, alle in perfektem Zustand. Die Zimmer sahen aus wie das Setting für einen Historienfilm. In jedem Raum präsentierten Vasen frische Gartenblumen. Loren bemerkte Bedienstete in weißen Livreen, die saubermachten und Tabletts mit Gläsern und Tellern trugen.
Der Weg führte durch den Hauptteil des Hauses und dann über eine breite Bogentreppe in den dritten Stock. Loren folgte einem Schwarzgekleideten und zwei weitere gingen hinter ihm.
Sie schritten durch einen langen Flur mit Oberlichtern. Die Doppeltür an seinem Ende führte in ein Vorzimmer, das ebenso üppig eingerichtet war wie die anderen Räume. An einer Wand standen mehrere Rüstungen mit bunten Schilden, Schwertern und Streitkolben. An der Tür auf der gegenüberliegenden Seite bemerkte Loren vier junge Frauen in kurzen schwarzen Kleidern, die fast wie Cocktailkleider aussahen. Alle vier waren dunkelhaarig und hübsch. Sie schienen siebzehn oder achtzehn zu sein, älter nicht, und sie lächelten, als freuten sie sich auf etwas. Schon im Flur hatte Loren ihr Kichern gehört. Sie beobachteten ihn fasziniert, als er sich näherte. Ihre Augen glänzten und er dachte an die Möglichkeit, dass sie Drogen genommen hatten. Kaum war er an ihnen vorbei, wiederholte sich das mädchenhafte Kichern.
Die Schwarzgekleideten hinter Loren packten ihn und schoben ihn durch eine weitere Tür in eine Art Bibliothek. Er verlor das Gleichgewicht und fiel auf einen Läufer. Die plötzliche Machtdemonstration war vermutlich für die Person bestimmt, die sich in diesem Raum befand, dachte Loren. Einer der Männer trat ihn, als er aufzustehen versuchte. Er blieb liegen und sah hoch.
Sonia saß an einem Schreibtisch, der unter einem hohen, bleiverglasten Bogenfenster stand. Sie drehte ihren Sessel, wandte sich halb der Mitte des Raums zu und richtete einen kurzen, nicht sonderlich interessierten Blick auf Loren, sah dann die Männer an.
»Das ist der Gefangene. Martine, Milady.«
»Ja, das sehe ich.«
»Wie befohlen.«
»Ja.« Papiere lagen vor Sonia auf dem Schreibtisch. Sie blickte darauf hinab und für einen Moment schien es, als wollte sie die Arbeit fortsetzen, ohne auf die Schwarzgekleideten und den Gefangenen zu achten. Dann seufzte sie. »Er soll aufstehen«, sagte sie. »Wollen wir mal sehen.«
Loren wurde mit solcher Kraft hochgerissen, dass seine Füße kurz den Bodenkontakt verloren. Die beiden dafür verantwortlichen Männer standen zu beiden Seiten und hielten ihn fest. Sonia kam hinter dem Schreibtisch hervor; ihr Gesicht veränderte sich nicht, als sie näher trat. Sie sah ihn direkt an, ohne zu lächeln, hob die Hand und berührte die angeschwollenen Stellen am Auge und auf der Wange. Ihre Hand war eiskalt.
»Was ist das?«
»Er hat Ärger gemacht und brauchte eine Lektion.«
»Aber ihr habt sein hübsches Gesicht verunstaltet.«
»Ja …«, gestand der Mann voller Unbehagen.
»Nun, lassen wir es dabei bewenden.« Sonia klopfte Loren zweimal auf die Wange, unter der Prellung. »Bindet ihn an den Ring.«
Erneut kicherten die an der Tür stehenden jungen Frauen. Die Männer griffen etwas sanfter zu, als sie Loren zu einer Nische zwischen den Bücherschränken brachten. Dort war ein Metallring groß wie der Kopf eines Mannes in die Wand eingelassen. Eine schwere Kette führte durch diesen Ring, mit Handschellen an beiden Enden. Ein kleiner Schlüssel steckte in einer der Schellen. Zwei Männer hielten Loren fest und ein dritter legte ihm die Handschellen an. Dann wichen die Männer zurück und gaben Sonia den Schlüssel. Sie nahm ihn und ließ ihn in der Tasche ihres Rocks verschwinden. Loren war an die Kette gefesselt, mit einem Bewegungsspielraum von weniger als einem Meter.
»Du und deine Männer, Diakon … Ihr könnt jetzt gehen. Wir möchten mit dem Gefangenen allein sein.«
»Sehr wohl, Milady.«
Loren beobachtete, wie die Männer den Raum verließen. Die jungen Frauen wichen beiseite, um sie gehen zu lassen, traten dann wieder zur Tür und beobachteten den gefesselten Gefangenen mit glänzenden Augen. Alle vier drängten sich in der Tür zusammen.
Sonia folgte Lorens Blick zu den jungen Frauen. »Weg mit euch!«, sagte sie und winkte, woraufhin die Mädchen verschwanden. Sie lächelte nachsichtig, als wäre er überhaupt nicht da. Ohne ein Wort oder einen Blick in seine Richtung ging sie zum Schreibtisch und sammelte die dort liegenden Papiere ein. Sie fügte sie vorn einem Buch hinzu, schloss es und legte es beiseite. Dann ging sie zu einer Tür, die Loren bisher nicht bemerkt hatte, und verließ die Bibliothek.
Die jungen Frauen befanden sich noch immer im Vorzimmer; er hörte ihre gedämpften Stimmen, gelegentlich ein Lachen. Eine von ihnen riskierte einen verstohlenen Blick durch die Tür. Das Gesicht verschwand, kaum sah Loren in ihre Richtung. Er wartete. In seiner Nähe stand eine Art Massageliege an einem der Bücherschränke, breit wie ein Einzelbett auf Rädern. Er bedauerte, dass er die Liege nicht erreichen konnte. Er hätte sich gern auf sie gelegt, denn er fühlte sich plötzlich sehr müde.
Als Sonia zurückkehrte, trug sie nicht mehr Rock und Pulli, sondern ein kurzes schwarzes Gewand mit einem goldenen Gürtel an der Taille. Es ähnelte der Kleidung der vier jungen Frauen. Warum so viel Schwarz? Was bedeutete es für sie? Auch zuvor hatte sie oft schwarze Kleidung gewählt, weil sie ihr gut stand, nahm er an. Aber hier lag der Fall anders. Hier schien das Schwarz eine Besessenheit zu sein, die zum allgemeinen Geschehen gehörte.
Sonia ließ sich wieder Zeit und blieb stumm. Direkt vor Loren blieb sie stehen und sah ihm in die Augen. Die kalte Hand kehrte an seine Wange zurück.
»Ich …«, begann er, aber sie legte ihm einen Finger auf die Lippen, sagte nichts und sah ihn nur an. Erneut vermittelte sie den Eindruck, einen Fremden anzusehen oder ein Objekt zu betrachten.
Sonia wandte sich ab, ging zur Tür und klatschte in die Hände. Sofort erschienen die vier jungen Frauen und wirkten sehr aufgeregt. Sonia lächelte über ihren Enthusiasmus. »Nun, ihr wisst sicher, was ich möchte«, sagte sie.
»Ja, Milady«, antworteten sie wie aus einem Mund und liefen fort. Wenige Sekunden später waren sie wieder da, die erste von ihnen mit einer Ledertasche so groß wie ein Maniküretui. »Es ist alles bereit«, sagte sie.
»Danke, Lisa.« Die junge Frau öffnete das Etui und bot es ihr an. Sonia entnahm dem Etui eine Injektionsnadel und hielt sie ins Licht des Fensters. Loren beobachtete, wie einige kleine Tropfen aus der Spitze kamen, als sie den Kolben drückte.
»Was hoffst du von mir zu erfahren?« Lorens Stimme zitterte. Die jungen Frauen schienen die Frage aus irgendeinem Grund für lustig zu halten. Sonia schenkte ihr keine Beachtung.
Sie sah Lisa an und lächelte. »Möchtest du es übernehmen, meine Liebe?«
»O ja, Milady.«
Sonia gab ihr die Spritze, trat dann neben Loren und ergriff mit beiden Händen die Manschette seines Hemds. Sie zog und der Stoff gab nach, riss bis zur Schulter auf. Loren blickte verblüfft darauf hinab – er wäre dazu nicht imstande gewesen. Und offenbar hatte sie sich nicht einmal angestrengt. Sonia nahm seinen Arm und drückte ihn zur Seite, wodurch die Kette durch den Ring rasselte und die andere Hand zum Ring gezogen wurde. Sonias Bewegung lenkte Lorens Blick auf die Muskeln in Oberarm und Schulter; sie wölbten sich wie die eines Bodybuilders und im Bizeps zeichneten sich deutlich die Adern ab. Sie ging recht sanft mit Lorens Arm um, doch er begriff plötzlich, dass es zwecklos gewesen wäre, Widerstand zu leisten.
Nie zuvor in seinem ganzen Leben hatte er eine Injektion bekommen, ohne dass die betreffende Körperstelle zuerst mit Alkohol oder Äther sterilisiert worden war. Hier fehlte sowohl das eine als auch das andere. Die junge Frau, kaum mehr als ein Mädchen, stach ihm mit einem leisen Quieken die Nadel der Spritze in den Arm. Loren fühlte einen dumpfen Schmerz, als sie den Kolben drückte. Dann zog sie die Nadel zurück und atmete dabei mit einem Schnaufen aus.
»Was hoffst du von mir zu erfahren?«, fragte Loren erneut. »Was gibt es, das du nicht schon längst weißt? Der Schlüssel zur Laserwaffe? SHIELA existiert nicht mehr, das sollte dir klar sein.«
Sonia achtete nicht auf ihn.
»Was könnte ich dir sagen, das du nicht schon weißt?«
Mit dem Hauch eines Lächelns drehte sie sich zu ihm um. »Du wirst uns überhaupt nichts sagen, Loren. Es sind nicht deine Geheimnisse, die uns interessieren.«
Alle lachten, sie und die vier jungen Frauen. Für Loren hatte ihr Lachen einen blechernen Klang, wie von einem schlechten Lautsprecher übertragen. Ein metallischer Geschmack lag ihm auf der Zunge und Schwäche erfasste ihn.
Sonia sah wieder ihre jungen Begleiterinnen an. »Fort mit euch, meine Engel. Dies ist nichts für euch. Geht.« Sie wirkten enttäuscht, gehorchten aber und verließen den Raum durch die Tür zum Vorzimmer.
Lorens Knie drohten nachzugeben. Er gab sich alle Mühe, aufrecht stehen zu bleiben. Seine Zunge schien angeschwollen zu sein und fühlte sich wie ein Fremdkörper an. Sonia stand vor ihm; nur etwa zwanzig Zentimeter trennten ihn von ihrem Gesicht.
»Wir haben auf dies gewartet, nicht wahr?« Sie sprach leise. Er fühlte ihre Hände auf seiner Brust, als sie das Hemd aufknöpfte und dann mit kalten Händen über seine Haut strich. Sie beugte sich vor, küsste die eine Brustwarze und dann auch die andere. »Wir haben beide gewartet.« Ihre kühlen Lippen berührten die Prellung über dem Wangenknochen, gaben ihm dort einen sanften Kuss. Er brachte keinen Ton hervor. Wieder fühlte er ihren Mund an seiner angeschwollenen Brustwarze. Sonia legte ihm vorn die Hand auf die Jeans, drückte und spürte, wie er anschwoll. Sie rieb, die Hand bewegte sich auf und ab und sie murmelte etwas, das er nicht verstand.
Loren konzentrierte sich darauf, die Knie steif zu halten. Wenn sie sich auch nur ein bisschen beugten, würde er zu Boden sinken, daran zweifelte er nicht. Sonias Hände waren nun hinter seinem Gürtel, glitten über den Unterleib. Ihm fiel es schwer, den Kopf oben zu behalten. Er kippte immer wieder nach vorn, was ihn beobachten ließ, wie Sonias Hände seinen Gürtel öffneten und den Reißverschluss nach unten zogen. Sie griff in die Hose, fasste ihn. Ihr Atem war plötzlich zu hören, warm an seiner Brust. Sie schob seine Jeans ein Stück nach unten, über die Hüften. Eine Hand war jetzt hinten, streichelte ihn dort, und die andere vorn. Und dann waren ihre Lippen auf den seinen und ihre Zunge bahnte sich einen Weg. Eine Hand erschien an seinem Nacken und zwang ihn näher. Seine Knie gaben nach und er rutschte an der Wand nach unten. Sie folgte ihm, küsste ihn begierig. Dann stand sie wieder, holte den kleinen Schlüssel aus einer Tasche ihres schwarzen Gewands und schloss die erste Handschelle auf. Nicht mehr an den Ring gefesselt sank Loren der Länge nach zu Boden und rollte auf die Seite. Sonia war über ihm und schloss auch die andere Schelle auf. Dann hob sie ihn wie einen Sack und legte ihn auf die gepolsterte Liege.
Sie stand neben der Liege und betrachtete ihn. Loren hatte sich nie für prüde gehalten, aber jetzt drängte alles in ihm danach, sich zu bedecken. Doch er konnte nicht. Dass die Jeans nur halb unten war, schien es irgendwie noch schlimmer zu machen. Er fühlte ihre Blicke. Ihre Hände und Lippen strichen über seinen Körper, erforschten ihn. Er war sich ihrer Erregung bewusst – ihre Lippen wurden heiß und die Kälte wich aus den Händen.
Sie rollte ihn herum, zog ihm die Fingernägel über Rücken und Hüften. Sie streichelte sein Hinterteil, schob die Finger zwischen die beiden Backen und weiter nach unten. Loren merkte, wie er angehoben wurde, in eine halb kniende Position. Er konnte sich nicht dagegen wehren; sein Körper gehorchte ihm nicht. Sie hob ihn an und drückte den Oberkörper nach unten, bis seine Brust das Polster der Liege berührte und nur noch der Hintern nach oben ragte. Seine Beine steckten noch immer in den Jeans, wie darin verheddert. Sonia schien sich von ihm entfernt zu haben. Ein langer Moment verstrich. Loren versuchte, den Kopf zu drehen, aber es ging nicht. Die Tür des Vorzimmers stand noch immer offen und er bemerkte Bewegungen im Augenwinkel. Gesichter erschienen in der Tür, Gesichter mit glänzenden Augen, und wieder hörte er das mädchenhafte Kichern.
Sonias Hände waren jetzt an seinen Hinterbacken und schoben etwas Glitschiges zwischen sie und in ihn hinein. Mein Gott, dachte er. Dies ist eine Vergewaltigung. Etwas wurde in ihn hineingestoßen und zwar so heftig, dass er nach vorn rutschte. Vergewaltigung. Ein langes Stöhnen kam aus seiner Kehle. Es tat weh, aber Sonia stieß immer wieder mit dem Etwas. Er versuchte, das Objekt aus sich herauszudrücken, aber die Muskeln von After und Rektum blieben schlaff. Sonia stieß weiter mit dem Gegenstand, drehte ihn, erforschte sein Inneres. Und dann plötzlich, als sie genug hatte, hörte sie auf und zog das Etwas zurück.
Sie war über ihm, drehte ihn auf den Rücken, und dann war ihr Mund bei ihm, und die Zunge. Sein verräterischer Körper reagierte. Ihr langes Haar strich ihm über die Lenden. Die Zunge kehrte zurück, dann das Haar, und erneut die Zunge. Loren hörte sich stöhnen, als sie ihn immer mehr zu einer vollen Erektion brachte.
Dann saß sie auf ihm und platzierte seinen Kopf so, dass er zu ihr hochsehen konnte. Sie trug nichts unter dem schwarzen Gewand, das war ihm zuvor klargeworden, als sie sich gegen ihn gedrückt hatte. Sonia griff nach dem Saum, hob das Gewand über den Kopf und zeigte sich. Sie blickte an sich selbst hinab und deutete zum Schambein. »Ist es nicht darum gegangen vor all den Jahren, Loren? Nur darum?«
Sie nahm ihn in sich auf und ihre Hüften bewegten sich vor und zurück. Es schien unmöglich zu sein, dass sein Körper so etwas zuließ, dass er daran teilnahm, doch genau das war der Fall. Er kam fast sofort. Sie ignorierte es, ihre Hüften blieben in Bewegung und sie schien vor allem auf sich selbst konzentriert zu sein. So ging es weiter, eine ganze Weile, bis das Vor und Zurück ihres Beckens für Loren fast schmerzhaft wurde. Schließlich erreichte sie den Höhepunkt. Sie sprach nicht, gab kein Geräusch von sich, aber eine Ruhe erschien in ihrem Gesicht. Der Mund öffnete sich ein wenig, doch die Augen blieben geschlossen. Sie verharrte auf ihm, zitterte ein wenig. Dann waren ihre Augen wieder offen und das Gesicht, das eben noch friedlich und entspannt gewirkt hatte, zeigte plötzlich Langeweile. Sie schwang sich von ihm herunter und verschwand.
*
Als Loren erwachte, fand er sich in einem Bett mit frischen weißen Laken wieder. Das Licht der Nachmittagssonne fiel durch ein Fenster. Der Raum war groß, die Einrichtung elegant, aber unpersönlich – ein Gästezimmer, vermutete er. Die fröhlichen Farben und Blumenmuster an den Wänden deuteten darauf hin, dass es sich nicht um Sonias Zimmer handelte.
Etwas knisterte, wie von der umgeblätterten Seite eines Buchs. Loren drehte den Kopf, was ihm eine gewisse Mühe bereitete. Dort saß sie, in einem bequemen Sessel am Fenster und mit einem Buch auf dem Schoß. Sie trug wieder ihren grauschwarzen Tweedrock und darüber einen schwarzen Pulli. Ihre Füße ruhten auf einem Polsterhocker. Die Beine steckten in einer Strumpfhose, natürlich schwarz, und hinzu kamen schwarze Schuhe. Sie merkte, dass er erwacht war, sah auf und lächelte. Loren versuchte zu sprechen, aber die Zunge in seinem Mund war noch immer angeschwollen.
»Pscht«, sagte sie. »Lass dir Zeit.« Sie legte ihr Buch fort und stand auf. Mit einem Arm unter der Schulter hob sie ihn weit genug an, um ihm ein Glas Wasser an die Lippen zu setzen. Er trank hastig. »Langsam, langsam. Immer mit der Ruhe.« Sie ließ ihn wieder sinken und beschäftigte sich damit, Laken und Decke glatt zu streichen. Als sie damit zufrieden war, kehrte sie zu ihrem Platz am Fenster zurück, nahm das Buch und sah ihn noch einmal an, bevor sie das Buch öffnete. Wieder ihr kleines Lächeln. Sie hatte eine Lesebrille, die an einer Schnur um den Hals hing, und die setzte sie jetzt auf. Der Gesichtsausdruck, als sie zu lesen begann, weckte alte Erinnerungen, zeigte eine vertraute Mischung aus Eifer und Intensität.
Die Szene war so friedlich und häuslich, dass man die andere für einen scheußlichen Traum hätte halten können. Hier waren sie beide zusammen, Loren und Sonia, wie es ihnen bestimmt gewesen war. Der Ehemann mit einer Grippe im Bett und in der Nähe die liebevolle Ehefrau, die sich um ihn kümmerte. Nichts an der ruhig lesenden Frau deutete auf Gewalt hin, auf Besessenheit, auf den Zorn, der sie dazu getrieben hatte, ihn zu entwürdigen. Oder war es wirklich nur ein Traum gewesen, so wie der andere, von der Sonia, die mit gespreizten Beinen auf seinem Sarg stand? Nein, das glaubte er nicht. Er war noch immer nicht imstande, mehr zu bewegen als Finger, Zehen und den Kopf. Seine Gedanken trieben dahin, während er reglos dalag, und schließlich schlief er wieder ein.
Als er erwachte, musste er sein Bedürfnis verrichten. Er konnte nicht aufstehen, aber er brachte einige Laute hervor, die Sonias Aufmerksamkeit weckten. Sie kam und beugte sich über ihn, um seine Worte zu hören. Er erklärte, worum es ging. Sie nickte, hob ihn mühelos aus dem Bett und stellte ihn auf die Beine. Er trug einen dunkelblauen Kimono, ein japanisches Schlafgewand, das sie für ihn zurechtrückte. Sie schlang einen Arm um ihn und hielt ihn, damit er nicht das Gleichgewicht verlor und fiel. Loren starrte auf seine Füße hinab und wollte, dass sie sich bewegten. Das eigene Gewicht war noch immer zu viel für ihn, aber Sonia half ihm. Sie führte ihn am Ende des Betts vorbei und zur Tür.
Er war verlegen, doch ihr schien es nichts auszumachen. Mit der Professionalität einer Krankenschwester kümmerte sie sich um ihn und gab ihm Gelegenheit, sich zu erleichtern. Er schloss die Augen und als er fertig war, setzte sie ihn auf eine gepolsterte Bank neben der Wanne. Das Geräusch von strömendem Wasser. Der Schrank neben dem Waschbecken enthielt Flaschen mit Öl und Salz. Sonia runzelte die Stirn, während sie die Auswahl betrachtete, wählte dann eine der Flaschen und gab rosarote Flüssigkeit ins Bad. Rosenduft erfüllte das Zimmer. Sie schob die Ärmel ihres Pullis nach oben, wandte sich Loren zu und zog ihm den Kimono aus. Mit einer ins Wasser getauchten Hand prüfte sie die Temperatur, hob ihn dann wieder und setzte ihn in die Wanne. Inzwischen hatte sich Schaum gebildet, der seine Blöße bedeckte. Loren sank zurück, mit dem Kopf ans Ende der Wanne. Vorn drehte Sonia den Hahn auf und ließ noch mehr heißes Wasser hereinströmen. Sie konnte ihn verbrühen, ihn bei lebendigem Leib kochen, dachte er. Er wäre nicht in der Lage gewesen, sich dagegen zu wehren.
Als das Wasser fast den Rand der Wanne erreicht hatte und unangenehm heiß zu werden begann, drehte Sonia den Hahn zu. In der plötzlichen Stille hörte Loren ein Rauschen in den Ohren. Sonia setzte sich auf den breiten Rand der Wanne, beugte sich zu ihm und begann damit, ihn zu waschen. Loren dachte an nichts; es gab nichts, an das er denken konnte, und Gedanken erforderten ohnehin zu viel Kraft. Er spürte nur Trauer, eine Trauer, die so schwer auf ihm lag wie das duftende Wasser. Sonia wusch ihn gründlich, und zwar überall.
Schließlich ließ sie das Wasser aus der Wanne und spülte ihn ab, von Kopf bis Fuß. Dicke weiße Handtücher lagen auf einem Tisch bereit. Sie wickelte ihn in eins, nachdem sie ihn aus der Wanne gehoben und erneut auf die Beine gestellt hatte. Er lehnte sich gegen den Handtuchhalter neben der Wanne, während sie ihn abtrocknete. Anschließend ergriff sie ihn und legte ihn mit dem Rücken auf die gepolsterte Bank. Plötzliche Furcht erfasste ihn und er fragte sich, was sie jetzt mit ihm vorhatte. Sonia stand wieder am Schrank und suchte dort nach etwas Neuem. Sie kehrte mit einer kleinen Phiole zurück, einem verzierten Fläschchen, wie man es für Parfüm verwendete. Es enthielt Duftöl und sie ließ etwas davon auf ihre Hand tropfen, rieb es ihm auf die Brust und unter die Arme. Dann kamen seine Füße an die Reihe. Sie nahm jeweils einen in beide Hände und massierte den Fuß, bis die Haut das Duftöl aufgenommen hatte. Schließlich rieb sie auch seine Genitalien mit dem Öl ein und betrachtete sie dabei neugierig. Als sie fertig war, streifte sie ihm wieder den Kimono über und trug ihn zurück zum Bett.
*
Es dämmerte, als Loren wieder erwachte. Er stellte fest, dass er sich wieder bewegen konnte, wenn er auch noch ein wenig unsicher auf den Beinen war. Er wankte ins Bad und trank aus dem dortigen Wasserhahn. Bei seiner Rückkehr stand Sonia in der Tür auf der gegenüberliegenden Seite und deutete auf die Kleidung, die sie aufs Fußende des gemachten Betts gelegt hatte. »Das kannst du anziehen«, sagte sie. »Ich glaube, darin fühlst du dich besser.« Sie schien den Raum nicht verlassen zu wollen, während er sich ankleidete, und deshalb ging er mit den Sachen ins Bad.
Sie hatte ihm ein kurzes schwarzes Gewand mit einem Stoffgürtel gebracht. Auf eine seltsame Art und Weise stand es ihm gut, wie er im großen Spiegel sah. Trotzdem: Unterwäsche, Hemd und Hose sowie ein Paar Stiefel – schwer genug, um Leuten, die ihm in den Weg gerieten, ordentlich in den Hintern zu treten – wären ihm lieber gewesen. Das Spiegelbild zeigte ihm pulsierende Zornesadern an den Schläfen.
Sonia saß im Sessel am Fenster, als er das Bad verließ. Er blieb vor ihr stehen.
»Warum?«, fragte er.
Sie sah auf. »Oh, was das betrifft, würde die Erklärung eine Weile dauern.« Bei diesen Worten lag erneut die Andeutung eines Lächelns auf ihren Lippen.
»Du hast mich geschändet.«
»Ja.«
»Könnte es einen Grund dafür geben?«
Sie zuckte die Schultern.
»Nenn ihn mir.«
»Vielleicht später.«
Loren hörte das Kichern der jungen Frauen im Nebenzimmer, außerdem das Klirren von Besteck und Gläsern. Offenbar wurde ein Tisch gedeckt.
»Was könntest du damit erreicht haben?« Er starrte auf sie hinab und wartete auf eine Antwort.
Sie dachte wie amüsiert über die Frage nach, sah dann erneut zu ihm auf und sagte: »Vielleicht hatte ich meinen Spaß.«
»Ich verstehe. Und für diesen Spaß …«
Sie unterbrach ihn, indem sie die Hand hob. Er sprach nicht weiter, aber sie schwieg, sah ihn nur an. Schließlich sagte sie: »Spaß ohne jede Sünde.«
»Ohne Sünde! Wie kannst du solchen Unsinn reden? Wie kannst du glauben, einen anderen Menschen auf eine so scheußliche Weise zu behandeln, ohne dich mit Sünde zu beflecken? Was zum Teufel bedeutet Sünde für dich, wenn du glaubst, davon frei zu sein? Du steckst voll davon!«
»O ja, ich stecke voll davon, das stimmt. Sünde füllt mich von Kopf bis Fuß. Sie umhüllt mich ganz und gar, Körper und Seele. Du bist es, der Spaß ohne Sünde hatte. Das ist mein Geschenk für dich.«
»Glaubst du vielleicht, es hätte mir gefallen?«
»O ja. Ich weiß, dass es dir gefallen hat. Nicht deinem dummen, verwirrten kleinen Ich, aber deinem Körper. Er hat mich nicht belogen. Er konnte nichts vor mir verbergen.«
Loren errötete, als er sich erinnerte. »Wenn du so sehr an Sünde denkst …«, sagte er nach einem Moment. »Wie erträgst du es dann, solche Sünde auf dich zu laden?«
»Es ist ganz einfach.« Sonia lächelte erneut. »Eine bedauerliche Tatsache des Lebens: Ich bin verdammt.« Es klang so, als erklärte sie einem Schulkind eine offensichtliche Wahrheit. »Also spielt es keine Rolle. Überhaupt keine. Für Verdammte bedeutet zusätzliche Sünde nichts.«
»Dieses Gespräch ist grotesk. Alles, was ich hier erlebt habe, ist grotesk.«
»Glaubst du?« Ihr Blick ging ins Leere. Wieder gewann Loren den Eindruck, dass sie ihn gar nicht richtig sah, ihn gar nicht richtig wahrnahm. Sie schien in Gedanken ganz woanders zu sein.
»Du bist verrückt.« Er sagte es leise, mehr zu sich selbst. Offenbar hörte sie ihn gar nicht.
Die Benommenheit war verschwunden und er fühlte, wie die Kraft in seine Muskeln zurückkehrte. Mit ihr kam neue Entschlossenheit. Wenn er es hier mit Wahnsinn zu tun hatte … Nun gut, er war bereit, es damit aufzunehmen. Vielleicht würde es sogar leichter sein als das, was er hier erwartet hatte: Verrücktheit, eine besondere Logik, auf einer Höhe mit seiner eigenen, aber ihm völlig fremd. Ja, Wahnsinn war ihm lieber. Dafür glaubte er sich gewappnet.
Loren schritt durch den Raum und blickte in den Hof hinab. Lichter bewegten sich dort, getragen von zehn oder mehr Personen. Er beobachtete sie aufmerksam und vergaß für einen Moment, dass sich Sonia hinter ihm befand. Wie viele waren es? Das musste er wissen, wenn er diesen Ort verlassen wollte. Die Kraft, die sich nun in ihm ansammelte, verlangte nur, dass er nicht über alle Ereignisse des vergangenen Abends nachdachte. Wenn er sich auch nur für einen Augenblick jenen schrecklichen Erinnerungen hingab … Er spürte, dass er seine Kraft dann wieder verlieren und erneut hilflos sein würde. Also nahm er sich vor, nicht daran zu denken. Nie wieder.
Eine der jungen Frauen stand neben Sonia, als sich Loren umdrehte. »Bitte die Flurwächter herein«, sagte Sonia. »Damit unser Gast sie sieht.« Die junge Frau – das Mädchen – nickte und trat nach draußen. Als sie zurückkehrte, wurde sie von zwei kräftig gebauten Schwarzgekleideten begleitet. Jeder von ihnen hielt einen Schlagstock in der Hand. Sie nickten Sonia respektvoll zu. Sie schickte die beiden Männer mit einer wortlosen Geste fort und richtete einen bedeutungsvollen Blick auf Loren.
»Sie bewachen den Flur, der diese Suite mit dem Rest des Gebäudes verbindet. Es gibt keinen anderen Weg als an ihnen vorbei. Ich glaube, du verstehst.«
Loren achtete nicht auf sie, öffnete nacheinander die Schranktüren und sah sich den Inhalt an. Irgendetwas davon konnte sich vielleicht als nützlich erweisen.
»Was du brauchst, findest du dort gewiss nicht«, sagte Sonia.
Er gab vor, es nicht zu hören. Die Tür auf der anderen Seite, so wusste er, führte in den Flur. Die Suite bestand aus Schlafzimmer, Bad, der Bibliothek, die er am ersten Abend kennengelernt hatte, und dem Vorzimmer. Die beiden Wächter richteten finstere Blicke auf ihn, als er die Bibliothek betrat. Die jungen Frauen, die sich dort aufhielten, unterbrachen ihr Geschnatter, als er hereinkam. Sie waren damit beschäftigt, einen langen Tisch zu decken, für zwei Personen, jeweils an den Enden. Sie trugen wieder Schwarz, aber diesmal waren die Kleider länger und sahen fast wie Nachthemden aus. Jedes Kleid hatte einen ovalen Ausschnitt, allerdings nicht zu tief, und darüber trug jede der jungen Frauen eine Perlenkette.
Sonia wartete im Schlafzimmer auf ihn. Sie saß ruhig im Sessel am Fenster, die Hände im Schoß gefaltet. Erneut blieb Loren vor ihr stehen und sah auf sie hinab. Es gab wichtige Angelegenheiten, die geklärt werden mussten, ein Appell an das, was von ihrer Vernunft noch übrig war. Doch sein Zorn schob all das beiseite.
»Grotesk!«, sagte er lauter, als es eigentlich seine Absicht gewesen war.
Die Antwort bestand aus dem inzwischen vertrauten kleinen Lächeln.
»Das gilt für dich ebenso wie für das Haus«, sagte Loren. »Rüstungen mit Schwertern und Schilden, Löwenköpfe an den Wänden … Wie ein Londoner Bordell. Deine Schwarzgekleideten, die hirnlosen Dienerinnen …«
»Meine Engel.«
»Engel. Grotesk.«
Sonia hob und senkte die Schultern. »Die Sünde des Stolzes befindet sich hier in diesem Raum. Ein Teil meiner Aufgaben besteht darin, denen zu helfen, die von Stolz befallen sind. Damit sie ihre Sündhaftigkeit einsehen und büßen können.«
»Bitte halt mir keine Vorträge über Sünde. Dafür ist mein Leben zu kurz.«
»Zu kurz.«
»Und woher kommen deine ›Aufgaben‹, wenn ich fragen darf? Wer hat sie dir gegeben? Wie kommt es, dass eine Frau, die sich selbst als ›verdammt‹ bezeichnet, davon überzeugt ist, anderen bei der Buße helfen zu müssen?«
»Das ist mein Opfer, das größte von allen. Ich befreie die anderen, indem ich ihre Sünden in mich aufnehme. So wie ich gestern Abend deine Sünden in mich aufgenommen habe.«
»Danke.«
»Alle anderen Sünden verblassen daneben.« Sonias Augen leuchteten, als sie davon sprach. Freude zeigte sich in ihrem Gesicht. »Andere Opfer sind vorübergehend und, ach, bedeutungslos. Um den Armen zu helfen, opfert ein Mann alles, aber was gibt er eigentlich auf? Nur die vergänglichen Freuden dieser Welt, und dann bekommt er seinen Lohn. Ich habe auch den Lohn aufgegeben, die Ewigkeit. Das ist mein Opfer; es ermöglicht anderen, frei von Sünde zu sein.«
»Grotesk.«
Sonia runzelte die Stirn und überlegte vielleicht, wie sie diesem kurzsichtigen Mann etwas erklären sollte, das sie für offensichtlich hielt. »Die Geschichte hat ihre eigene zwingende Logik. Die Renaissance folgt der Erfindung der Druckerpresse, Merkantilismus geht dem Aufstieg der Nationen voran, das Römische Reich erlebt seinen Niedergang durch das Erstarken des Christentums. Und so weiter. Die Menschheit als Ganzes wird von Logik geleitet. Aber es ist ein Gruppenphänomen. Das Individuum ist nicht an diese Logik gebunden. Das Individuum ist immer grotesk. Die große Mehrheit von uns schlägt Richtungen ein, die sich historisch betrachtet als Sackgassen herausstellen. Wir sind wie die Moleküle eines Gases, die mit den Seiten des Becherglases im Laboratorium kollidieren und versuchen, es in die eine Richtung zu schieben, während andere Gasmoleküle es in die andere Richtung drücken. Es gibt eine Gegenkraft, die unsere Bemühungen zunichte macht, und so sind wir grotesk.«
»Du bist grotesk.«
»Nein, du bist es, mein lieber Loren. Sieh dich nur an. Du bist einer der ›Gründungsväter‹ einer neuen Gesellschaft, einer neuen Nation namens Victoria. Du bist einer ihrer Architekten. Aber was hast du gebaut? Eine Gesellschaft, die auf nichts basiert. Sie hat keine Traditionen, keine gemeinsamen Wurzeln, keine Ethik. Sie ist nichts weiter als ein dummer, gottloser Staat. Und was habt ihr an die Spitze dieses Staats gestellt? Ich habe lange gelacht, als ich davon hörte. Eine Prinzessin!«
Loren starrte sie sprachlos an.
»Eine Prinzessin, eine dumme Erfindung, wie aus einem Märchen geholt. Als Symbol für die ganze neue Nation, für Victoria. Und was für eine Prinzessin: eine an Größenwahn leidende Tippse.« Sonias Stimme wurde scharf bei diesen Worten. »Wer ist hier grotesk?«
»Wir sind mächtig …«
Sie winkte ab. »Eine vorübergehende Laune des Schicksals. Eure Macht basiert auf einem kurzzeitigen technologischen Vorteil. In zehn Jahren haben alle Nationen Luftschiffe und was wird dann aus Victoria?«
»Victoria wird ein Staat sein, wie alle anderen.«
»Ich glaube nicht. Ich glaube, euer ›Staat‹ wird aus einem Haufen zänkischer Intellektueller bestehen und von irgendwelchen Schurken übernommen, die es zufälligerweise auf euer Territorium abgesehen haben. Ihr werdet diesen Schurken gegenüber hilflos sein, mein Lieber, denn sie kommen geeint von einer gemeinsamen Sache, die Bedeutung hat.«
»Du meinst deine Schurken, nehme ich an.«
»Oder andere.«
Loren drehte den Kopf, als er ein Geräusch an der Tür hörte. Eine der jungen Frauen stand dort und gab Sonia ein Zeichen. »Das Essen ist fertig, Milady. Wir können auftragen.«
Der Duft von gebratenem Fleisch kam durch die Tür. Loren wandte sich ab.
Neben ihm lachte Sonia. Es klang melodisch, wie das Lachen eines Kinds. »Ach, Loren, du bist so leicht zu durchschauen. Das warst du immer.«
»Was?«
»Du denkst: ›Von dieser diabolischen Frau nehme ich nicht einmal eine Brotkrume entgegen.‹ Aber Tatsache ist: Du hast Hunger.«
Sie hatte in beiden Punkten recht. »Da irrst du dich«, behauptete er. »Wenn wir schon essen müssen, so sollten wir es schnell hinter uns bringen. Es gibt wichtige Dinge zu besprechen.«
Zwei der jungen Frauen hielten Lorens Stuhl, als er Platz nahm. Er blickte zu Sonia und fühlte sich durch mehr von ihr getrennt als nur die Länge des Tischs.
»Meine Engel«, sagte sie und deutete auf die vier Mädchen. »Giselle, Anya, Lisa und Bernadette.«
Sie sahen ihn, neugierig und mit glänzenden Augen. Er gewann erneut den Eindruck, dass sie unter Drogen standen. Loren versuchte, ihnen keine Beachtung zu schenken.
Als sein Teller voll war, teilte er ihn in zwei Hälften, dazu entschlossen, die größere Hälfte unangetastet zu lassen. Er aß mit gesenktem Kopf. Große Kelchgläser mit Wein und Wasser standen bereit. Loren trank beides. Als er die kleinere Hälfte aufgegessen hatte, schob er den Teller beiseite.
»Bist du entschlossen, gegen uns in den Krieg zu ziehen?«, fragte er.
»O ja.«
»Nichts kann dich davon abhalten?«
»Nichts. Abgesehen vielleicht von einer bedingungslosen Kapitulation.«
»Aber warum? Warum hältst du einen Krieg gegen uns für notwendig?«
»Sühne.«
»Ich verstehe nicht.«
»Das überrascht mich kaum.«
»Du musst es tun?«
»Ja, ich muss. Ich muss zerstören, was du geschaffen hast. So einfach ist das.«
»Ich bin nicht dein Feind, Sonia.«
»Nein.« Sie dachte darüber nach. Loren sah, dass sie überhaupt nichts gegessen hatte. Geistesabwesend stocherte sie mit der Gabel in ihrem Essen. »Du bist nicht mein Feind. Deine Frau ist mein Feind.«
»Kelly?«
»Nein, nicht Kelly. Sie ist nur ein unwissendes Kind. Kelly an sich bedeutet mir nichts, sehr wohl aber die Prinzessin. Sie ist mein Feind. Weil sie ein Symbol darstellt.«
»Vorhin hast du Kelly ein Symbol aus einem Märchen genannt, eine Erfindung von grotesker Dummheit.«
»Habe ich das?« Sonias Blick ging in die Ferne.
»Und jetzt machst du daraus einen strategischen Schlüssel für Victorias Macht.«
Sonia zuckte die Schultern und schien an seinen Argumenten gar nicht interessiert zu sein. »Der kommende Krieg wird jene Macht auslöschen. Und an ihrer Stelle wird sich eine andere Kraft bilden, eine der Rechtschaffenheit …« Sie schwieg.
Als klar wurde, dass sie nicht weitersprechen wollte, sagte Loren: »Könntest du nicht lernen, uns nicht zu hassen?«
Die Frage überraschte sie. »Ich hasse euch nicht. Weder dich noch die anderen. Ihr seid meine Freunde. Meine Liebe gilt euch allen. Deshalb muss ich eingreifen. Um dem Volk von Victoria meine Liebe zu bringen.«
»Um uns zu retten.«
»Ja. Ihr habt nichts. Ihr braucht mich. Ich muss euch zu dem Frieden führen, den ich gefunden habe; ich muss euch helfen zu verstehen. Ihr widersetzt euch, weil ihr eure eigenen Bedürfnisse nicht versteht. Also muss ich diesen Widerstand brechen und euch gegen euren Willen Hilfe bringen.«
Die jungen Frauen hatten den Tisch abgeräumt und servierten den Nachtisch, einen Kuchen mit Honig und Nüssen. Loren aß ein Stück, war aber nicht bei der Sache. Das Mädchen namens Giselle stellte ein Glas vor ihn und füllte es mit Wein aus einer kleinen Flasche.
»Das ist Muskat«, sagte Sonia und deutete auf den Wein. »Es gibt nicht mehr viel davon. Nur noch ein paar Flaschen für unsere ganz besonderen Gäste. Vielleicht ist dies der letzte Rest.«
Loren leerte das Glas und fragte sich, welche Worte er wählen sollte, um etwas in Sonia zu bewegen. Wenn es bei diesem »Spiel« Trümpfe gab, so hielt sie allein Sonia in der Hand. Sie hatte ihn vollkommen unter Kontrolle, konnte sogar nach Belieben die Spielregeln verändern. Und sie war durch und durch unberechenbar. Sie hatte gesagt, dass sie ihn und die anderen nicht hasste, und deshalb ging er davon aus, dass es doch der Fall war. Seine Schwester Chlotide hatte einmal gesagt, dass man nur das Unbekannte hassen konnte. Wenn es ihm gelang, ihr die Bürger von Victoria näher zu bringen, so nahe, wie sie ihr einst gewesen waren … Ein Appell an die Vernunft war sinnlos, aber vielleicht kam er mit einem Appell an ihre Gefühle weiter.
»Die Kinder der Stella Linda gehen jetzt zur Universität«, sagte Loren. »Wir haben eine wundervolle Universität für sie gebaut, Sonia. Ich wünschte, du könntest sie sehen. Der kleine Junge namens Tiger, erinnerst du dich an ihn? Er war der Beste seiner Klasse. Hielt uns einen Vortrag über ›die Zukunft‹. Und es war ein guter Vortrag. Sie sind alle voller Hoffnung für die Zukunft. Wir haben fünf Fakultäten an unserer Universität. Die Professoren kommen aus Frankreich, England, Spanien und natürlich aus Victoria. Akademiker gab es bei uns immer mehr als genug. Sie …«
»Aber es gibt nichts, das sie lehren können.«
»Da gibt es sogar sehr viel: Mathematik, Physik, Chemie, Verwaltung und Kunst.«
»Es gibt kein Prinzip, das sie leitet, nur leeren Humanismus.«
»Natürlich existiert ein solches Prinzip: die Ethik des Individualismus, die Religion der Wissenschaft …«
»Ah!«, sagte Sonia.
Loren starrte sie verständnislos an und suchte noch immer nach Worten für das, was er sagen wollte. Seine Gedanken rasten, doch der Körper wurde plötzlich schwer und müde. Hinter ihm bei der Anrichte kicherten die jungen Frauen. Sie kicherten dauernd und das Geräusch war lauter als zuvor, klang blechern. Er hatte einen metallischen Geschmack im Mund und blickte erschrocken auf das leere Weinglas.
»Nein!«, rief Loren. Er kam auf die Beine, drückte sein ganzes Gewicht gegen den Tisch und versuchte, ihn anzuheben und zu kippen. Doch er rutschte nur an der Ecke entlang. Mühsam hob er den Kopf, der plötzlich eine Tonne zu wiegen schien. Zwei der jungen Frauen waren an seiner Seite und hielten ihn an den Armen. Ohne ihre Hilfe wäre er zu Boden gesunken.
Sonia stand auf und sprach leise zu dem Mädchen an ihrer Seite. »Du kannst die Wächter im Flur fortschicken, Anya. Wir brauchen sie nicht mehr.« Das Mädchen lief hinaus.
Loren wollte etwas sagen, aber sein Mund gehorchte ihm nicht mehr.
»Nun, Loren, du bist heute Abend Gegenstand unserer Aufmerksamkeit. Du bist unsere einzige Unterhaltung. Die Tortur geht weiter.«
Sie deutete zur gepolsterten Liege in der Nische. Loren konnte sich nicht wehren, als er dorthin geführt wurde. Als Anya zurückkehrte, winkte Sonia sie zusammen mit der vierten jungen Frau zu sich und ging mit ihnen zur Liege, wo die anderen beiden mit Loren warteten. »Kommt, meine Engel«, sagte sie. »Heute Abend dürft auch ihr spielen.«