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Gezielter Schlag

Rupert Paule hatte immer fest daran geglaubt, dass sich aus Rückschlägen neue Gelegenheiten ergeben. Lincolns Erfolg als Präsident, so sein Credo, war eine direkte Folge seines Misserfolgs als Anwalt. Pattons größter Sieg ließ sich seiner Meinung nach auf frühere Blamagen zurückführen und Phil Donahue hatte allein deshalb ein Vermögen im Showgeschäft verdient, weil er zuvor als Banker gescheitert war. Das beste Beispiel von allen bot Nixon. Ganz gleich, was im Leben auch schiefging: In den bewegenden Worten von Nixons »Six Crises« konnte man immer Trost finden. Paule hatte das Buch ein Dutzend Mal gelesen. Wenn unerwartete Schwierigkeiten auftraten, nahm er sich immer wieder das eine oder andere Kapitel vor. Als klar geworden war, dass die im Oktober entsandte Kuba-Flotte nicht zurückkehren würde, hatte er sich hingesetzt und Six Crises noch einmal gelesen, von der ersten bis zur letzten Seite. Es war ein echter Tiefpunkt gewesen. Schließlich hatte er sich erholt. Er würde überleben und weitermachen. Er wollte nicht mehr auf all die Katastrophen des letzten halben Jahres zurückblicken. Doch in einem entfernten Winkel seines Kopfes gab es den kleinen bitteren Gedanken, dass er, wenn er eines Tages seine Memoiren schrieb, sie nicht »Six Crises«, sechs Krisen, nennen konnte, sondern »Sixty Crises«, sechzig Krisen.

Wenn er zu den Menschen gehört hätte, die sich beim Lesen Notizen machten, wären seinem Notizblock vielleicht folgende Nixon’sche Prinzipien anvertraut worden: Fühle dich nie schuldig; greife an, anstatt zu verteidigen; lass dich nicht von Loyalität aufhalten. Wohin konnten solche Prinzipien nach dem Oktober-Fiasko führen? Paule dachte immer wieder an den Plan und sein verheerendes Ergebnis. Sieben alte Segelschiffe waren in den Krieg geschickt worden, bewaffnet womit? Mit Armbrüsten, Pfeil und Bogen und Messern. Jemand hatte dieser lächerlichen Bewaffnung Nervengas hinzugefügt, das durchaus nützlich gewesen wäre, wenn die Angreifer es geschafft hätten, mit dem Wind gegen den Feind zu segeln. Aber die blöden Passatwinde machten ihnen einen Strich durch die Rechnung. Um sich vor dem Gas zu schützen, brauchte Layton die Flotte nur auf offener See abzufangen. Er konnte mit eigenem Gas gegen sie vorgehen oder sie allein mit seiner Übermacht überwältigen. Wer wusste schon, wie viele Leute die elenden Verräter inzwischen rekrutiert hatten?

Insgeheim befürchtete Paule, dass das Verschwinden der Jollen auf technologische Überlegenheit des Feinds zurückzuführen war. Vielleicht, so sein Alptraum, standen Layton Maschinengewehre, Raketen, Kanonen, Jets und Napalmbomben zur Verfügung. Immerhin kontrollierte er den teuflischen Apparat, der Explosionen verhinderte. Er konnte ihn ausschalten, wenn es ihm in den Kram passte, moderne Waffen einsetzen und den verdammten Apparat anschließend wieder einschalten. Paule zweifelte kaum daran, dass genau das geschehen war. Natürlich hatte er an diese Möglichkeit gedacht und Vorbereitungen getroffen. Im Keller des Watergate-Komplexes waren einige Marinesoldaten damit beschäftigt gewesen, einmal pro Minute zu versuchen, Streichhölzer anzuzünden. Auf diese Weise sollten sie herausfinden, wann der Inhibitor nicht mehr funktionierte. Viel Zeit wäre ihnen vermutlich nicht geblieben, aber Paule hätte jede wertvolle Sekunde gut zu nutzen gewusst. Er war bereit gewesen, zwölf Cruise Missiles mit Atomsprengköpfen loszuschicken und ganz Kuba in Schutt und Asche zu legen. Er hatte die Abschusssilos in Gaithersburg besucht und mit einem Filzstift »FÜR KUBA« auf die Nase eines Atomsprengkopfs geschrieben.

Aber so sorgfältig die Vorbereitungen auch gewesen waren, sie brachten ihm nur eine weitere Enttäuschung. Den verdammten Marinesoldaten mit den Streichhölzern war langweilig geworden und sie hatten sich einfach auf und davon gemacht. Wenn der Inhibitor tatsächlich für kurze Zeit ausgeschaltet worden war, hatte in Washington niemand etwas davon bemerkt. Und es kam noch schlimmer: Der Fehlschlag war nicht unbemerkt geblieben. Colonel Gustafson hatte bei einer Besprechung über das Desertieren von »Rupert Paules Kampftruppe« gespottet. Diese dummen Worte würde Gustafson irgendwann bereuen.

Layton hätte nur wenig Zeit gebraucht, um die Angreifer zu erledigen. Nach dem Ausschalten des dreimal verfluchten Inhibitors wären ein oder zwei Minuten genug gewesen, um ein paar Sidewinder oder was auch immer zu starten und die hilflosen Segelboote zu vernichten. Anschließend brauchte er den verdammten Apparat nur wieder einzuschalten, um zu verhindern, dass ihm Amerikas Patrioten eine angemessene Antwort gaben. Paule war davon überzeugt, dass Layton auf diese Weise vorgegangen war, denn er selbst hätte nicht anders gehandelt. Tapfere amerikanische Jungs waren also von feindlichen Sidewindern getötet worden. Er hätte kotzen können. Nicht dass ihm viel an den Seeleuten lag. Sie waren nur die Eier, die er für sein Omelette hatte aufschlagen wollen. Was ihm so schwer im Magen lag, war der Frust darüber, sich nicht an Homer Layton rächen zu können. Alles in ihm schrie nach Vergeltung. Paule hasste Homer Layton. Er hasste ihn mehr, als er Hitler, Stalin, Senator Feinstein oder den Sierra Club hasste.

Zurück zum Thema der neuen Gelegenheiten, die sich aus Rückschlägen ergaben. Was hätte Nixon unternommen, um das Oktober-Desaster in einen Vorteil für sich zu verwandeln? In Paules Gedanken nahm allmählich ein Plan Gestalt an. Er drehte sich um eine schlichte Tatsache: Die Katastrophe war nicht Rupert Paules Schuld. Gallant trug dafür die Verantwortung. Er allein war schuld daran. Also sollte auch er allein dafür büßen. Dieser Gedanke entlockte ihm ein Lächeln. Der in Paules Watergate-Büro auf der anderen Seite des Schreibtischs sitzende Willard Courtenay sah dieses Lächeln und spürte, wie sich seine Afterschließmuskeln verkrampften.

»Ich glaube, Captain Courtenay, ich habe Sie schon einmal darauf hingewiesen, dass ich gegen die Oktober-Aktion gewesen bin. Ich war von Anfang an dagegen.«

»Tatsächlich, Sir? Ich meine, ja, Sir.«

»Sie erinnern sich bestimmt daran.« Paule richtete einen bedeutungsvollen Blick auf den Captain.

»Dass Sie von Anfang an dagegen waren …«

»Sie erinnern sich also. Aber Reverend Nolan Gallant musste unbedingt mit dem Kopf durch die Wand. Und ich hab’s erlaubt. Man könnte sagen, wir haben ihm freie Hand gelassen, damit er scheitert.«

»Freie Hand, Sir?«

»Ja.«

»Damit er scheitert?«

»Ja, genau. Sehr aufmerksam von Ihnen, Captain. Ich habe mich gefragt, ob Sie bei jener Gelegenheit nicht in ähnlichen Bahnen dachten wie ich. Jetzt weiß ich, dass das tatsächlich der Fall war. Sie haben in diesen schwierigen Zeiten immer wieder viel Grips gezeigt. Inzwischen bin ich sicher, dass Sie in Hinsicht auf Reverend Gallant ebenfalls Ihre Zweifel hatten, nicht wahr?«

»Nun, ich …« Courtenay wusste nicht, was er sagen sollte.

»Genau. Dachte ich mir’s doch. Einen klugen Kopf haben Sie da. Steckt voller Einsichten und Erkenntnisse.«

»Manchmal mache ich mir so meine Gedanken. Über dies und das.«

»Ja, und das sieht man Ihnen an. Ich glaube, es war Ihre gesunde Skepsis in Bezug auf Gallant, die mich dazu brachte, in diesen Bahnen zu denken. Was nicht heißen soll, dass Sie eine Art offenes Buch oder so was wären. Nein, Captain Courtenay ist undurchschaubar für alle, die es nicht verstehen, richtig hinzusehen.«

»Äh. Ich bin ein guter Kartenspieler.«

»Na bitte.«

»Bei Doppelkopf gewinne ich oft. Und beim Quartett schlage ich meine Kinder. Mein kleiner Junge weint deshalb, aber es ist eine Lektion für ihn; er soll etwas lernen.«

»Natürlich.«

»Wobei es nicht um Quartettspielen geht, sondern ums Leben.«

»Kann von Glück sagen, einen solchen Vater zu haben, Ihr kleiner Junge. Nun, wann haben Sie zum ersten Mal gedacht, dass Gallants Tage als unser De-facto-Anführer gezählt sind?«

»Wann habe ich das zum ersten Mal gedacht?« Es war eine Frage, die Courtenay nicht Paule stellte, sondern sich selbst. Jemand hatte zur Kenntnis genommen, dass er eigene Gedanken dachte. Das empfand Courtenay als so schmeichelhaft, dass er die richtige Antwort geben wollte. »Oh, schon vor einer ganzen Weile.«

»Dachte ich mir! Vermutlich haben Sie das schon gedacht, noch bevor mir der Gedanke kam.«

»Vielleicht. Oder ein bisschen später. Sir.«

»Captain, ich verneige mich vor Ihrer diesbezüglichen Erfahrung.« Paule gab sich achtungsvoll. »Wir haben es hier mit einer Situation zu tun, in der das ausgebildete militärische Gehirn uns Zivilisten gegenüber im Vorteil ist. Ich werde mir ein Beispiel an Ihnen nehmen und Ihren Rat beherzigen, was die Maßnahmen betrifft, die es nun zu ergreifen gilt.«

»Ja?«

»Ja. Nun, Sie denken wahrscheinlich – und da bin ich ganz Ihrer Meinung –, dass das Verschwinden der Jollen Gallant anzulasten ist, aber keineswegs einem Todesstoß gleichkommt.«

»Kein Todesstoß, nein.«

»Ganz richtig. Aber der Todesstoß könnte beim nächsten Mal kommen, bei der nächsten Sache, die schiefgeht. Wir müssen darauf vorbereitet sein. Wir müssen jetzt die notwendige Vorarbeit leisten, damit ein glatter Übergang zu einer neuen Führung möglich wird, wenn es so weit ist.« Paule senkte die Stimme und beugte sich vor. Sie saßen allein und bei geschlossener Tür in einem privaten Büro, aber Courtenay warf trotzdem einen Blick über die Schulter, als er sich ebenfalls vorbeugte. Die Falten in seiner Stirn wiesen darauf hin, wie sehr er sich konzentrierte. »Wir gehen folgendermaßen vor …«, sagte Paule.

*

D.D. Pease dachte fast nie an Amerika. Für ihn war es so, als hätte Amerika aufgehört zu existieren. Er rechnete damit, den Rest seines Lebens zu verbringen, ohne jemals wieder die Namen Texas oder Tennessee zu hören, ohne dass Republikaner, Demokraten, Red Sox, Facebook oder Seinfeld erwähnt wurden. Er fragte sich nicht einmal, wie es inzwischen um das Leben in dem Land stand, das er für seine Heimat gehalten hatte. Es war nicht mehr sein Zuhause. Seine Welt beschränkte sich auf den Strand von Baracoa und das Drumherum.

Pease und Ed Barodin hatten eine Werkstatt eingerichtet und sich auf die Reparatur von Dingen spezialisiert. Sie reparierten alles. Wenn etwas defekt war und ein neues Teil brauchte, das vielleicht extra erfunden werden musste, oder wenn es darum ging, etwas zu verändern, damit etwas wieder funktionierte, so war man bei ihnen genau richtig. In einer Woche reparierten sie Waschmaschinen, verbesserten eine neue Verbindung mit SHIELA, schlossen einige Telefone an und begannen mit einem Dutzend anderen Projekten. Wem blieb da Zeit, an die alte, zurückgelassene Welt zu denken?

Die selige Sorglosigkeit in Hinsicht auf Amerika hatte vor drei Wochen aufgehört und seitdem dachte Pease kaum an etwas anderes. Die Veränderung ging auf David Lee zurück, den jungen Seekadetten, den Kelly und Loren aus dem Meer des Bahama Channel gefischt hatten. Pease hatte kurz nach seiner Ankunft in Baracoa mit ihm gesprochen. Auch Proctor Pinkham hatte sich mit ihm unterhalten, bei einem Spaziergang am Strand. Anschließend hatten Pease und der Proctor ihre Eindrücke verglichen. Beide fanden, dass von Lee keine Gefahr ausging. Er war der einzige Überlebende der Angriffsflotte und überaus dankbar für seine Rettung. Sein verständlicher Respekt vor Kelly und Loren und die Achtung einer Kultur gegenüber, die blaue Blitze der Zerstörung vom Himmel holen konnte, garantierten seine Loyalität. Diese neue Loyalität ging so weit, dass er Loren und Kelly beunruhigende Mitteilungen über die Aktivitäten in Washington machte.

Loren trug die Geschichte zum Proctor und fügte ihr einen Plan hinzu, wie man der Gefahr begegnen konnte. Bei der nächsten Sitzung des Rats setzte sich Proctor Pinkham dafür ein. Er betonte, dass ein gezielter Schlag notwendig sei, und zwar gegen Fort Belvoir südlich von Washington D.C, am Potomac. Dort befand sich die Gefahr. Das von Barodin und Pease entwickelte neue SHIELA-Terminal war dafür die perfekte Waffe. Es konnte in einem kleinen Rucksack oder in einem Aktenkoffer verstaut werden und erforderte keine genaue Positionsbestimmung mehr. Am besten war, dass es von dem Computer getrennt werden konnte, der die eigentliche Kommunikation mit SHIELA übernahm. Wenn das Gerät in feindliche Hände geriet, ließ es sich vom Computer aus deaktivieren. Der Computer selbst musste nicht mitgenommen werden. Es genügte, wenn eine kleine Angriffsgruppe an der Küste von Maryland abgesetzt wurde. Loren schlug vor, die Leitung der Gruppe zu übernehmen, und er bat D.D. Pease, ihn zu begleiten.

Die neue SHIELA-Waffe war wundervoll. Wenn sie ihnen im Bahama Channel zur Verfügung gestanden hätte, wäre der Kampf nach fünf Minuten vorbei gewesen. Sie bestand aus zwei kleinen Teleskopen, jedes mit einem Sender über dem Okular ausgestattet. Die Signale der Sender hatten verschiedene Frequenzen und gingen in unterschiedliche Richtungen. Ein kleiner Transceiver empfing sie und errechnete aus ihnen die Position der beiden Teleskope und die Richtung, in die sie zeigten. An der Seite eines jeden Teleskops gab es einen Knopf. Betätigte man ihn, berechnete der Transceiver den Schnittpunkt der beiden Teleskop-Sichtlinien und schickte die Koordinaten zum Computer, der sie sofort an Revelation-13 weitergab. Um die Laserwaffe zu verwenden, brauchte man nur noch das Ziel anzuvisieren und den Knopf zu drücken.

Während der zweiten Novemberwoche machte sich die achtzehn Meter lange Slup Dejah Thoris mit einer zwölfköpfigen Besatzung auf den Weg. Im Schutz der Dunkelheit segelte sie in die Chesapeake Bay und setzte die Fahrt nach Norden fort, zu einer kleinen, unter Naturschutz stehenden Insel. Dort gab es eine bewaldete Bucht, in der man sich tagsüber gut verbergen konnte. In der nächsten Nacht segelte die Dejah Thoris weiter, bis zur Mündung des Pautuxent River. Der Fluss war während der ersten knapp fünfzig Kilometer schiffbar und günstiger Wind brachte die Slup und ihre Landegruppe bis nach Eagle Harbor, Maryland. Als der Abend dämmerte, hatte die Dejah Thoris wieder ihr sicheres Versteck in der Bucht erreicht.

Eine breite Halbinsel erstreckte sich zwischen den Flüssen Pautuxent und Potomac, die fast parallel zueinander der Chesapeake Bay entgegenströmten. Von Eagle Harbor aus mussten Loren und D.D. Pease nur die Halbinsel überqueren, um direkt vor Fort Belvoir zu gelangen; die Entfernung belief sich auf knapp fünfzig Kilometer. Anschließend galt es, den Potomac zu überqueren, damit sie dem Ziel nahe genug kamen. Sie beschlossen, nachts zu marschieren. Am Nachmittag des ersten Tages wollte sich Loren den nahen Ort Waldorf ansehen. Pease blieb zurück und hütete ihre Ausrüstung.

Die Überraschung an dem Ort bestand darin, wie normal er aussah. Läden hatten geöffnet und Leute waren unterwegs. Kinder spielten auf dem Schulhof. Es gab keine Autos oder Lastwagen auf den Straßen. Offenbar waren alle Fahrzeuge von Menschen oder mithilfe von Pferden weggezogen worden. Loren betrat ein kleines Lebensmittelgeschäft und sah sich die ziemlich knapp bestückten Regale an.

»Sie sind fremd hier, oder?«, fragte der Ladeninhaber, ein gut sechzig Jahre alter Mann, der eine schmutzige weiße Schürze trug.

»Ja. Das heißt, eigentlich nicht. Ich bin hier geboren«, log Loren. »Bin zurückgekehrt, um mir noch einmal alles anzusehen.«

»Komischer Akzent.«

»Ja. Ich bin spanischer Herkunft. Mein Vater war Diplomat.«

»Komischer Grund für die Rückkehr. Die meisten Leute haben heutzutage nicht viel Zeit für Nostalgie.«

»Na ja, ich bin auf der Durchreise.«

»Und Sie sind auf dem Weg nach?«

»Washington. Wegen meiner Arbeit.«

»Ach? Ich nehme an, Sie haben keine Arbeitspapiere, oder?«

»Oh, ich habe sie derzeit nicht dabei.«

»Verstehe. Ein Deserteur, nehme ich an.«

Der Mann wirkte nicht bedrohlich. Loren schwieg und hoffte, etwas zu erfahren.

»Sie kommen jeden Morgen hierher und suchen nach Deserteuren. Am Morgen sollten Sie in diesem Ort aufpassen, mein Sohn. An Ihrer Stelle würde ich mich hier am Morgen nicht blicken lassen.«

»Nein, Sir.«

»Am Morgen sollten Sie besser ein ganzes Stück weiter westlich von hier sein. Das heißt, wenn Sie nicht geschnappt und zu den Straßentrupps zurückgeschickt werden wollen.«

»Danke, Sir.«

»Haben Sie Hunger, junger Mann?«

»Nein, danke. Es ist alles in Ordnung. Ich habe etwas Proviant dabei.«

Der Mann strich sich nachdenklich über den grauen Stoppelbart. »Angenommen, nur einmal angenommen, Sie suchen nach einem Platz, wo Sie länger bleiben können, wo Sie für Essen und vielleicht auch ziemlich echt aussehende Arbeitspapiere zum Beispiel mit Holzhacken bezahlen könnten.«

»Ja, nur einmal angenommen.«

»Nun, dann hätten Sie die Möglichkeit, hierher zurückzukehren und mit mir zu reden. Ich könnte Ihnen vielleicht helfen.«

»Ich werde daran denken.«

»Tun Sie das.«

Eine Pause. Loren versuchte, dem Gespräch einen neuen Anstoß zu geben. »Natürlich würde es kaum helfen, wenn man mich schnappt, bevor ich Gelegenheit erhalte, zu Ihnen zurückzukehren.«

»Nein, das wäre eher ungünstig.«

»Um mir den Rücken freizuhalten für den von Ihnen erwähnten Platz, an dem ich länger bleiben könnte, sollte ich vielleicht wissen, welcher Ort morgen Sicherheit bietet. Irgendwo im Westen, sagen Sie?«

»Mhm. Ich nehme an, Sie sind klug genug, die Interstates zu meiden. An Ihrer Stelle würde ich von hier aus nach Norden und Westen gehen, am Highway 228 entlang. Wo er sich nach Süden wendet, sollten Sie den Weg über Land fortsetzen, nach Westen. Über Accokeek erstreckt sich Busch- und Waldland, das ziemlich weit reicht. Soweit ich weiß, wird dort nicht groß gesucht, wegen der Sümpfe. Das ist natürlich nur ein Gerücht. Was weiß ich schon von solchen Dingen?«

»Danke für Ihre Hilfe, Sir.«

»Viel Glück, junger Mann. Denken Sie dran, dies ist Amerika. Sie sind noch immer frei, auch wenn gewisse Leute versuchen, Ihnen diesen Gedanken auszutreiben. Halten Sie ihn gut fest in Ihrem Kopf, diesen Gedanken. Wenn ich dreißig Jahre jünger wäre, würde ich Sie begleiten, mit der Freiheit in meinen Füßen, und den Trupps aus dem Weg gehen. Es gibt reichlich Gelegenheiten für Leute, die unabhängig sind und hart arbeiten können.«

»Noch einmal vielen Dank.«

Loren verließ den Ort. Es war ein klarer Altweibersommertag. Die Blätter an den Bäumen hatten sich bereits verfärbt. Er fühlte sich an den frühen Herbst in Ithaca erinnert. Dort stand nun der Winter bevor, der erste schwierige Winter einer neuen Ära. Plötzlich dachte er an Matthew und Margaret Duryea und fragte sich, wie sie zurechtkamen. Wenigstens waren beide gesund. Es war mehr nötig als ein Ithaca-Winter, um sie zur Strecke zu bringen. Doch bekamen sie alles, was sie brauchten? Er wusste, dass Tompkins County jedes Jahr eine gute Getreideernte einbrachte. Wenn dort ebenso fleißig geerntet wurde wie hier, war alles in Ordnung. Zu beiden Seiten der Straße befanden sich Arbeiter auf den Feldern, mähten Heu und banden es zu großen Bündeln zusammen, als Winterfutter für das Vieh. Loren war bereits an einigen Karren mit Stahlbehältern vorbeigekommen, die vermutlich Milch enthielten. Gezogen wurden sie von langsamen, friedlichen Ochsen. Die Leute, denen er auf der Straße begegnete, lächelten freundlich, wirkten aber auch wachsam. Offenbar hatten sie in den vergangenen Monaten gelernt, Fremden gegenüber vorsichtig zu sein. Schließlich ließ Loren die Straße hinter sich zurück und wanderte durch den kleinen Wald, den sie als Treffpunkt vereinbart hatten. Dort fand er D.D. Pease, der auf einem Gasbrenner Kaffee kochte.

*

Am zweiten Tag lagerten sie in den sumpfigen Wäldern, die der Ladeninhaber vorgeschlagen hatte. In der folgenden Nacht stahlen sie am Ufer des Potomac ein Ruderboot. Die Ruder fehlten und so benutzten sie zwei Bretter von einem verlassenen Bauplatz als Paddel. Die Strömung war erstaunlich stark an der Stelle, wo sie den Fluss überqueren wollten. Sie begannen die Reise über den Potomac etwa sechs Kilometer stromaufwärts vom Fort und als sie die Virginia-Seite des Flusses erreichten, schätzte Loren, dass ihr Ziel nur noch anderthalb Kilometer entfernt war. Vorsichtig stakten sie am Ufer entlang. Sie durften sich nicht von der Strömung am Fort vorbeitreiben lassen, das bestimmt bewacht war. Loren kletterte aus dem Boot und sondierte die Lage, als der Fluss einen weiten Bogen machte. Er bemerkte elektrisches Licht an einem Kai, etwa tausend Meter hinter der Biegung. Der Mond schien nicht, aber er glaubte, eine dunkle Linie zu erkennen, die von oberhalb des Kais in den Fluss reichte, vielleicht Wasserturbinen. Die andere Seite des Flusses und praktisch alle Bereiche, die sie passiert hatten, waren ohne elektrisches Licht gewesen.

Pease schob das Boot mit den improvisierten Paddeln ins Schilf, wo es hoffentlich nicht entdeckt wurde. Dann suchten sie sich einen Weg durch den Wald, fort vom Ufer. Jeder von ihnen verfügte über eine Taschenlampe, aber sie wagten nicht, Gebrauch davon zu machen. Nach einer halben Stunde erreichten sie den Memorial Parkway, der sich leer vor ihnen erstreckte. Geduckt schlichen sie durchs hohe Gras am Rand der Straße.

Ihr Ziel war nicht das Fort selbst, sondern die Anlegestellen davor. Früher waren sie von der Navy für Schiffe benutzt worden, die geringen Tiefgang hatten und in die Nähe von Washington gebracht werden mussten. Sie boten sogar Platz genug für einen oder zwei Zerstörer. Das Licht der wenigen Lampen am Dock reichte nicht aus, um zu erkennen, was dort lag. Deshalb mussten sie Tageslicht abwarten, um einen ge­nauen Eindruck von den Zielen zu gewinnen. Pease deutete auf eine lange Reihe von Zedern über dem Dock. Zwischen ihnen und der Straße, die an den Anlegestellen vorbeiführte, gab es einen schmalen Exerzierplatz. Vorsichtig näherten sich Loren und Pease den Bäumen und beobachteten uniformierte Seeleute im matten Licht. Sie schienen zu patrouillieren.

Zwanzig Minuten später hatten sie die Zedern erreicht. Hinter ihnen lag ein kleiner Wald, der bis hinunter zum Fluss reichte. Am kommenden Morgen würden sie vom Schutz der Zedern aus beobachten können, welche Schiffe am Dock lagen. Bis dahin konnten sie nur warten.

Am nächsten Tag beobachteten sie mit ihren Feldstechern die Aktivitäten beim und im Fort. Nach einigen Stunden wussten sie genug, um zu entscheiden, was getan werden musste. Aber da sie erst am Abend zuschlagen wollten, setzten sie die Beobachtungen fort.

In dem großen Backsteingebäude hinter den Anlegestellen war das Gas untergebracht, beziehungsweise eine Komponente des Nerven­gases – darauf hatte David Lee hingewiesen. Die andere befand sich in unterirdischen Räumen, zu erreichen durch gesicherte Zugänge in der Hügelflanke hinter dem Maschendrahtzaun. Die Machthaber hatten beschlossen, die beiden Bestandteile des Gases getrennt voneinander zu lagern, für den Fall, dass es zu einem Feuer kam oder etwas aus einem Behälter entwich. Nach Davids Aussagen handelte es sich bei dem Gas von Fort Belvoir um den gesamten vorhandenen Giftgasvorrat – man hatte ihn der Einfachheit halber vom Aberdeen-Arsenal hierher gebracht. Die einzigen anderen Gaswaffen, von denen der junge Kadett wusste, befanden sich in Redstone oder an der Westküste, in jedem Fall weit, weit entfernt. Loren wollte die Gasbehälter im Backsteingebäude zerstören, den Gasvorrat unter dem Hügel hingegen unangetastet lassen; damit ließ sich nichts mehr anfangen, wenn die andere Komponente fehlte. Vorsicht war geboten, denn es durfte nicht ein Kanister des zweiten Gases beschädigt werden. Der leichte Nordwestwind hätte die tödliche Gasmischung von ihnen fortgetragen, aber Loren wollte all den Toten, die er bereits auf dem Gewissen hatte, nicht die Leute hinzufügen, die in Windrichtung wohnten.

Die beiden Zerstörer am Dock waren ein weiteres Ziel. Alles deutete darauf hin, dass sie mit Dampfmaschinen ausgerüstet worden waren, einer Technik, die auch unter dem Einfluss des Layton-Effekts perfekt funktionierte. Dunkler Rauch stieg aus den beiden Schornsteinen. Loren und Pease hörten das Summen und Jaulen von Elektrowerkzeugen an Bord der Schiffe – ihren Strom bezogen sie vermutlich von der Dampfturbine und nicht den schwachen Wasserturbinen im Fluss. Es war nicht klar, wie viel Triebkraft die Dampfmaschinen den großen, schwerfälligen Metallschiffen geben würden, aber Loren zweifelte nicht an ihrer großen Durchschlagskraft bei einem Gefecht auf See.

Die sonst üblichen Geschütze waren entfernt worden und dafür präsentierten die Decks der beiden Zerstörer neue Waffen. Sie schienen noch nicht besonders gut zu funktionieren, aber das war nur eine Frage der Zeit. Die Schiffe mussten hier und jetzt zerstört werden, bevor sie Gelegenheit bekamen, nach Süden aufzubrechen. Das lange Rohr auf dem einen Deck schien eine Dampfkanone zu sein, die dann und wann weißen Rauch ausspuckte. Bei den Tests im Verlauf des Tages baute die Dampfkanone mehrmals Druck auf und schleuderte dann kleine Projektile in den Fluss. Seeleute in Stechkähnen maßen jedes Mal die erreichte Entfernung, die allerdings über hundert Meter nicht hinausging.

Der zweite Apparat war ein langer Linearmotor, eine Art elektromagnetische Abschussrampe. Ein ziemlich scheußlich aussehender Stahlpfeil ruhte hinten auf der Rampe. Neben der Vorrichtung stand ein Matrose und sprach in ein kabelgebundenes Wechselsprechgerät – Loren sah, dass das Kabel ins Innere des Schiffs führte. Als der Stahlpfeil für den Abschuss bereit war, wurden die Dampfturbinen hochgefahren und erzeugten mehr elektrischen Strom. Der Matrose betätigte einen Messerschalter und Elektrizität knisterte, so laut, dass Loren und Pease es in ihrem Versteck bei den Zedern hörten. Ein elektrischer Impuls ging durch den Linearmotor und riss den Pfeil mit. Vom Prinzip her schön und gut, aber die neue Waffe ließ noch zu wünschen übrig, denn die Beschleunigung reichte nicht einmal aus, den Pfeil von der Rampe zu bringen. Während des Nachmittags stellte Loren im Kopf einige Berechnungen an und versuchte herauszufinden, wie viel Beschleunigung ein solcher Apparat erzeugen konnte. Es gab keinen Grund, warum die neue Waffe – genug Elektrizität vorausgesetzt, und die sollte von den Dampfmaschinen zur Verfügung gestellt werden können – nicht in der Lage sein sollte, ein ein Kilogramm schweres Projektil fünf Kilometer weit oder gar weiter zu schießen. Wenn anstelle des Pfeils eine Gaskapsel als Geschoss eingesetzt wurde, konnte man sich dem Feind gegen den Wind nähern und trotzdem Giftgas gegen ihn einsetzen. Durch die große Reichweite wäre diese Waffe SHIELA bei einer offenen Seeschlacht überlegen gewesen.

*

Die Verwendung der SHIELA-Teleskope für die Positionsbestimmung des Ziels erforderte, dass sie mindestens sechs Meter voneinander entfernt waren. Pease bezog Posten am Ende der Zedernallee und Loren blieb auf der Anhöhe, wo sie zuvor in Wartestellung gegangen waren. Ein ausgelegtes Kabel verband ihre beiden Wechselsprechgeräte, die Edward zusammengebastelt hatte, damit sie in Verbindung bleiben konnten. Jedes Gerät verfügte über einen Kopfhörer und ein Mikrofon, das sich nach vorn bog, direkt vor den Mund. Die Einzelteile stammten aus dem Kontrollraum des Guantánamo-Stützpunkts.

Loren sprach mit leiser Stimme in sein Mikrofon. »Hören Sie mich, D.D?«

»Laut und deutlich.«

»Ebenfalls.«

Es war dunkel genug und noch wichtiger: Die Arbeiter hatten Feier­abend gemacht. Es waren nur noch die patrouillierenden Wachen zu sehen, die Loren und Pease auch am vergangenen Abend bemerkt hatten. Es sollte nicht weiter schwer sein zu vermeiden, sie in Mitleidenschaft zu ziehen. Bestimmt liefen sie davon, wenn die ersten Laserstrahlen vom Himmel kamen.

»Wir beginnen mit dem Backsteingebäude«, sagte Loren. »Richten Sie das Teleskop auf die linke Ecke. Von dort aus geht es nach rechts weiter, jeweils um zehn Meter. Das dürfte mehr oder weniger der Breite jeder Fenstergruppe entsprechen. Warten Sie auf mein Zeichen.«

»Verstanden«, bestätigte Pease.

Loren visierte eine Stelle an, die sich ein wenig weiter rechts von der befand, die er Pease genannt hatte – der Strahl sollte das Innere des Gebäudes erreichen.

»Feuer«, sagte er und drückte den kleinen Knopf an der Seite des Apparats. Es knackte laut und ein Strahl zuckte durch die Nacht, traf das Dach des Gebäudes. Rufe erklangen am Dock. »Zehn nach rechts … Feuer.« Auf diese Weise arbeitete er sich methodisch über das Ziel. Anschließend gab er Pease neue Richtungshinweise und sie begannen noch einmal von vorn, wieder auf der linken Seite, diesmal aber weiter im Innern des Gebäudes. Der ganze Vorgang hatte einen einfachen Rhythmus. Ein Schuss nach dem anderen … Loren verglich es mit Nähen, stellte sich den Strahl als die Nadel einer gewaltigen Nähmaschine vor, die sich in regelmäßigen Abständen in den Stoff bohrte, das Gebäude mit den Gasbehältern. Mehrere »Nähte« entstanden, immer von links nach rechts, und jedes Mal zwei Meter weiter innen. Es gab keinen Grund zu Eile. Loren und Pease blieben in der Nacht verborgen und es blickte ohnehin niemand in ihre Richtung. Die Soldaten hatten sich auf den Hügel über dem Dock zurückgezogen und beobachteten das Spektakel von dort aus.

Während der Planungen in Baracoa hatte jemand die Vermutung geäußert, das Gas könne entflammbar sein. Bei den ersten beiden Durchgängen war deutlich entweichendes gelbes Gas zu sehen, aber kein Feuer. In der Mitte des dritten Durchgangs leckten plötzlich orangerote Flammen aus dem Gebäude. Ab und zu donnerte es, auch dann, wenn kein Strahl vom Himmel kam; Loren vermutete, dass das Donnern von in der Hitze explodierenden Gasbehältern stammte. Als es Zeit wurde, sich das nächste Ziel vorzunehmen, brannten die Reste des Backsteingebäudes lichterloh und das große Feuer ließ sich nur dadurch erklären, dass auch das Gas brannte. Durch das SHIELA-Teleskop beobachtete Loren glühende Stahlträger. Die Temperatur musste sehr hoch sein und er bezweifelte, dass unter solchen Umständen Gasbehälter intakt bleiben konnten.

Nach dem Gebäude nahmen sie sich den Bug des ersten Zerstörers vor. Loren ließ einen laut knackenden und knisternden Strahl aufs Vordeck herabzucken und visierte anschließend das Vordeck des zweiten Schiffs an. Es sollte eine Warnung sein, für den Fall, dass sich Wachen unter Deck befanden. Er wartete und gab eventuellen Personen an Bord Gelegenheit, die Schiffe zu verlassen, doch niemand zeigte sich. Daraufhin schickten Loren und Pease weitere Laserstrahlen auf den ersten Zerstörer herab, wobei erneut die Nadelstichmethode Anwendung fand. Sie hatten gerade erst die halbe Länge des Schiffs hinter sich gebracht, als der Zerstörer zu sinken begann. Der Bug neigte sich nach unten und schon nach kurzer Zeit gab es kaum mehr als anderthalb Meter Freibord. Tiefer sank er nicht; offenbar lag der Kiel bereits auf Grund. Als die Strahlen den Mittelteil trafen, hörten sie, wie die Kessel explodierten. Loren lenkte die »Nadelstiche« bis zum Heck, trennte damit die eine Hälfte des Schiffs von der anderen, die sich zur Seite neigte, halb ins Wasser.

Das zweite Schiff kam an die Reihe und als es ebenfalls zerstört war, richtete Loren seinen Blick auf die vielen uniformierten Zuschauer, die sich auf dem Hügel rechts von ihm drängten. Er zielte einen Strahl direkt vor sie, woraufhin sie erschrocken auseinanderstoben. Loren ließ weitere Strahlen folgen und trieb die Leute damit ins Fort zurück.

Das letzte Ziel waren die Wasserturbinen im Fluss. Damit hatten sie bis zum Schluss gewartet, damit die Lampen beim Dock an blieben und die primären Ziele erhellten. Drei Laserstrahlen auf die Reihe der Wasserturbinen genügten, um die Lampen dunkel werden zu lassen. Beim Zielen ließen Loren und Pease besondere Vorsicht walten, denn direkt neben den Turbinen befand sich eine Anlegestelle mit Dingis und eins davon brauchten sie, um über den Fluss zu entkommen. Loren feuerte einige letzte Strahlen vor die Mauern des Forts, damit die Soldaten drinnen blieben.

»Verschwinden wir von hier«, sagte er.

»Ja.«

Loren nahm den Kopfhörer ab und hörte ein Rascheln im Gras, als Pease das Wechselsprechgerät am Kabel zu sich zog. Alles in ihm drängte danach, die Ausrüstung einfach liegen zu lassen und sofort zu den Booten zu laufen. Aber Pease verstaute alles ruhig in seinem Rucksack – die beiden Geräte, die Kopfhörer mit den Mikrofonen und den Rest – und erst dann machten sie sich auf den Weg zum Flussufer. Es herrschte fast völlige Finsternis; das einzige Licht kam von den glühenden Resten des Backsteingebäudes. Als sie sich den Anlegestellen näherten, sah Loren die weißen Dingis und neben ihnen ein kleines weißes Wachhaus, nicht größer als eine Telefonzelle. Sie kamen dicht daran vorbei.

»Halt! Wer da?«

Ein Matrose in weißer Uniform erschien vor ihnen. Seine Stimme zitterte vor Furcht. Loren fand es unglaublich, dass jemand auf seinem Posten geblieben war, obwohl die blauen Laserstrahlen in unmittelbarer Nähe Chaos angerichtet hatten. Aber dort stand er, ein junger Mann, der zu stur gewesen war, um die Flucht zu ergreifen. Jetzt fürchtete er sich und schien nicht recht zu wissen, was er tun sollte. Er hielt ein weißes Gewehr in den Händen, mit einem am Lauf befestigten Bajonett. Das Gewehr zitterte, doch es stellte trotzdem eine Gefahr dar.

»Wer sind Sie?« Er kreischte fast. »Identifizieren Sie sich!«

»Ich bin Captain Connell«, sagte Pease. »Immer mit der Ruhe, Junge.«

»Ja, das ist Captain Connell«, fügte Loren hinzu. »Und ich bin … sein Adjutant.« Loren fragte sich, welchen Rang der Adjutant eines Captains hatte.

»Mein Adjutant Lieutenant Smith«, sagte Pease. »Wir sind hier, um uns ein Bild vom angerichteten Schaden zu machen.«

Der junge Mann hätte ihnen gern geglaubt, aber es klang zu unglaubwürdig. Zwei Männer in Zivil, mit Rucksack, bei einem ein spanischer Akzent. Es war genau die Art von Eindringlingen, nach der er Ausschau halten sollte. Und nachdem er die blauen Strahlen minutenlang ertragen hatte, wollte er sich jetzt nicht von seiner Furcht überwältigen lassen.

»Die Parole, schnell!«, rief er.

»Ja, die Parole.« Peases Stimme blieb ruhig und wies darauf hin, dass er einen Moment brauchte, um sich an die Parole zu erinnern. Sie war ihm nur entfallen.

Pease hob beide Hände zu einer beschwichtigenden Geste. »Nennen Sie ihm die Parole, Lieutenant Smith.« Er trat nach rechts, zeigte dabei seine Hände und ließ keinen Zweifel daran, dass er unbewaffnet war.

»Die Parole lautet … he, nein, das war die von gestern. Die heutige Parole lautet …« Lorens Akzent war unüberhörbar. Er kam sich vor wie einer der Schurken in einem Pancho-Villa-Western.

Es war zu viel. Der junge Soldat stürmte Loren entgegen, das Bajonett nach vorn gerichtet. Pease trat nach seinen Beinen, als er an ihm vorbeikam. Loren warf sich nach links, um der Klinge auszuweichen, doch sie traf ihn an der rechten Wade. Einen Moment später war Pease auf dem Soldaten, schlug mit der Faust zu und traf ihn hinter dem Ohr. Der junge Mann rührte sich nicht mehr. Loren rollte herum, tastete nach der Schnittwunde und fühlte Blut an der Jeans.

Pease schlang den Arm um ihn und Loren kam so plötzlich nach oben wie bei der Seeschlacht, als Claymore ihn aus dem Wasser gezogen hatte. D.D. Pease brachte eine Schulter unter ihn und trug ihn die letzten Schritte bis zum ersten Dingi. Er trat ins Boot, aber zu schnell und zu schwer beladen. Das Dingi glitt unter seinem Gewicht zurück, bis es das Ende der Leine erreichte und mit einem Ruck verharrte, wodurch Pease das Gleichgewicht verlor und fiel. Lorens Kopf stieß gegen das lackierte Holz einer Ruderbank und als er benommen aufsah, stellte er fest, dass Pease in den Fluss gestürzt war. Das Dingi hatte viel Wasser aufgenommen, schwamm aber noch. Pease richte sich auf, stand mit den Füßen im Schlamm am Grund. Er zog sich an der Anlegestelle hoch, löste die Leine des Boots und trat erneut hinein, diesmal aber ein ganzes Stück vorsichtiger. Es war so finster, dass man nicht erkennen konnte, wie das Segel gesetzt werden musste, doch alle Dingis ähneln sich. Pease tastete am Mast nach dem Fall. Zum Glück war das Segel an Mast und Baum gebunden und steckte nicht in seiner Hülle. Es kam halb nach oben, aber nicht weiter. Pease strich mit der Hand über den Baum, auf der Suche nach weiteren Stellen, wo das Segel festgebunden war. Innerhalb weniger Sekunden fand er sie, löste die Plane und zog das Segel ganz hoch. Der Wind wehte aus dem Westen und das kleine Boot neigte sich zur Seite und nahm Fahrt auf. Pease langte nach der Pinne, kletterte über den immer noch liegenden Loren hinweg, setzte sich ins Heck und steuerte das Boot weiter auf den dunklen Fluss. Als sie seine Mitte erreicht hatten, mehr oder weniger, fierte Pease das Segel. Ihr Kurs führte fast genau in Windrichtung.

Pease holte Messer und Taschenlampe hervor und leuchtete damit auf Lorens Bein. Die Bilge war rot von Blut. Er schnitt das Hosenbein auf und sah eine Wunde, aus der das Blut ungehindert herausströmte.

»Lieber Himmel«, brachte er hervor. »Sag mir, was ich tun soll, Loren.«

»Druck«, ächzte Loren. Er konnte sich kaum konzentrieren. »Druckverband. Con tela.«

»Mit was?«

»Con algadon. Con tela. Fester Verband. Starker Druck.«

»Was zum Teufel ist ›Algadon‹?« Pease versuchte, sich an den Spanischunterricht vor einigen Jahren zu erinnern. »Baumwolle?«

»Si. O tela. Non importa qual tela.«

»Stoff.« Pease griff in seinen Rucksack, suchte darin nach etwas Trocke­nem und fand ein Flanellhemd. Mit dem Messer zerschnitt er es in Quadrate und lange Streifen.

»Druckverband. Wenn er, Sie wissen schon, nass wird …« Loren wusste nicht mehr, was er sagen wollte.

»Wenn er nass wird, lege ich darauf einen weiteren Verband an. Meinen Sie das?«

»Si.«

Lorens Bein tat nicht weh, dafür aber sein Kopf. Pease saß im Heck, mit einem Arm über der Pinne, den Blick auf den Horizont gerichtet. Lorens untere Beinhälfte fühlte sich steif und wund an und außerdem hatte er Kopfschmerzen, aber im Großen und Ganzen ging es ihm nicht schlecht. Später musste er mit Fieber und einer Infektion rechnen, doch dann befanden sie sich wieder an Bord der Dejah Thoris, wo es Antibiotika und einen Sanitätskasten gab.

Er stemmte sich auf den Ellenbogen hoch und blickte über die Ruderbank. Direkt ihm gegenüber, im Süden, erstreckte sich ein flaches grünes Ufer. Sie waren in der Nähe der Virginia-Seite des Flusses unterwegs, denn dort gab es zwischen all den Naturparks und Schutzgebieten kaum Siedlungen. Das Maryland-Ufer lag acht Kilometer weiter im Norden.

»Sind wir unter der Mautbrücke hindurch?«, fragte Loren.

»Ja. Gegen halb zwei. Das dort vorn ist Coles Point.« Pease deutete auf eine flache Landzunge vor ihnen. Während der Nacht waren sie viel besser vorangekommen, als Loren gehofft hatte. Der Wind wehte noch immer aus Westen.

»Haben Sie die Dejah Thoris erreicht?«

»Alles erledigt. Sie wartet bei der St. George Island auf uns. Wenn der Wind hält, sind wir in einer Stunde da.«

Loren hielt die Nase in den Wind. »Er wird halten. Wenn er nachlässt, dann erst gegen Abend. Er wird den ganzen Tag wehen. Ich brauche mehr Verbandsmaterial.«

Pease half ihm auf die Knie und schob ihm den offenen Rucksack entgegen. Einige der aus dem Hemd geschnittenen Quadrate und Streifen lagen darauf. »Kann ich helfen?«

»Nein, überlassen Sie es mir. Aber wenn ich das Bewusstsein verliere … Bitte verbinden Sie die Wunde dann so wie eben.«

Loren zog den blutgetränkten Stoff vom Schnitt in der Wade, eine Schicht nach der anderen. Das Blut war dunkel und geronnen. Als er die letzte Stofflage entfernte, strömte es wieder rot aus der Wunde.

»Ufff«, ächzte Pease leise und sank auf den Boden des Dingis. Sein Gesicht war weiß.

»Wende dich nie ab«, sagte Loren sanft. »Man sollte den Blick nicht abwenden, wenn es eben möglich ist. Man muss ihn auf die Wunde gerichtet halten und lernen, seine Gefühle zu beherrschen. Beim nächsten Mal wird es etwas einfacher und beim übernächsten Mal noch einfacher.«

Pease wirkte skeptisch.

»Warum lächeln Sie, Martine?«

»Wegen des tapferen D.D. Pease. Er ist einer der tapfersten Männer, die ich kenne. Er kann tun, was getan werden muss, wenn andere Menschen allein damit beschäftigt sind, um ihr Leben zu fürchten. Aber an einem ruhigen Morgen nach dem Abenteuer fällt er fast in Ohnmacht, als er ein bisschen Blut sieht.«

Pease zwang sich zu beobachten, wie Loren einen neuen Verband anlegte. Als das geschafft war, befanden sie sich auf einer Höhe mit Coles Point. Kurz darauf geriet St. George Island in Sicht. Auf der Leeseite der Insel zeigte sich die hohe Pyramide eines Segels: die Dejah Thoris. Sie beobachteten, wie das Schiff den Kurs änderte und auf sie zukam und dreißig Minuten später waren sie an Bord.