15
Der Mann, der eingriff

Homer hatte sie alle zu Bett geschickt. Während der vergangenen Nacht waren sie auf den Beinen gewesen, sagte er, und sie mussten frisch sein für das, was geschehen würde. Doch zumindest für Loren und Edward war an Schlaf nicht zu denken. Sie saßen am Fenster von Edwards Zimmer und blickten über die Stadt. Ed hatte das Licht ausgeschaltet, dann wieder ein und noch einmal aus. Eine ganz einfache Sache, über die man gar nicht nachdachte, aber würde sie am kommenden Tag noch möglich sein? Er durchquerte das dunkle Zimmer und setzte sich auf den leeren Stuhl Loren gegenüber.

»Ich glaube, ich weiß, was passieren wird«, sagte er. »Kelly ergeht es ebenso. Es scheint vorherbestimmt zu sein.«

Loren nickte betrübt.

»Die Offshore-Kubaner werden sich genau so verhalten, wie es Simula-7 vorhergesagt hat. Sie sind vollkommen berechenbar. Sie werden St. Louis angreifen, wie in der Simulation. Sie werden es sich nicht anders überlegen. Bestimmt gehen sie davon aus, dass unsere Behörden eine Evakuierung der Stadt veranlassen. Und bestimmt reden sie sich ein, dass wir eine Eskalation vermeiden wollen. Es wäre dumm von uns, alles auf die Spitze zu treiben – nach dem, was wir auf Kuba angerichtet haben, ist die Zerstörung einer leeren Stadt durch eine einzelne Rakete nicht mehr als eine kleine Verwarnung.«

Loren nickte erneut. »Dumm«, wiederholte er.

»Sie werden glauben, dass wir nicht zurückschlagen, aber da irren sie sich. Wir wissen es besser. Stell dir vor, was passiert, wenn sie ihre eine Rakete auf St. Louis abfeuern. Das modifizierte Revelation-13 erledigt sie vielleicht, oder auch nicht. Möglicherweise ist das System nicht in der Lage, eine einzelne Rakete abzufangen. Angenommen, es ist dazu imstande. Was machen wir dann?«

Loren dachte darüber nach. »Die logische Sache wäre, nichts weiter zu tun. Die Welt könnte glauben, dass Amerikas Raketenabwehrschild funktioniert, dass wir unangreifbar sind. Es wäre eine sehr starke Position für uns.«

»Aber wir gehen nicht logisch vor. Wir sind Fanatiker.«

»Ja. Also regen wir uns mächtig auf. Man hat uns angegriffen; wir müssen es den Angreifern zeigen. Es ist eine Frage verletzten Männerstolzes.«

»Also schicken wir unsere Raketen los. Wir radieren Iran, Nordkorea, Pakistan und alle anderen Länder aus, die uns ein Dorn im Auge sind. Genau das passiert, wenn der Schild hält. Wenn nicht … Dann sitzen wir in den Trümmern von St. Louis. Es wird viele Opfer geben, weil wir die Stadt nicht evakuiert haben. Was machen wir?«

»Vergeltung. Wir suchen einen Sündenbock und starten unsere Raketen.«

»Wir starten sie auf jeden Fall.«

»Ja, auf jeden Fall.«

Sie schauten in die Nacht hinaus und beobachteten die Lichter der Stadt. Nach einer Weile fuhr Edward fort: »In der griechischen Tragödie gibt es einen Moment des Übergangs, direkt nach dem Höhepunkt. Vorher haben Menschen die Ereignisse kontrolliert und nachher kontrollieren die Ereignisse die Menschen. Ich habe den Eindruck, dass dieser Moment heute Morgen verstrichen ist. Jetzt erwartet uns das düstere Ende der griechischen Tragödie; die Akteure werden zu Zuschauern.«

»Das gilt nicht für uns«, sagte Loren. »Bei uns sieht es anders aus. Wir können eingreifen. Wir können handeln, den Effektor einschalten.«

»Aber können wir frei entscheiden? Haben wir eine Wahl? Eigentlich nicht. Wir müssen den Effektor einschalten. Die Zahlen diktieren es, denn selbst ein begrenzter nuklearer Schlagabtausch würde weitaus mehr Opfer fordern. Wir müssten selbst dann eingreifen, wenn wir wüssten, dass weitere Eskalationen ausbleiben. Das ist der zweite Teil von dem, was meinem Gefühl nach heute Nacht geschehen wird: Wir schalten den Effektor ein. Wodurch die Welt zum Stillstand kommt. Die Menschen, die von den Atomraketen getötet worden wären, leben noch – wir haben sie gerettet. Aber jetzt funktioniert nichts mehr. Die abgefeuerten Raketen fallen zu Boden, ohne zu explodieren, doch das ist nur der Anfang. Motoren lassen sich nicht mehr starten, es gibt keinen elektrischen Strom, Flugzeuge stürzen ab … Der wahre Albtraum beginnt.«

»Vielleicht können wir den Effektor später abschalten. Wenn die Krise überstanden ist.«

»Nein, nie. Es wird immer mehr Waffen geben, die auf ihre Chance warten.«

»Wir können den Effektor nach Belieben ein- und ausschalten.«

»Loren. Denk gründlich darüber nach. Wenn wir uns einen Spaß daraus machen, den Dauerhaften Effektor zu aktivieren und zu deaktivieren … Wie lange dauert es dann wohl, bis die Leute merken, dass wir dahinterstecken?«

»Ich verstehe nicht ganz …«

»Rupert Paule wendet sich an Armitage, einen Physiker von Weltklasse, und sagt: ›Was zum Teufel ist hier los? Welche Kraft neutralisiert unsere Raketen, Motoren und Generatoren?‹ Armitage nimmt einige Untersuchungen vor, während der Effekt wirkt. Was kann er herausfinden?«

Loren überlegte. »Die potenzielle Energie in jeder brennbaren Substanz erscheint reduziert, wenn sich der Effekt auswirkt, und kehrt ohne den Effekt auf das normale Niveau zurück. Das böte einen Hinweis auf die ganze Theorie von T-prime. Wozu wir Jahre gebraucht haben, um es zu verstehen …«

»Armitage könnte viel schneller die richtigen Schlüsse ziehen, vielleicht in Wochen.«

»In Tagen«, sagte Loren.

»Wahrscheinlich. Und dann würde Paule fragen: ›Wer tut uns dies an, Dr. Armitage?‹ Und für Lamar wäre es schon nach einer Sekunde klar: Homer Layton und sein Team. Homers Artikel in Science über die Pekuliarbewegung bietet einen klaren Hinweis.«

»Sie würden über uns herfallen, uns den Effektor wegnehmen und ihn ausschalten.«

»Und manchmal würden sie ihn wieder einschalten.«

Loren begriff, was Edward meinte. »Oh.«

»Ja. Sie schalten ihn ein, wenn sie gegen sie gerichtete strategische Aktionen entdecken. Und sie schalten ihn aus, wenn sie selbst zuschlagen wollen. Einen besseren Abwehrschild gibt es nicht.«

»Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht.«

»Es wäre furchtbar. Denn ihnen müsste klar sein, dass auch andere Länder Physiker haben. Mit dem Hinweis, den wir ihnen gegeben haben, kommen sie schnell hinter das Geheimnis von T-prime. Was bedeutet, dass sie nach einigen Wochen ihren eigenen Effektor bauen können. Doch das würde den Eiferern und Fanatikern ganz und gar nicht gefallen. Sie müssten damit rechnen, dass ihr Vorteil nach wenigen Wochen dahin ist. Was würden sie tun?«

»Sie müssten handeln, um ihren Vorteil abzusichern. Sie würden vielleicht …«

»Genau. Sie würden angreifen, solange sie die Gewissheit haben, dass sich der Gegner nicht wirkungsvoll zur Wehr setzen kann. Davon müssen wir ausgehen.«

Es dauerte eine Weile, bis sich die Erkenntnis festsetzte. Die Entscheidung, den Effektor einzuschalten, war auch die Entscheidung, ihn für immer anzulassen. »Vielleicht funktioniert der Effektor gar nicht«, sagte Loren.

»Das ist unsere optimistischste Hoffnung.« Edward lächelte bitter. »Es würde bedeuten, dass wir zusammen mit dem Rest der Welt in nuklearer Glut gebraten oder vom Fallout vergiftet werden. Wir wären tot, was wir eines Tages ohnehin sein werden. Aber zumindest müssten wir uns nicht vorwerfen, dass alles unsere Schuld ist.«

*

Oswald Burlingame blieb in jener Nacht wach. Er war inzwischen zum technischen Verbindungsmann des neu wiederbelebten Shield-Projekts geworden, das in der Johns-Hopkins-Universität Gestalt annahm. Zentraler Sitz des Projekts war ein Außengebäude, das dem Sportprogramm der Universität zur Verfügung gestanden hatte. In gewisser Weise erinnerte das Setting ans Football-Stadion, in dem während der vierziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts das Manhattan-Projekt untergebracht gewesen war. Burlingame wusste um diese Parallele, weil er einen Film über das Manhattan-Projekt gesehen hatte. Er zeigte dem bewaffneten Wächter seinen Ausweis und trug sich in die Liste ein. Es war eine Minute vor Mitternacht.

Um Punkt zwölf traf er für die Besprechung mit Dr. Armitage ein. Der Professor wartete auf ihn, zusammen mit zwei Mitarbeitern. Burlingame lächelte und schüttelte ihnen die Hand. Die herzliche Begrüßung und seine allgemeine Freundlichkeit waren neu für Burlingame. Er hatte gründlich über die unglückliche Beziehung nachgedacht, durch die es so schwer gewesen war, ein produktiver Teil des Cornell-Teams zu werden. Das sollte sich nicht wiederholen. Er wollte zu einem echten Förderer dieses Projekts werden. Alle Beteiligten sollten wissen, dass er dazugehörte. Und sie sollten eifrig darauf bedacht sein, ihn über ihre Fortschritte auf dem Laufenden zu halten. Dieser Eifer hatte in Cornell zweifellos gefehlt und inzwischen war Burlingame voller Demut bereit, die Verantwortung dafür zu übernehmen. Er war zu sehr Widersacher und Opponent gewesen. Kein Wunder, dass die Cornell-Gruppe keine Bereitschaft gezeigt hatte, irgendwelche guten Nachrichten an ihn weiterzugeben. Das sollte hier nicht noch einmal geschehen.

Manchmal war es die Art und Weise, wie man eine Frage stellte, die es dem Gegenüber ermöglichte, die beste aller Antworten zu geben. Burlingame begann mit: »Nun, ich nehme an, alles läuft gut?«

»Oh, sehr gut. Sehr gut.« Armitage wirkte bedrückt.

»Jede Menge Fortschritte?«

»Äh, ja.«

»Ich wette, Sie sind ein gutes Stück vorangekommen.«

»Ja.«

»Also ist alles bestens, nicht wahr?«

»Mhm.«

Burlingame schrieb »gutes Stück vorangekommen« und »alles bestens« in sein Protokoll. Eigentlich wollte er fragen: Ist das verdammte Ding endlich einsatzbereit? Aber eine solche Frage durfte der neue Burlingame nicht stellen; sie hätte ein Nein herausgefordert.

»Bitte gestatten Sie mir eine Frage, Dr. Armitage. Welche von den erzielten Fortschritten können Sie mir heute Abend zeigen? Womit ich Sie natürlich nicht unter Druck setzen möchte. Ich würde nur gern wissen, wie weit Sie sind und was funktioniert.«

»Wir können einen Strahl auf ein Ziel richten, für eine Sekunde. Wir geben die Koordinaten ein, das Programm wählt den nächsten Satelliten und gibt ihm die Anweisung zu feuern. Alles ist präzise und stabil.«

»Oh, das ist ausgezeichnet. Ja, wirklich ausgezeichnet. Natürlich habe ich mir, offen gestanden, unter ›Fortschritte‹ etwas anderes vorgestellt, denn dazu sind wir schon seit einer ganzen Weile imstande. Trotzdem, es ist ausgezeichnet. Ich kann den Herren nur gratulieren.«

Keiner der Herren sah übermäßig glücklich aus. Nach einem Moment sagte Armitage: »Ich schätze, die Fortschritte liegen bei der Stabilität. Die Software enthielt einige große Fehler, die dazu führten, dass der Satellit manchmal gar nicht feuerte oder auf einen anderen Ort als das angegebene Ziel. Diese Fehler sind jetzt korrigiert.«

Burlingame gab sich Mühe, freundlich zu bleiben. Unter Fortschritt verstand er etwas anderes als die Korrektur von Fehlern, von deren Existenz er bisher gar nichts gewusst hatte. »Das ist gut. Nun, abgesehen von diesen Fortschritten sind Sie bestimmt auch in anderen Bereichen vorangekommen oder sehe ich das zu optimistisch?« Sie alle wussten, was mit den »anderen Bereichen« gemeint war: das Sammeln und die Auswertung von Sensordaten, mit denen das System Raketen im Anflug identifizierte. Armitage und seine Leute sprachen in diesem Zusammenhang von »Sicht«.

»Wir konnten den Satelliten etwas mehr Sicht geben.«

»Das sind hervorragende Neuigkeiten, ja, wirklich hervorragende Neuigkeiten. Das System ist also imstande, Ziele zu erkennen.«

»Nicht ganz. Zuerst einmal: Es kann nur ein einzelnes Objekt erkennen. Es sind einige Hundert Sensoren im Einsatz, aber bisher lassen sie sich nur einzeln steuern. Mit anderen Worten: Wenn sie alle auf dasselbe Objekt gerichtet sind, können wir davon sprechen, dass SHIELA ein Objekt ›sieht‹.«

»Oh. Aber das sind doch Fortschritte, oder?« Ein Teil der Anspannung wich aus Burlingames Nacken. Langfristig gesehen würde es kaum genügen, wenn das System in der Lage war, nur ein Ziel zu erkennen, aber dieses eine Mal – für diese ganz besondere Nacht – sollte es ausreichen.

»Ja. Es ist ein Fortschritt, weil wir vorher nicht dazu imstande waren. Es hat uns erhebliche Mühe gekostet, diesen Fortschritt zu erzielen.«

»Was ich sehr zu schätzen weiß, wie ich Ihnen versichern möchte, Lamar. Mir ist durchaus klar, dass Sie und Ihre Leute schwere und großartige Arbeit leisten. Ich würde sagen, niemand weiß es mehr zu schätzen als ich, aber da gibt es natürlich noch den Präsidenten, der es sicher noch mehr zu schätzen weiß.«

»Mhm.«

»Er weiß es sehr zu schätzen, möchte ich betonen. Nun, jetzt da wir ›Sicht‹ haben, ist es doch praktisch geschafft, oder?«

Diese Worte waren der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

»Nein, verdammt, wir haben es nicht praktisch geschafft!«, explodierte Armitage. »Wir stehen noch immer am Anfang!«

»Äh, das meine ich ja«, sagte Burlingame lahm. »Es wartet noch immer viel Arbeit auf uns.«

»Unglaublich viel. Sechshundert Personen sollten an diesem Projekt arbeiten. Uns fehlen fünfhundertachtzig von ihnen. Stellen Sie sich das einmal vor. Wir reißen uns den verdammten Arsch auf, indem wir versuchen, die Arbeit von weiteren fünfhundertachtzig Spezialisten zu erledigen.«

Burlingame versuchte, beeindruckt zu wirken. »Eine unglaubliche Anstrengung, meine Herren. Niemand sonst auf der Erde, und ich meine die ganze Erde, wäre dazu in der Lage. Ich wollte nur sagen: Innerhalb gewisser Grenzen können wir gewisse Dinge tun. Es gibt natürlich Grenzen. Aber innerhalb davon können wir das eine oder andere tun. Das wollte ich nur sagen.«

»Ja, wir können Folgendes tun: Wir können einen Strahl für eine Sekunde auf einen bestimmten Ort richten und wir können jeweils ein Objekt sehen.«

»Wunderbar. Wir können also ein Objekt erkennen und dann darauf feuern, für eine Sekunde, nicht wahr?«

Armitage sah einfach nur müde aus. »Zeigen Sie ihm die Demo, Lawrence.«

Lawrence Perkins drehte sich um und schaltete den Bildschirm ein. Burlingame lächelte freundlich, dazu bereit, sich beeindrucken zu lassen. Er fühlte sich schon viel besser. Die Demo würde ihm zeigen, dass das System zumindest den Anforderungen dieser Nacht genügte. Es brauchte nur ein einzelnes Ziel zu erkennen, eine Rakete im Anflug, und den Laser­strahl darauf zu richten. Nicht zu viel verlangt nach all den Wochen harter Arbeit.

Der Bildschirm zeigte Sterne, die von links nach rechts glitten. »Der Sensor rotiert und sucht nach etwas«, kommentierte Perkins. »Wir sehen Sterne auf dem Schirm, aber der Sensor erkennt sie nicht. Sie sollen uns einen Eindruck von der Bewegung des Sensors vermitteln. Wichtig ist, dass Sie verstehen: Der Sensor erkennt die Sterne nicht.«

»Oh, schon gut«, sagte Burlingame. »Dagegen gibt es nichts einzuwenden. Ich verlange keine Perfektion.« Wen kümmerte es, ob das verdammte Ding die Sterne sehen konnte oder nicht?

»Ich wollte nur ganz sicher sein, dass Sie verstehen. Die Sterne sind simuliert.«

»In Ordnung.«

»Nun, jetzt hat der Scanner ein Objekt gewählt.« Ein Kreis mit einem X darin geriet von links kommend in Sicht. »Wie Sie sehen, hat das System die Zielerfassung darauf gerichtet.« Die Sterne glitten nicht mehr so schnell von einer Seite zur anderen, offenbar deshalb, weil die Rotation des Sensors langsamer wurde. In der Mitte des Bildschirms hielt der Kreis mit dem X an. »Alles klar, Ziel erfasst. SHIELA folgt dem Objekt. Die Koordinaten werden hier unten in der Ecke angezeigt, nach dem kartesischen Koordinatensystem. SHIELA ›sieht‹ das Objekt und kann ihm folgen.«

»Und das Objekt bewegt sich, nicht wahr?«

»Äh, ja, ich denke schon.« Die Frage schien Perkins zu überraschen.

»Wie schnell ist es?«

»Siebzig Meter pro Sekunde.«

»Aha. Wir haben also ein sich schnell bewegendes Ziel erfasst.«

»Wenn Sie es so ausdrücken wollen.«

»Zerstören Sie es.«

»Wie bitte?«

»Zerstören Sie das Ziel. Richten Sie den Sekundenstrahl darauf. Es ist mir gleich, um was es sich handelt. Privat oder Militär. Ein Passagierflugzeug kann es nicht sein, denn heute Nacht fliegen keine, das weiß ich zufälligerweise. Holen Sie das Objekt vom Himmel. Wir sind bereit, den Kopf dafür hinzuhalten. Wir müssen unbedingt wissen, ob wir in der Lage sind, ein bewegliches Ziel zu erfassen und abzuschießen. Das ist überaus wichtig. Ich bitte Sie also, das Objekt abzuschießen, das dort erfasst ist. Es soll vom Schirm verschwinden. So lauten meine Anweisungen. Und es sind Anweisungen, die direkt vom Weißen Haus kommen.«

»Lieber Himmel.« Perkins war bleich. »Sie glauben, wir hätten irgendeinen armen Kerl erfasst, der eine Runde mit seiner Cessna dreht und der Freundin die Lichter der Stadt zeigt. Und wir sollen ihn abschießen, damit Sie sehen, ob das System funktioniert.«

»Genau das möchte ich von Ihnen und genau das wird geschehen. Niemand bedauert den Tod der armen Menschen in dem Flugzeug mehr als ich, aber ich muss darauf bestehen. Heute Nacht steht zu viel auf dem Spiel. Wir müssen wissen, wozu das System imstande ist. Ich übernehme die volle Verantwortung.« Burlingame wandte sich an Armitage. »Sie verstehen, was getan werden muss.«

Armitage lächelte geheimnisvoll. »O ja. Ich verstehe, was Sie von mir verlangen. Übrigens ist das erfasste Ziel keine Cessna.«

»Nein?«

»Nein. Cessnas sind klein, viel zu klein, um vom System in seinem derzeitigen Zustand erfasst zu werden. Wenn das Programm fertiggestellt ist, sollten wir in der Lage sein, die Zielerfassung selbst auf einen Dartpfeil zu richten, aber derzeit müssen wir uns mit größeren Objekten begnügen.«

Burlingame sah wieder auf den Bildschirm mit dem umkreisten X in der Mitte. Ein Verdacht stieg in ihm auf. »Welches Objekt ist dort als Ziel erfasst worden?«

»Die Erde, Mr. Burlingame.«

»Die Erde

»Ja. Wie ich schon sagte: Unsere derzeitige Sicht ist begrenzt. Das einzige Objekt, das wir sehen können, ist die Erde.«

»Meine Güte.«

»Damit haben wir übrigens einen wichtigen Schritt nach vorn getan.«

»Lieber Himmel.« Burlingame konnte es kaum fassen. »Sie können die Erde sehen.«

»Ja.«

»Nur die Erde.«

»Genau.«

»Das ist wundervoll. Sie ›sehen‹ ein Objekt, das ein Viertel des ganzen verdammten Himmels einnimmt.«

»Sie sagen es.«

»Ich bin überwältigt.«

»So ist das Leben.«

Burlingame spürte, wie er rot anlief. »Sie müssen mehr leisten, Dr. Armitage, viel mehr. Sie müssen in der Lage sein, eine sehr schnell fliegende Rakete zu sehen, die es auf eine amerikanische Stadt abgesehen hat.«

»Das ist uns klar.«

»Wie lange dauert es, bis Sie dazu imstande sind? Noch eine Stunde, zwei oder drei? Vielleicht morgen früh?«

»Sie wollen wissen, wie lange es dauert, bis wir eine fliegende Rakete als Ziel erfassen können?«

»Ja. Wie lange?«

»Eine einzelne Rakete?«

»Ja!«

»Von Land gestartet? U-Boot-Raketen fliegen tiefer und sind schwerer zu entdecken.«

»Ja. Eine einzelne von Land gestartete Rakete. Wie lange dauert es, bis Sie die Zielerfassung darauf richten können?«

Armitage lehnte sich zurück und blickte zur Decke hoch. »Mal überlegen. Wenn sich an unserer derzeitigen Mitarbeiterzahl nichts ändert und wenn wir weiterhin so gut vorankommen wie bisher … Ich schätze, Weihnachten übernächstes Jahr sollten wir in der Lage sein, eine einzelne Rakete als Ziel zu erfassen.«

»Jesus!«

»Aber nageln Sie mich nicht darauf fest. Vielleicht bin ich zu optimistisch.«

»Ich glaube das nicht! Ich meine … Sind Sie verrückt? Sind Sie total übergeschnappt? Halten Sie dies für eine verdammte Teeparty? Lieber Himmel!«

Burlingame stand, das Gesicht puterrot. Er stopfte das Protokoll in seinen Aktenkoffer, marschierte zornig davon und warf die Tür hinter sich zu. Den Wächter würdigte er keines Blickes. Lieber Himmel. Und er war auch noch so freundlich zu diesen Idioten gewesen. Mit diesem Ergebnis. Er hatte sie gelobt, sie angelächelt und versucht, zuvorkommend zu sein. Dies hatte er nun davon. Nichts. Das hatte er davon. Wenn er aus diesem Abend eine Lehre ziehen konnte, so lautete sie: Es war vollkommen sinnlos, freundlich und entgegenkommend zu sein. Jetzt ist Schluss mit lustig, dachte Burlingame, setzte sich in seinen Wagen und fuhr mit quietschenden Reifen los.

*

Zwanzig Minuten nachdem Burlingame den Campus von Johns Hopkins verlassen hatte, startete eine Atomrakete vom Typ SS-24 von einer Insel vor der Küste Ecuadors. Ihr Ziel: St. Louis, Missouri. Der Startzeitpunkt war so gewählt, damit die Rakete ihr Ziel genau um Mitternacht St. Louis-Zeit erreichte. Ein zweihundert Meilen westlich von San Diego stationierter Zerstörer der amerikanischen Marine ortete die Rakete und einige Sekunden später wurde ein Alarm ausgelöst. Da der Zerstörer auf eine solche Sichtung vorbereitet gewesen war, ging man gleich auf Alarmstufe Rot und schickte eine Nachricht ins StratCom-Netzwerk.

Albert döste mit dem Ohr am Empfänger. Die Mitteilung hätte Teil seines Traums sein können, denn in letzter Zeit träumte er oft von solchen Dingen. Er hob den Kopf und starrte auf das Gerät in seiner Hand, das den Alarm wiederholte. Er blickte zu Homer, der wach im Sessel neben ihm saß. Homer hatte alles gehört. Die Worte der Ankündigung schienen keine nennenswerte Wirkung auf ihn zu haben; sie waren mehr wie ein morgens klingelnder Wecker. In diesem Fall lautete die Botschaft des Klingelns: Es ging los.

Albert hielt das kleine Gerät wieder ans Ohr und sein Blick kehrte zu Homer zurück. »Neunzehn Minuten, glauben sie«, sagte er und sah auf die Uhr. »Um ein Uhr unserer Zeit.«

Homer stand mühsam auf. Alte Leute sollten nicht in tiefen Sesseln sitzen, dachte er. Loren, der auf dem Boden neben ihm geschlafen hatte, war schon auf den Beinen. »Ich hole die anderen«, sagte er.

Edward hatte seine Tür einen Spaltbreit offen gelassen. Loren sah ins Zimmer und sagte: »Es ist so weit, Ed.« Es hätte das frühe Wecken für den Beginn eines Campingausflugs sein können. Er hörte Edwards Antwort aus dem dunklen Zimmer und ging weiter, zu Sonia gleich nebenan.

Loren klopfte an und wartete. Er hörte Bewegung im Zimmer, die Tür öffnete sich, und Sonia blinzelte im Licht des Flurs. »Sonia.« Er wollte sie in die Arme nehmen, sie trösten, doch sie behielt die Tür zwischen ihnen.

»Ich bin im Schlafanzug«, sagte sie.

»Komm so schnell du kannst zu Homer.«

»Gib mir ein paar Minuten fürs Anziehen.« Sie schloss die Tür.

Weiter zu Kellys Zimmer. Loren klopfte an und hörte Geräusche, bevor sich die Tür öffnete. Kelly war hellwach. Sie trug ein weißes Nachthemd mit Rüschen an den Ärmeln. Hinter ihr brannte eine kleine Lampe.

»Es ist geschehen«, sagte Loren.

Kelly zog ihn herein. »Sieh nach Curtis«, sagte sie. »Ich ziehe mir schnell was über.«

Loren ging ins Nebenzimmer und spähte in die Dunkelheit. Er hörte das gleichmäßige Atmen des Kinds. Die Gestalt im Bett wirkte friedlich im Schlaf. Er kehrte in Kellys Raum zurück. Sie stand vor der Kommode, mit dem Rücken zu ihm, und zog eine Jeans unter ihrem Nachthemd hoch. Ihr Hintern zeigte sich kurz, als sie die Hose zurechtrückte. Das Nachthemd warf sie achtlos beiseite. Loren sah ihren langen, schmalen Rücken. Sie war größer als seine Schwestern, dachte er, ein bisschen größer. Kelly zog sich ein T-Shirt über den Kopf und drehte sich zu ihm um. »Fertig«, sagte sie und stand barfuß vor ihm. Keine Schuhe, keine Unterwäsche. Sie trafen noch vor Edward in Homers Suite ein.

Homer hatte Maria geweckt. Sie trat aus dem Schlafzimmer und zog den Gürtel eines Morgenmantels zu. Claymore kam von der anderen Seite herein. Sonia und Edward erschienen gleichzeitig. Noch elf Minuten bis zum Einschlag. Homer schloss die Tür, verriegelte sie und drehte sich ernst zu ihnen um.

»Gloria Verde hat eine Rakete auf St. Louis abgefeuert. Albert hat den Alarm vor einigen Minuten mit seinem StratCom-Apparat gehört. Die Rakete wird ihr Ziel um ein Uhr unserer Zeit erreichen. Uns bleiben nur wenige Minuten, um genau zu überlegen. Darauf kommt es jetzt an, dass wir genau überlegen.

Es gibt einige Dinge, die wir Albert, Maria und Claymore erklären müssen, über unsere Vereinbarung in Bezug auf den Effektor, falls wir entscheiden, ihn einzuschalten. Hörst du zu, Clay?«

»Oh, klar.« Claymore hatte als Einziger Platz genommen. Er saß auf der Couch, in einem pfirsichfarbenen Schlafanzug. Auf dem Tisch lag eine Hochglanzbroschüre über das Nachtleben von Fort Lauderdale. Er schlug sie auf. »Klar«, sagte er.

Homer wandte sich an Albert und Maria. »Ihr wisst, was es mit dem Effektor auf sich hat. Ich habe es euch erklärt. Ihr wisst auch, was wir heute Nacht tun könnten, was wir in Erwägung ziehen. Aber was auch immer hier geschieht, ihr seid dafür nicht verantwortlich. Das ist wichtig. Die Verantwortung tragen wir fünf.« Er sah die Mitglieder der Gruppe an. »Ich selbst, Edward, Sonia, Loren und Kelly. Nur wir fünf. Wir stimmen ab, bevor wir etwas unternehmen. Zuvor sind wir übereingekommen, dass die Entscheidung, den Effektor einzuschalten, die Zustimmung von uns allen verlangt. Eine Nein-Stimme läuft auf ein Veto hinaus. Offenbar müssen wir heute Nacht abstimmen. Bald.

Noch hat eine Abstimmung darüber, ob wir den Effektor verwenden sollen, keinen Sinn, denn ich würde mit Nein stimmen. Wir können nicht einschreiten, um St. Louis zu retten. Es gibt noch immer die Möglichkeit, dass damit alles vorbei ist. Wenn Washington entscheidet, den Angriff auf St. Louis ohne Vergeltungsmaßnahmen hinzunehmen, brauchen wir den Effektor nicht einzuschalten. Das wäre eine große Erleichterung für uns alle. Auf diese Weise müssen wir es sehen. Wir warten bis nach der Explosion der Rakete. Wir warten und warten. Wenn Amerika protestiert, ohne einen Gegenangriff zu starten, brauchen wir nicht abzustimmen. In dem Fall muss niemand sagen, wie er oder sie gestimmt hätte. Dann können wir den Rest unseres Lebens mit ruhigem Gewissen verbringen, weil wir die Macht, die in unsere Hände fiel, unangetastet ließen, eine Macht, die die Welt in Dunkelheit stürzen kann. Dann werden wir uns immer fragen, was geschehen wäre, wenn wir ein paar Leben in einer Stadt des Mittelwestens gerettet, dafür aber die ganze Welt grundlegend verändert hätten. Wir könnten bei einem Bier in Cornell darüber reden.«

Ihm gingen die Worte aus. Er hätte überhaupt nichts sagen müssen, das wussten sie alle.

Für einen langen Moment herrschte Stille und dann raschelte es, als Claymore umblätterte.

Homer fiel noch etwas ein. »Wenn wir abstimmen müssen, und ich hoffe, das ist nicht der Fall, aber wenn uns die Umstände zu einer Abstimmung zwingen, so möchte ich fragen …«

Albert hob die Hand. Er hatte das Ohr am Empfänger und sein Blick ging ins Leere. »Sie starten«, sagte er.

»Was?«, fragte Loren fassungslos. »Wer startet? Wir?«

»Der Präsident hat den Befehl gegeben. Amerika schlägt zu.«

»Aber das kann doch nicht sein! Sie müssen warten, bis die Rakete St. Louis trifft. Vielleicht hält der Abwehrschild. Oder die Kubaner überlegen es sich im letzten Moment anders und lassen die Rakete ins Meer stürzen. Oder sie explodiert überhaupt nicht. Es ist zu früh für eine Reaktion.«

Albert zuckte die Schultern.

Homer sah auf die Uhr. »Wir stimmen jetzt ab«, sagte er. »Es bleiben noch neun Minuten. Wenn wir alle mit Ja stimmen, können wir handeln, noch bevor die Rakete St. Louis erreicht. Dann retten wir auch das Leben der dortigen Menschen, was alles leichter macht.«

»Es wird gestartet«, sagte Albert. »StratCom bestätigt, dass sich die erste Rakete auf den Weg macht … und jetzt die zweite, von einem U-Boot aus. Es hat begonnen. Weitere Starts werden gemeldet …«

»Wir stimmen ab.« Homer und seine Gruppe wichen beiseite, weg von Albert und Maria. Eine symbolische Trennung. »Ja bedeutet, dass wir den Effektor einschalten. Nein bedeutet, dass wir nichts unternehmen. Ich stimme …«

»Warte!«, sagte Loren. Er erinnerte sich an die letzte Abstimmung. Alle hatten sofort ihre Stimme abgegeben, mit Ausnahme von Sonia; letztendlich war es also ihre Stimme gewesen, die den Ausschlag gegeben hatte. Loren wollte nicht, dass sich so etwas wiederholte. »Kleine Zettel«, sagte er. »Wir schreiben unsere Stimme auf. Damit niemand der Letzte ist und den ganzen Druck fühlen muss.«

Auf dem Tisch lag ein Block mit gelben Haftzetteln. Loren riss einen für jeden von ihnen ab. Es gab Stifte und jeder nahm einen. Sonia holte einen aus ihrer Handtasche. Loren schrieb »Ja« auf seinen Zettel und sammelte dann die anderen ein. Er klebte sie an seinen Ärmel, in einer Reihe: alles Ja-Stimmen. Sonias Ja war so klein geschrieben, dass man genau hinsehen musste, um es zu erkennen: zwei winzige Buchstaben, kaum einen halben Zentimeter groß.

»Alle haben mit Ja gestimmt«, sagte er.

Homer nickte. »Ich schalte den Effektor selbst ein.«

»Noch sieben Minuten«, sagte Albert.

Edward hatte den verzierten Eichenholzkasten mitgebracht. Er stellte ihn auf den Tisch, öffnete ihn und trat zurück. Stille herrschte. Homer ging allein zu dem Kasten und blickte darauf hinab.

»Es befindet sich ein Schiebeschalter an der Seite«, sagte Loren.

»Ich weiß, ich weiß.«

Alberts Stimme kam wie aus weiter Ferne. »Noch sechs Minuten«, sagte er. »Was nicht heißt, dass ich drängen möchte.«

»Ich weiß«, erwiderte Homer.

Es wäre Loren lieber gewesen, wenn Maria jetzt neben Homer gestanden hätte; er sollte jetzt nicht so allein sein. Doch Maria war tief in den weißen Sessel gesunken und hatte den Kopf zur Seite gedreht.

Kelly trat vor, griff mit beiden Händen nach Homers linker Hand und drückte ihre Wange an seine. Loren glaubte zu sehen, dass sie ihm etwas zuflüsterte, aber er hörte nichts. Homer nickte und streckte die rechte Hand nach dem Schalter aus. Loren reckte den Hals. Hatte er den Effektor eingeschaltet? Homer wirkte wie erstarrt.

»Wie viele Menschen leben in St. Louis?«, fragte Edward. »Drei Millionen? Homer, in den nächsten Minuten rettest du genug Menschen, um die Entscheidung zu rechtfertigen. Innerhalb der nächsten Stunde wirst du Dutzende von Millionen Leben gerettet haben, weitaus mehr, als durch den Effekt verlorengehen.«

»Ich weiß«, sagte Homer. »Also tue ich es.« Er betätigte den Schiebe­schalter und trat zurück. Die anderen beugten sich vor. Der Schalter leitete Strom in den kleinen, einem Maser ähnelnden Generator und löste die mechanische Arretierung, die das freie Schweben der Karte verhinderte. In der Mitte des Apparats glühte es rosarot. Die Karte begann sich zu drehen und suchte nach dem magnetischen Nordpol. Sie drehte sich über den Norden hinaus, kehrte dann quälend langsam zu ihm zurück und verharrte schließlich. Loren blickte aus dem Fenster. Nichts war geschehen.

»Vielleicht ist der Magnet …«, begann er.

Das Licht im Zimmer wurde schwächer. Es ging nicht einfach aus, wie bei einem plötzlichen Stromausfall; es sah eher aus, als würde jemand einen Dimmer drehen. Als es im Zimmer ganz dunkel geworden war, sahen sie aus dem Fenster. Auch in der Stadt breitete sich Dunkelheit aus – nach einigen Sekunden waren überhaupt keine elektrischen Lichter mehr zu sehen. Eine Zeit lang blieb es still, bis Albert das Schweigen brach. »Drei Minuten bis zum Einschlag der Rakete in St. Louis.« Er hielt sich noch immer den StratCom-Apparat ans Ohr. Das Gerät lief mit Batterie, war also nicht vom Effektor betroffen. Der StratCom-Sender befand sich in einem Satelliten, außerhalb des irdischen Magnetfelds.

Sie wandten sich alle dem Fenster zu. Claymore stand auf und kam näher. »Sieh nur«, sagte er und winkte Homer nach vorn. »Ich hab’s dir ja gesagt. Es ist eine andere Farbe.«

Der Nachthimmel hatte einen Hauch von Rosarot. Es sah nach den Nordlichtern aus, nach der Aurora Borealis, aber das schwache Leuchten zeigte sich im Süden.

»Es ist eine andere Farbe«, wiederholte Claymore. »Pink.«

»Ja, stimmt«, sagte Homer.

Loren holte tief Luft. »Es ist ein Uhr. Wird etwas durchgegeben?«

Alle Blicke richteten sich auf Albert. Er drückte sich den Empfänger noch etwas fester ans Ohr und schüttelte den Kopf. Dann starrte er wieder ins Nichts. »Moment … Es heißt, der Schild habe gehalten. Ja, der Schild habe gehalten und St. Louis sei nicht zerstört. Es gibt Beobachter unweit der Stadt und sie melden keine Explosion.« Albert sah die anderen an. »Sie glauben, es liegt am Raketenabwehrschild.«

»Oh«, sagte Homer. »Ihnen dürfte bald klarwerden, was geschehen ist.« Er setzte sich auf die Armlehne von Marias Sessel. Sie sah noch immer zur Seite.

»Es werden die Namen der Personen genannt, die angeblich St. Louis gerettet haben«, sagte Albert. »Armitage und seine Leute … und Curly Burlingame. Curly Burlingame?«

»Ein wahrer amerikanischer Held«, sagte Edward.

»Jetzt werden einige Stromausfälle in den Vereinigten Staaten gemeldet«, fuhr Albert fort. »Keine große Sache, heißt es. Die Rede ist von mutmaßlicher Sabotage, aber nur Einzelfälle.«

Homer lächelte grimmig. »Sabotage, ja. Einzelfälle, nein.«

»Stromausfälle auch in Europa. Sie wissen noch nicht, was sie davon halten sollen.«

Homer winkte geistesabwesend. »Schalt aus, Albert. Worauf es jetzt ankommt, passiert nicht dort draußen, sondern hier drinnen.«

Albert legte den StratCom-Empfänger auf den Couchtisch und sah wieder aus dem Fenster. Es gab überhaupt kein künstliches Licht mehr, nur Sterne und das fahle rosarote Leuchten, wie das schwache Licht etwa eine Stunde vor Sonnenaufgang. Aber es ließ sich in allen Richtungen beobachten und war am südlichen Horizont ein wenig stärker.

»Meine Güte«, sagte Albert. »Was haben wir getan?«

Homer saß in der Dunkelheit. »Was haben wir getan? Was habe ich getan? Wir haben etwa acht Millionen Menschen zum Tod verurteilt – sie werden im Lauf der nächsten Monate sterben. Acht Millionen.« Er sprach leise, schwieg einige Sekunden und fügte dann noch leiser hinzu: »Im Vergleich mit uns war Hitler ein Dilettant.«

Loren hielt den Atem an. Kelly beugte sich zu Homer hinab, streckte die Hände nach seinen Seiten aus und … kitzelte ihn. Homer war unglaublich kitzlig. Er zuckte heftig zusammen. »Dummer alter Kerl«, sagte Kelly. »Du hast gerade St. Louis gerettet und sechzig Millionen Menschen überall auf der Welt. Das geht aus unseren Berechnungen hervor. Du hast die Atmosphäre der Erde vor radioaktiver Verseuchung bewahrt. Vielleicht hast du sogar das ganze Leben auf diesem Planeten gerettet.«

»Es stimmt, Homer«, sagte Loren. »Du bist der größte Held aller Zeiten.«

»Aber all das Sterben, das jetzt beginnt …«, wandte er ein.

»Daran ist jemand anderer schuld.« Edward legte Homer den Arm um die Schulter. »Rupert Paule. Er und General Simpson und all die anderen. Es ist ihre Schuld, Homer.«

Homer nickte, wirkte aber nicht sonderlich überzeugt.

Loren löste die Batterie vom Effektor und sah seine Annahmen bestätigt, als das winzige rosarote Licht in der Kartenmitte blieb – es bezog seine Energie vom irdischen Magnetfeld. Der kleine Apparat auf der Karte war nötig für die Übertragung der Störung, die den Effekt erhielt. Solange er aktiv und ausgerichtet blieb, dauerte der Effekt an. Loren entfernte auch die Arretierung, damit sie nicht unabsichtlich ausgelöst werden konnte, schloss den Kasten und schloss ihn ab.

Edward verteilte Taschenlampen aus einer Box mit Vorräten, die sie Stunden zuvor hochgetragen hatten. Außerdem gab er jedem eine Liste mit detaillierten Anweisungen für die nächsten Schritte.

»Es wartet viel Arbeit auf uns, Leute, und wir haben nur ein paar Stunden Zeit, alles zu erledigen. Packen wir’s an.«