32
St. James

Dreieinhalb Jahre auf der Farm hatten Gordon Buxtehude, General der US-Army (im Ruhestand), gutgetan. Er fühlte sich jünger als während der vergangenen zehn Jahre. Natürlich war er immer in Form gewesen, mehr oder weniger, aber jetzt schaffte er hundert Liegestützen in ungefähr derselben Zeit wie vor vier Jahrzehnten in West Point. In der Scheune hatte er ein Kletterseil aufgehängt, zweiunddreißig Fuß lang, wie es den Vorschriften entsprach – in weniger als elf Sekunden konnte er sich daran emporhangeln. Die Meile lief er in acht Minuten. Nicht schlecht für einen einundsechzig Jahre alten Mann.

Er war sonnengebräunt und gesund, was er dem Umstand verdankte, dass er den größten Teil seiner Zeit draußen verbrachte. Und er lächelte so viel wie seit Jahren nicht mehr. Er lächelte immer, wenn seine Frau zu ihm kam oder sein Sohn oder die Schwiegertochter. Aus dem Lächeln wurde ein glückliches Grinsen, wenn er seine beiden Enkelinnen sah. Lachfalten durchzogen sein Gesicht.

Der Farm ging es gut, wobei sich ein bisschen Glück nicht leugnen ließ. Buxtehude hatte vor Jahren mit der Pferdezucht begonnen und in der vom Effektor veränderten Welt wurden Pferde plötzlich dringend gebraucht. Leuten, die sie züchteten, begegnete man mit großem Respekt. Gelegentlich schickten die Behörden jemanden, der einige Pferde »requirierte«, aber die entsprechenden Leute achteten sehr darauf, ihn bei Laune zu halten. Mehr als die Hälfte seiner Zucht gehörte ihm – er konnte die Tiere behalten oder verkaufen. Da es einen großen Markt für Pferde gab, verdiente er nicht schlecht.

An einem kühlen Novemberabend begleitete Buxtehude zwei Offiziere in Uniform und einen beleibten Mann in Zivil und mit Aktenkoffer nach draußen. Der Mann im Anzug blieb auf dem Hof stehen und sah zu Buxtehude zurück, dessen Gesicht das Licht der Laterne in seiner Hand empfing.

»Sie denken doch darüber nach, nicht wahr, Gordon?«

»Klar, warum nicht? Darüber nachzudenken, was ich tun soll, beansprucht einen großen Teil meiner Zeit. Damit ist mein Gehirn oft beschäftigt. Dadurch kommen die Dinge, die ich tun könnte, oft zu kurz. Abgesehen natürlich von Farm und Familie.«

»Wir brauchen Sie. Und das meine nicht nur ich. Die Worte kommen von ganz oben.«

»Sehr schmeichelhaft.«

»Und befriedigend. Insbesondere für jemanden wie Sie. Wieder in den Sattel zu steigen, gewissermaßen … Das sollte erheblichen Reiz auf Sie ausüben. Bei uns kündigen sich große Dinge an. Ich kann natürlich keine Einzelheiten nennen, aber ich denke, dass gewisse Dinge bald Früchte tragen.«

»Früchte. Meinen Sie damit so etwas wie das Licht am Ende des Tunnels?«

»Genau.«

»Hm.«

»Lassen Sie es sich durch den Kopf gehen.«

Die drei Männer stiegen in eine wartende Kutsche. Der Kutscher berührte das Hinterteil des Pferds mit einer langen Rute und das Gefährt setzte sich knarrend in Bewegung. Buxtehude sah der Kutsche nach, als sie über die Zufahrt zur Straße rollte. Er wartete, bis er hörte, dass das Tor geschlossen worden war und die Besucher ihre Fahrt fortsetzten. Erst dann kehrte er ins Haus zurück und schloss die Tür hinter sich ab. Als er die Treppe zu seinem Arbeitszimmer hochging, bemerkte er ein kleines rotes Licht an dem Metallkasten am Ende des Flurs. Es handelte sich um einen von einem halben Dutzend elektrischen Apparaten, die zusammen mit einigen wenigen Lampen von einer 12-Volt-Windmühle und Batterien betrieben wurde. So etwas wie Ärger stieg in Buxtehude auf, als er das rote Licht sah, doch der Ärger verwandelte sich schnell in Neugier. Er betrat das Arbeitszimmer, drehte sich um und schloss die Tür. Dabei fühlte er, dass sich hinter ihm jemand in dem kleinen, schwach beleuchteten Raum befand. Jahrelange militärische Erfahrung vermittelte ihm diesen Eindruck. Er hielt nicht nach dem Fremden Ausschau, als er zum Sideboard trat und sich zwei Fingerbreit Brandy aus der Flasche einschenkte, die die anderen Besucher mitgebracht hatten. Er nahm einen Schluck und dachte einen Moment über den Geschmack nach. Woher bekam Paule dieses gute Zeug? Man hätte meinen sollen, dass alles in den ersten Monaten nach dem 16. Mai getrunken worden war, und neue Vorräte hatten nicht angelegt werden können. Er stellte sein Glas ab und gab zwei Fingerbreit in ein zweites Glas. Dann drehte er sich mit beiden Gläsern zu dem Mann hinter ihm um.

»Ich habe Sie erwartet«, sagte er. »Zumindest nehme ich an, dass Sie der sind, den ich erwartet habe.«

»Ich denke schon«, erwiderte der Mann mit leichtem Akzent.

Eine Gestalt saß im Lesesessel des Generals. Die Messinglampe an ihrer Seite leuchtete auf den Schoß, wo ein Buch hätte liegen können. Das Gesicht der Gestalt, des Mannes, blieb im Dunkeln. Er trug eine flotte, gut geschnittene hellblaue Uniform, die eine gewisse Ähnlichkeit mit den blauen Sommeruniformen der Air Force hatte. An den Schultern zeigten sich die Streifen eines Captains.

Buxtehude streckte die Hand mit dem zweiten Glas aus. »Un vaso de coñac?«

»Gracias.«

Mit fast perfektem Spanisch fuhr General Buxtehude fort: »Wir haben uns lange nicht gesehen, Dr. Martine. Oder heißt es jetzt Captain Martine?«

»Weder noch«, erwiderte der junge Mann. »Ich bin erstaunt, dass Sie mich erkennen, Sir. Wir sind uns nur einmal begegnet, ganz kurz.«

»Sie standen auf meiner Budgetliste, wissen Sie. Ich wusste schon viel über Sie, noch bevor wir uns trafen. Und gelegentlich hören wir das eine oder andere über unsere Nachbarn im Süden, Nachrichten aus dem ›Königreich des Satans‹, wie man es in Washington nennt. Oft ist die Rede von einem hervorragenden jungen Captain und Wissenschaftler. Ich habe auf Sie getippt.«

»Königreich des Satans? Nennt man uns wirklich so?« Loren lachte. »Wir nennen uns Victoria Island.«

»Dann auf Victoria. Auf die Prinzessin von Victoria.« Der General hielt dem Besucher sein Glas entgegen. Sie stießen an.

»Auf die Prinzessin von Victoria.« Beide tranken. Der junge Martine hielt das Glas ins Licht und betrachtete die Farbe der Flüssigkeit. »Sie stecken voller Überraschungen, General: gutes Spanisch, ausgezeichneter französischer Brandy, gute Erinnerung an Stimmen und Akzente. Vielleicht wissen Sie sogar, warum ich hier bin.«

»Nicht unbedingt. Aber ich habe an die Möglichkeit gedacht, dass Sie mich besuchen würden. Oder jemand anderer von Victoria. Ich weiß nicht genau warum. Vielleicht liegt es daran, dass in Victoria derzeit so viel Geschichte geschrieben wird. Und die Geschichte hat immer einen Weg gefunden, mich zu beteiligen. Sind Sie hier, weil Sie mich beteiligen wollen, Captain Martine? Es wird nicht leicht für Sie sein, denn ich bin mit meinem Ruhestand sehr zufrieden.«

»Ich glaube, mein Angebot wird das zweite dieses Abends sein. Und ich hoffe, ich bekomme eine bessere Antwort von Ihnen als Mr. Tolliver. Aber bitte sagen Sie mir: Was finden Sie so befriedigend daran, in Virginia auf dem Land zu leben und Pferde zu züchten?«

»Zwei kleine Mädchen mit Augen groß wie Untertassen, meine Enkelinnen. Und eine etwas in die Jahre gekommene Frau, meine Ehefrau, die ich fast mein halbes Leben lang geliebt habe, worin ich aber erst hier gut geworden bin. Ein guter Sohn und seine hübsche, witzige Frau. Und auch die Pferde. Die Gemeindebehörde und das Militär nehmen mir die besten Pferde weg; offenbar sehen sie in meiner Farm so etwas wie eine Fabrik für Pferde-Rekruten. Die Idioten begreifen nicht, dass die Zucht nur ein Hobby für mich ist. Es geht mir nicht darum, ihnen die Möglichkeit zu geben, Fracht zu ziehen. Ich will Preise beim County-Markt gewinnen. Wir haben einen wundervollen Markt in Scott County. Und natürlich räumen meine Pferde bei den Preisen ordentlich ab. Ja, um Preise geht es, darüber freue ich mich. Aber an erster Stelle kommen meine Familie und die beiden Enkelinnen.«

»Ich habe selbst ein kleines Mädchen.«

»Dann sollten Sie verstehen, was ich meine. Ich hoffe es für Sie. Bei mir hat es lange gedauert. Ich war lange Zeit von Dingen besessen, die keine Besessenheit lohnen, und dadurch habe ich viel Zeit verloren. Was vor drei Jahren im Mai geschah, hat für mich alles verändert. Das können Sie sich vielleicht denken.«

»Ja.«

»Was ich vorher gemacht habe? Keine Ahnung. Jetzt ergibt es keinen Sinn mehr für mich. Wenn ich daran zurückdenke, was ich fast getan hätte, wofür ich mich einspannen ließ …« Der General schauderte. »Ich glaubte, gegen ein Problem zu kämpfen, aber in Wirklichkeit war ich Teil davon.«

Der junge Mann schwieg und wartete.

Buxtehude wechselte das Thema. »Ich habe die Entwicklung Ihrer kleinen Nation beobachtet, Captain Martine. Natürlich lässt man hier nicht viel über Victoria verlauten. Es ist verboten, auch nur den Namen zu nennen. Aber es kommen einem Dinge zu Ohren. Und was wir nicht erfahren, können wir zumindest erahnen. Manchmal überlege ich mir, was Sie planen und wie Sie dabei vorgehen, als bewegten Sie Figuren auf einem Schachbrett, als versuchten Sie, die möglichen Züge des Gegners zu erkennen.«

»Schach. Wir stellen es uns als Schach vor.«

»Ja. Ich wusste genau, wo Sie waren. Nolan Gallant kam hierher und fragte mich, aber ich habe nichts gesagt. Er vermutete bereits Kuba, doch vom genauen Ort hatte er keine Ahnung. Im Gegensatz zu mir. Sie ließen sich in Baracoa nieder, nicht wahr?«

»Ja.«

»Dachte ich mir. Das lag auf der Hand, als klar wurde, dass Elektrizität per Wasserkraft noch funktioniert. Ich habe die Bibliothek in Kingsport besucht und mir den CIA-Atlas von Kuba angesehen. Wussten Sie, dass die CIA Atlanten herausbrachte?«

Martine schüttelte den Kopf.

»Sie hätten sich damit begnügen sollen. Jedenfalls, der Atlas zeigte nur zwei wichtige Wasserkraftwerke, eins mitten in Kuba und das andere näher an der Küste, ›Märtyrer von Girón‹ genannt. Ich wusste, dass Sie sich für den Osten entscheiden würden, wegen der Passatwinde. Und es bot sich die Nordküste an, weil Sie von dort das Ende des Bahama Channel kontrollieren. Es war eigentlich ganz klar.«

»Für uns kam nichts anderes infrage.« Der junge Mann nickte.

»Ja. Was sich inzwischen, nach der Erfindung der fliegenden Schiffe, geändert haben könnte.«

»Stimmt.«

»Jetzt ist der Ort nicht mehr so wichtig, weil Sie mobil sind. Vielleicht ziehen Sie einen anderen in Erwägung, der besser erschlossen ist, zumal Ihre Bevölkerung zunimmt. Sie nimmt doch zu, oder?«

»Ja. Wir haben viele Einwanderer. Die Leute stehen gern auf der Seite des Gewinners. Zuerst haben wir uns Sorgen wegen möglicher Infiltrationen gemacht, aber inzwischen sehen wir das lockerer. Wir ergreifen Maßnahmen, um unsere Technik zu schützen. Und diejenigen, die als Spione zu uns kommen, bleiben oft und werden Teil unserer Gemeinschaft. Victoria ist verführerisch vital.«

»Ja, kann ich mir denken.«

Captain Martine nahm erneut einen Schluck von seinem Brandy. Jetzt war es der General, der wartete, in der Hoffnung, mehr zu erfahren.

»Baracoa wird natürlich immer ein Dorf bleiben«, fuhr Martine fort. »Der Ort konnte nicht richtig wachsen. Das Problem war die Elektrizität. Wir haben Kabel gelegt, über die Berge bis zum Kraftwerk, aber die Kabel selbst haben uns beschränkt. Sie waren nichts im Vergleich mit den industriellen Leitungen, die nach Süden führen. Zwar sind die Mátires de Girón nicht weit von Baracoa entfernt, aber es war nie vorgesehen, von dort aus die nördliche Küste mit Strom zu versorgen. Alle Leitungen führen nach Süden. Wir dachten daran, sie auszugraben und nach Norden zu verlegen, doch schließlich wurde uns klar, dass ein Umzug einfacher ist.«

»Nach Santiago de Cuba.« Es klang nicht nach einer Annahme, sondern nach einer Feststellung.

»Ja. Wir nennen die Stadt St. James.«

»Ein wundervoller Ort. Eine perfekte Hauptstadt für Ihre neue Nation.«

Das überraschte den jungen Mann. »Sie kennen die Stadt?«

»Oh, ja. Ich habe dort vier Monate verbracht, als ich Ende zwanzig war.«

»Da gibt es bestimmt eine Geschichte zu erzählen.«

»Ja, ich denke schon. Meine Familie behauptete damals, die Kubaner seien unzufrieden und würden sich bei der ersten Gelegenheit erheben. Ich wollte vor Ort einen Eindruck gewinnen und deshalb verbrachte ich den größten Teil eines Sommers als Arbeiter in Santiago de Cuba. Ich sprach mit den Menschen und fragte sie, wie sie sich fühlten, was sie von der neuen Regierung dachten. Ich lernte Spanisch, um mit ihnen reden zu können. Was ich hörte, reichte nicht aus, um die Meinung meiner Familie zu ändern, aber es veränderte mich.«

»Ich beginne zu verstehen, warum Chandler Hopkins Sie für den Job möchte, den wir zu vergeben haben.«

»Der gute alte Chandler. Hatte immer eine Schwäche für Abenteuer­geschichten. Weil sein Leben so ruhig war, nehme ich an. Woraus besteht der ›Job‹, Captain Martine? Kommen Sie zur Sache. Ich stehe beim Morgengrauen auf.«

»Proctor. So nennen wir unseren Verteidigungsminister. Der alte Proctor – ein Mann, den ich respektiert und sehr zu schätzen gelernt habe – ist verstorben. Er hatte etwas von einem Clown, unser Proctor Pinkham. Wir haben ihn immer für eine pingelige kleine Nervensäge gehalten, mehr Last als Hilfe. Aber es spielte keine Rolle, weil wir ihn mochten. Und dann, als er starb, brach plötzlich alles auseinander. Er war ein hervorragender Organisator und das merkten wir erst, als er plötzlich fehlte. Chandler glaubt, dass Sie bestens dafür geeignet sind, unser neuer Proctor zu werden. Sind Sie bereit, zu uns zu kommen und sich um unsere Verteidigung und die strategischen Planungen zu kümmern? Es ist zweifellos eine der fünf oder sechs aufregendsten Aufgaben, die heute zu vergeben sind. Victoria ist eine Macht, mit der alle anderen Nationen der Erde rechnen müssen.«

Der General zögerte nur kurz, bevor er antwortete. »Nein, ich glaube, ich würde meine Familie nicht einmal für diesen Job aufgeben. Obwohl ich in Versuchung gerate.«

»Wir nehmen auch Ihre Familie mit. In der Nähe von St. James wartet ein wundervolles Grundstück auf Sie, direkt am Strand, mit einem Haus für Sie und Eveline und einem weiteren für Ihren Sohn, seine Frau Dolly und die Mädchen, Virginia und Sissy. Ein siebzig Meter großer Pavillon schwebt derzeit über Ihrem Dach.« Martine zeigte mit dem Finger nach oben. »Mit einem Dutzend bequemen Kabinen an Bord. Sie können frei wählen. Es gibt sogar einen elektrischen Aufzug, der uns nach oben holen kann, wenn der Pavillon etwas tiefer geht. Ich glaube, wir könnten Ihre Enkelinnen in ihren Betten hochholen, ohne dass sie erwachen. Stellen Sie sich vor, wie die Mädchen morgen beim Frühstück Delphine beobachten, während wir in einer Höhe von dreißig Metern über den Golf von Mexiko fliegen. »

Buxtehude fehlten die Worte. Er starrte Martine an und ein dummer Gedanke ging ihm dabei durch den Kopf – er wäre gern einmal mit einem der großen Kampfpavillons geflogen. Ihn faszinierte die Vorstellung, in den Wind zu gleiten. Und ein Frühstück über dem Golf von Mexiko hatte durchaus seinen Reiz. Er schüttelte sich. »Ich nehme an, Sie hätten auch Platz für Mr. Compton, der mir auf der Farm hilft, und seine Frau. Ich habe mich inzwischen sehr an ihn gewöhnt.«

»Natürlich. Sie können mitkommen, wenn sie wollen.«

»Oh, da brauchten sie nicht lange zu überlegen. Sie beschweren sich schon seit einer ganzen Weile über die Entwicklung in unserem Land, vom Wetter ganz zu schweigen. Es würde ihnen sehr gefallen, nach Süden umzuziehen. Und ich denke, meine Familie wäre begeistert, allein vom Abenteuer. Nein, ich bin Ihr Problem, Captain Martine. Ich bin Ihr einziges Problem: zu alt für eine Veränderung. Darauf läuft es hinaus. Die Trennung von meinen Pferden fiele mir sehr schwer.«

»Wie viele sind es?«

Die Frage erstaunte den General. »Einige Hundert …«

»Wir bringen sie alle nach Victoria. Ich schicke einen Frachter. Es könnte einen Tag dauern. Wir bauen ein Gehege an Deck. Die Pferde müssen nur einen Hügel hinauf getrieben werden – der hinter Ihrer süd­lichen Weide wäre gut geeignet –, und dann auf den Pavillon. Wir können es morgen Abend angehen. Chet Compton und seine Frau Suzanne bringen wir zusammen mit den Pferden auf einer Ranch im Osten von St. James unter. Das Resultat können Sie sich, sagen wir, Freitagmorgen ansehen. Wenn Sie nicht vollkommen damit zufrieden sind, machen wir alles rückgängig und bringen Sie nächste Woche wieder hierher. Schlimmstenfalls läuft es auf einen kleinen Urlaub in der Sonne hinaus. Früher sind die Menschen um diese Jahreszeit in den Urlaub gefahren.«

Der General lehnte sich zurück und schüttelte den Kopf. Er erinnerte sich an eine bescheidene kleine Kampagne vor Jahren, mit der er einen jungen Major von einem rivalisierenden Kommando fortgelockt hatte. Von Lieutenant Colonel Gordon Buxtehude war damals gute Arbeit geleistet worden. Der Major hatte überhaupt nicht mehr darüber nachgedacht, ob er den Wechsel wirklich wollte; nicht einen Moment war ihm bewusst gewesen, dass er auf sehr geschickte Weise manipuliert wurde. Andere Leute dazu zu bringen, dass sie sich so verhielten, wie er wollte … Das war immer Buxtehudes Stärke gewesen. Jetzt argwöhnte er, dass es vielleicht nicht viel gab, das er Captain Martine über die Kunst der subtilen Manipulation lehren konnte.

*

Die Stadt St. James lag zwischen den Vorbergen der Sierra Maestra, entlang einer Bucht, die weit ins Landesinnere reichte, in nördlicher Richtung. Sie bot einen weiten Blick über das Wasser und nach Osten, zu einer erhabenen Bergkette, die sich bis zur Karibischen See erstreckte. Im Nordosten, im höheren Gelände, war die Aussicht noch besser. Dort hatten die feinen Leute in den 40er- und 50er-Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts ihre Villen gebaut und dort ließen sich die ersten Umsiedler von Baracoa nieder. An der höchsten Stelle erhob sich ein aus Sandstein errichtetes Kastell, das Parador Monterreal, ein Relikt aus der Zeit der Spanier, mit Zinnen und einem Wehrturm. Das Innere von Monterreal war prachtvoll, genau das Richtige für eine Prinzessin und ihren Hof. Die Wohnungen in den oberen Stockwerken boten viel Platz und durch die großen Fenster hatte man einen prächtigen Blick in alle Richtungen. Der hier oben wehende Wind war warm, sanft und ohne Mücken, was für Kelly und ihr Gefolge bedeutete, dass sie die Fenster gar nicht schließen mussten.

Die Gemeinschaft hatte sich von Monterreal bis hin zum Zentrum von St. James ausgebreitet und umfasste inzwischen mehr als sechs­tausend Personen. Jeden Tag trafen weitere Menschen ein. Ein Teil der Innenstadt war von Abbruch-Pavillons planiert worden – den Schutt hatten Fracht- und Transport-Pavillons fortgebracht und dem Meer übergeben. Die neu errichteten Gebäude bestanden zum größten Teil aus weiß getünchtem Sandstein: großzügig angelegte Häuser mit viel offenem Platz zwischen ihnen. Eine Architektur, für die Barodin und Pease verantwortlich zeichneten.

Für Edward wurde ein Traum wahr: Endlich bekam er Gelegenheit, etwas Greifbares zu konstruieren, anstatt immer nur mit Gleichungen und Theorien zu tun zu haben. Er hatte sich immer gewünscht, Architekt zu werden. Im Archiv von Santiago fand er eine Kopie von Jourdans großem Plan für Paris und er machte sich daran, einen eigenen großen Plan zu entwickeln. Zusammen mit Pease baute er ein Modell der Stadt, wie sie einmal aussehen sollte. Es wurde in Monterreal aufgestellt, neben einem Fenster, das Blick auf die tatsächliche Stadt gewährte. So konnten Beobachter die Verwirklichung des Plans beobachten.

Es gab auch Fortschritte bei vielen anderen Aspekten der Stadt: Restaurants, Kinos, kleine Läden, Kooperativen, eine plötzlich florierende Wirtschaft. Ein Gerichtssystem schlichtete Streit, die Verwendung des Landes wurde genau geplant, man hatte eine Gesellschaft zur Förderung der Landwirtschaft und des Gemeindeaufbaus gegründet und eine Fabrik baute Flieger für einzelne Personen und Familien. Hinzu kam eine Universität. Chandler Hopkins war schrecklich hin und her gerissen gewesen zwischen dem Wunsch, die Universität oder alles andere zu leiten. Widerstrebend überließ er die Universität Walter Porter. Maria setzte ihre Arbeit als Dekanin der Schulen fort.

Seit dem Umzug nach St. James vor sechsundzwanzig Monaten hatten die Bürger von Victoria Erstaunliches geleistet. Doch für die beiden Mädchen, die zum ersten Mal im Kampfpavillon Ardent über die Stadt flogen, spielte all das keine Rolle. Sie hatten allein Augen für die Lichter. Sie erinnerten sich nur an ein Leben mit wenigem und schwachem elektrischem Licht, das meistens von einfachen 12-Volt-Birnen stammte, die ihren Strom von einem Windrad der Farm oder dem Generator empfingen, den Buxtehude im Bach installiert hatte. Die Stadt St. James hingegen erstrahlte regelrecht und breitete einen fantastischen Lichterteppich unter ihnen aus.

Mitten im Boden des Salons der Ardent gab es eine große Plexiglasblase – dieses Bodenfenster durchmaß fünf Meter und war von einem Geländer umgeben. General Buxtehude stand dort mit Virginia und Sissy und blickte auf die Stadt hinab. »Was haltet ihr davon, Soldaten?«

»Wow!«, sagte Virginia. »Einfach toll.«

Sissy brachte keinen Ton hervor und gaffte mit offenem Mund. Eveline Buxtehude hakte sich bei ihrem Mann ein. Ihre Augen glänzten. »Wir betrachten hier etwas, von dem ich geglaubt habe, wir würden es nie wiedersehen: Zivilisation.«

Captain Martine wies Dolly Buxtehude auf die Sehenswürdigkeiten hing, als die Ardent tiefer ging und zum Kastell zurückkehrte. Er gab keine Anweisungen, die den Kurs oder etwas anderes betrafen, mischte sich nicht in die Arbeit der untergebenen Offiziere ein. Buxtehude glaubte, eine Routine zu erkennen, die schon Jahre alt war. Der große Pavillon flog in einem weiten Bogen und landete schließlich neben der oberen Mauer des Kastells, in der Nähe eines offenen Eingangs. Kurze Zeit später wurde die Familie Buxtehude zu einem großen Torbogen geführt, wo ein Mann auf sie wartete, gekleidet in eine lange graue Hose und einen blauen Blazer. Für General Buxtehude sah er wie eine jüngere, dünnere und etwas weniger aufgeblasene Version von Chandler Hopkins aus.

»Hallo, Gordon. Willkommen in Victoria.« Chandler streckte die Hand aus.

»Na so was, Chandler, Sie sind es tatsächlich. Es ist mir ein Vergnügen.« General Buxtehude schüttelte dem Senator herzhaft die Hand. Es überraschte ihn, wie sehr er sich freute, seinen alten Kollegen wiederzusehen. »Sie scheinen recht fit zu sein.«

»Sie ebenfalls. Und hier haben wir die entzückende Eveline.« Chandler nahm ihre Hand und lächelte freundlich, als er dem jungen Colonel Buxtehude, Dolly und den beiden Mädchen vorgestellt wurde. »Nun …« Er deutete in den Saal mit der hohen Decke und den großen Wandteppichen. »Wie gefällt euch unser kleines Schloss? Es mag nicht besonders groß sein, aber es ist unser Zuhause. Nur dreihundert Zimmer, viele von ihnen so groß wie dieser Raum. Na ja, es sind eben schwere Zeiten. Man muss sich mit dem zufriedengeben, was man hat. Ich nenne es notgedrungene Bescheidenheit.«

»Die Bescheidenheit eines Sonnenkönigs, würde ich sagen«, erwiderte General Buxtehude.

»Tja, wer hätte gedacht, dass wir uns einmal wiedersehen, Gordon, und dann noch hier, unter solchen Umständen? Wer hätte gedacht, dass sich die Dinge so sehr ändern?«

»Ja, stimmt.«

»Nun, was wäre ein Schloss ohne Prinzessin? Lasst mich euch zu einer schönen Prinzessin führen. Zu meinem Chef. Sie wartet im Hauptsaal.« Chandler nahm Sissy und Virginia an den Händen. »Habt ihr jemals eine richtige Prinzessin gesehen? Gleich zeige ich euch eine. Ich hoffe, ihr könnt richtig knicksen. Vielleicht sollten wir eine kleine Probe machen, um zu sehen, ob alles klappt. Das ist wunderbar, Virginia, sehr gut. Und du, Sissy, hast es fast richtig gemacht. Fast. Stell den rechten Fuß ein bisschen nach hinten, so … und mach es wie ich, siehst du? Halt den Rock fest. Ja, perfekt!«

Sie kamen durch einen Speisesaal mit einem fünfzehn Meter langen Tisch, der gerade gedeckt wurde. Zwei Küchenarbeiter trugen ein gebratenes Spanferkel auf einem Tablett herein. Bei dem Duft lief dem General das Wasser im Mund zusammen.

»Lechón asado«, sagte Loren. »Zu Ihren Ehren.«

Lechón asado war ein besonderes Lieblingsgericht des Generals. Er fragte sich, woher diese Leute davon wussten. Auf einem Sideboard stand ein riesiger Schokoladenkuchen, groß genug für eine ganze Infanterie-Kompanie. Buxtehude hatte auch eine Schwäche für Schokolade.

Bisher wusste er fast gar nichts über die Prinzessin. Nach seinen Informationen war nicht klar, ob sie zur Cornell-Gruppe gehört hatte oder zu der anderen, die von Fort Lauderdale stammte. In seinem Arbeitszimmer auf der Farm hatte er einen gelben Block mit den Namen von fast hundertfünfzig Personen, die sich bekanntermaßen auf den Weg gemacht hatten, in der Nacht, als der Effektor eingeschaltet worden war. Buxtehude hatte kaum mehr über sie gewusst als nur ihre Namen. Vier Frauen der Gruppe waren unverheiratet gewesen und der General hatte ihre Namen mit einem Fragezeichen versehen, was bedeutete: Jede dieser vier Frauen konnte die Prinzessin sein.

Die Gerüchte in Hinsicht auf die Frau an der Spitze von Victoria grenzten ans Fantastische. Im vergangenen Jahr hatte einer von Buxtehudes Nachbarn einen jungen Mann, der angeblich in Victoria zu Besuch gewesen war, zur Farm gebracht und der General hatte ihn im Lauf eines Abends ausgefragt. Die Prinzessin, so der Mann, habe die fliegenden Schiffe erfunden. Angeblich hatte sie an einer der Seeschlachten teilgenommen, war dabei mit einer Machete in der Hand auf das Deck eines feindlichen Boots gesprungen und hatte gegen die Männer gekämpft, die Nervengas freisetzen wollten. Der junge Mann meinte auch, sie sei wunderschön, aber seine Geschichten stammten aus zweiter Hand; er hatte die Prinzessin nicht selbst gesehen.

Captain Martine führte sie in den drei Stockwerke hohen Großen Saal, blieb an einer Tür stehen, hob ein kleines Kind hoch, das einen blauen Overall trug, und bedeckte es mit Küssen. Der General trat an ihm vorbei in das Zimmer, wo ihn weißer Stuck erwartete, an den Wänden und auch an der Decke mit den dunklen Balken. Ein Innenbalkon zog sich in Höhe des zweiten Stocks an den Wänden entlang. Ein Kamin beanspruchte das eine Ende des Raums, fast so groß wie jener, in den Errol Flynn beim Degenkampf in Unter Piratenflagge zurückgewichen war. Dem Kamin gegenüber erhob sich ein Podium und darauf stand etwas, das nur ein Thron sein konnte. Auf diesem Thron saß eine sehr hübsche junge Frau mit braunen Augen und kurzem, rötlichem Haar. Sie hielt ein Baby auf ihrem Schoß. Nicht weit von ihr entfernt kniete eine zweite junge Frau, groß und blond, auf einer Sitzbank am Fenster und sprach mit einem ernsten Jungen, der etwa zwölf sein mochte. Für einen Moment musterte der General die Frau auf dem Thron, ging dann zu der anderen Frau auf der Sitzbank und verbeugte sich.

»Euer Majestät«, sagte er.

»Willkommen, General.« Sie reichte ihm beide Hände. »Wir fühlen uns sehr geehrt, dass Sie gekommen sind. Es ist mir eine große Ehre. Nennen Sie mich Kelly.« Sie hatte helle graue Augen, voller Neugier. Buxtehude blickte auf ihre Hände in den seinen hinab. Die Finger waren lang und dünn. Sie trugen keinen Schmuck, bis auf den Ringfinger der linken Hand, wo sich eine Art Ehering zeigte: ein Stück Angelschnur mit einem Knoten.

»Sie sind also Kelly Corsayer. Und dies muss Curtis sein.« Er schüttelte dem Jungen die Hand, der errötete und den Blick senkte.

»Das ist General Buxtehude, Curtis.« Kelly schlang dem Jungen den Arm um die Taille. »Er kommt als neuer Proctor zu uns. Du wirst ihn mögen, denke ich, vielleicht genauso sehr wie Proctor Pinkham. Und das gilt für uns alle.«

Sie führte den General zum Thron. »Meine Freundin Melissa Klipstein und ihr kleiner Stuart. Dies ist General Buxtehude.«

»Mrs. Klipstein.« Er verbeugte sich vor ihr.

»General.«

»Ich bin Soldat im Ruhestand, aber aus reiner Angewohnheit habe ich weiterhin Informationen gesammelt. Man muss auf dem Laufenden bleiben. Es geht das Gerücht um, dass ein Captain Ihrer Flotte ein Mann namens Klipstein ist.«

»Mein Schatz«, sagte Melissa. »Elgar. Sie werden ihm beim Essen begegnen.«

»Melissas Kind ist fast genauso alt wie meins, General. Deshalb kommen wir von Zeit zu Zeit zusammen, um Erfahrungen auszutauschen. So könnte man das nennen. Aber in Wirklichkeit läuft es darauf hinaus, dass wir den ganzen Nachmittag damit verbracht haben, miteinander zu spielen.« Sie lachte und es klang wie eine Melodie.

Captain Martine näherte sich mit dem kleinen Mädchen. »Dies, General, ist meine zweite Prinzessin und das zweithübscheste Mädchen auf der Welt. Sag dem General hallo, Shimmy.« Das Kind sah zu dem großen Mann auf, mit ruhigem, intelligentem Blick, der Mund leicht geöffnet.

»Unsere Tochter«, sagte Kelly. »Die Kronprinzessin Shimna.« Mit einem liebevollen Lächeln blickte sie auf das kleine Mädchen hinab. »Mein Liebling, du hast Pudding an der Nase.«

Beim Militär waren die beruflichen Entscheidungen besonders schwer. Man musste alles sorgfältig analysieren und genau abwägen, dabei die Diktate von Macht, Einfluss und Position berücksichtigen. Bis zu diesem Moment hatte der General noch nicht entschieden, ob er in Victoria bleiben und der neue Proctor werden sollte. Aber als er jetzt einem kleinen Mädchen mit Pudding an der Nase gegenüberstand, beschloss er, Victoria zu seiner neuen Heimat zu machen.

*

Die Familie Buxtehude und ihre Freunde, die Comptons, waren Teil einer großen Einwanderungswelle. Manchmal trafen an einem Tag mehrere Hundert Immigranten in St. James ein und wurden von den Mitarbeitern des Rektors registriert. Die meisten stammten von benachbarten Inseln und reisten an Bord von Frachtpavillons. Einige kamen vom Kontinent, trotz des Handelsembargos mit dem Norden. Mit Booten reisten sie übers Meer, angelockt von Gerüchten, die von Freiheit und Wohlstand in Victoria erzählten.

Unter den Einwanderern aus dem Norden befanden sich auch Spione. Den meisten von ihnen hatte Rupert Paule befohlen, das Geheimnis der Luftschiffe zu stehlen und sich Zugang zu der Laserwaffe zu verschaffen. Ein Spion allerdings stand in den Diensten eines anderen Auftraggebers. Eine Gruppe namens Führungsgremium schickte ihn. Sie bestand aus sechs Männern und einer Frau und führte keine politische Organisation und auch keine Armee (obwohl es Elemente von beidem gab), sondern eine Art Kirche, von der das Establishment in Washington nichts wusste. Wenn Rupert Paule von der Existenz dieser Gruppe geahnt hätte, wäre er bereit gewesen, sie für einen weiteren Feind zu halten.

Der Spion hieß Nehemiah. Sein Geburtsname lautete Stanley Darling, doch abgesehen von ihm gab es auf der ganzen Welt keine Person, die sich daran erinnerte. Der Name Nehemiah eignete sich viel besser für einen Mann, der für Gott unterwegs war.

Als die Buxtehudes nach Victoria flogen, machte sich Nehemiah auf den Weg zur Westküste von Florida und zur Stadt Naples. Dort wandte er sich an einen Fischer, mit der Bitte, ihn nach Key West zu bringen. Er bezahlte mit Silberdollars. Der Fischer hieß Nicolo und kurz vor Sonnenaufgang brachen sie mit einem kleinen Fischerboot auf.

Nach einer Stunde war Nehemiah seekrank. Es geschah zum ersten Mal, dass er sich dem Meer anvertraute. Bis Cape Sable folgten sie dem Verlauf der Küste und von dort aus ging es bei unruhiger See weiter zur Leeseite der Pine Islands. Das Boot schaukelte so sehr, dass sich Nehemiah den Tod wünschte. Er konnte nicht einmal den Kopf oben behalten. Am Morgen des zweiten Tages erreichten sie ruhigeres Gewässer. Nicolo gab ihm trockenes Brot und Teile eines Kopfsalats. Nehemiah schlief ein wenig, als sie die Reise fortsetzten, und erholte sich langsam. Dass es ihm allmählich besser ging, zeigte sich auch daran, dass er an Gesprächen teilnehmen konnte, obwohl keiner der beiden Männer viel zu sagen hatte. Nach einer Weile fragte er, ob er das kleine Boot steuern dürfe. Aber natürlich, erwiderte der alte Fischer, froh darüber, die Ruderpinne nicht immer selbst halten zu müssen. Er zeigte seinem Passagier, worauf es ankam, und am Nachmittag des zweiten Tages hatte Nehemiah gelernt, ohne Hilfe zu lavieren.

»Mein eigentliches Ziel ist Kuba«, sagte er. »Nur etwa hundertvierzig Kilometer weiter im Süden.«

Nicolo nickte. »In letzter Zeit erzählt man sich viele Geschichten über Kuba. Weiß nicht, ob was an ihnen dran ist. Ich kenne Leute, die sich dorthin auf den Weg gemacht haben, und nie ist einer zurückgekehrt. Also muss es dort gut sein oder sehr gefährlich.«

»Vielleicht sind dort die Straßen mit Gold gepflastert.«

»Vielleicht. Ich schätze, ich werde es nie erfahren.«

»Wenn Sie mich nach Kuba bringen, drücke ich Ihnen noch mehr Silberdollars in die Hand. Und Sie würden erfahren, wie es in Kuba aussieht. Es wäre ein Abenteuer.«

»Oh, sicher. Aber nicht für mich. Meine alte Dame würde sich Sorgen machen. Früher einmal gab es Telefone in Key West und ich hätte sie einfach angerufen und beruhigt. Aber das ist heute nicht mehr möglich und deshalb muss ich zurück.«

»Ich verstehe.« Nehemiah schien nicht enttäuscht zu sein. Nach einem Moment fragte er. »Sind Sie ein Mann Gottes?«

»Ich nicht. Ich bin Grieche.« Er neigte den Kopf nach hinten und lachte über seinen Witz.

Nehemiah stimmte in das Lachen mit ein, obwohl er nicht wusste, was so komisch sein sollte. Dann ließ er das Ruder los, stand auf und streckte sich. Nicolo übernahm wortlos die Steuerung des Boots. Nehemiah trat hinter ihn, als wollte er nach achtern und dort ins Meer pinkeln. Stattdessen drehte er sich um und sah auf den Nacken des Fischers. Jemand mit Übung in solchen Dingen hätte vermutlich eine Methode dafür gehabt, die kaum Kraft kostete. Doch Nehemiah fehlte Erfahrung. Er ballte die Faust und schmetterte sie dem Fischer mit ganzer Kraft an die Seite des Halses. Es knackte laut.

Nicolo ging zu Boden und zuckte. Nehemiah beobachtete ihn fasziniert. Insbesondere das rechte Bein schien ein sonderbares Eigenleben zu haben, vielleicht der letzte Rest Leben, der noch in dem Fischer steckte. Es trat immer wieder, wollte gar nicht damit aufhören. Ein seltsames Geräusch kam aus Nicolos Mund, ein Röcheln tief aus dem Hals.

Nehemiah beobachtete den Mann eine Minute lang und schließlich hatte er genug und warf den immer noch zuckenden Körper über Bord. Das Boot hatte unterdessen in den Wind gedreht. Er erinnerte sich daran, was ihm der Fischer gezeigt hatte, wie man mit dem Segel umgehen musste. Als er an den Leinen zog, blähte sich das Segel wieder auf und das Boot glitt durchs Wasser, mit Kurs auf Kuba. Hinter ihm kam ein letztes Platschen vom Sterbenden.

Es bedeutete Sünde, ein Leben auszulöschen. Es war keine große Sünde, denn der Mann hatte sich selbst ungläubig genannt, aber eben doch eine Sünde. Nehemiah schob einen Haufen Netze beiseite und kniete nieder, um seine Seele zu läutern. Er betete mit der Ruderpinne über der Schulter, behielt dabei den Kompass im Auge. Fast sofort stellte sich ein Gefühl der Vergebung ein und erfrischt richtete er sich auf.

Einen weiteren Tag und eine Nacht segelte er nach Süden. Als er sein Ziel erreichte, hatte ihn die Seekrankheit sehr geschwächt. Er zog das Boot auf den Strand und setzte den Weg zu Fuß fort.