7
Der Rubin-Maser

Wieder unterwegs nach Clark Hall wählte Loren den Weg unterhalb des Fachbereichs für Künste, um an diesem Nachmittag den Blick auf den See und die Berge jenseits davon zu genießen. Über dem Bibliothekshang, auf der Kuppe eines kleinen Hügels, setzte er sich für einen Moment. Vor dreihundert Jahren war dies ein heiliger Ort für die Seneca-Indianer gewesen; ein Schild aus Messing erinnerte daran. Vielleicht waren die jungen Leute des Stamms hierhergekommen, um zu überlegen, worauf es im Leben ankam. Wenn sein Seneca-Pendant von damals jetzt hier wäre, was würden sie sich sagen? Welche Gemeinsamkeiten fänden sie in ihren beiden so unterschiedlichen Leben? Loren hätte erklärt, dass die Hauptsorgen seines Lebens eine Simulation der Wechselwirkungen großer Mächte, die Suche nach der Erklärung für eine seltsame Bewegung von Elementarteilchen und eine Frau betrafen, die ihn liebte, sich aber davor fürchtete, was die Liebe bedeutete. Wie hätte er dies dem Seneca nahebringen sollen? Wie hätte er es ausdrücken müssen, damit der Krieger verstand? Allgemeine Begriffe boten sich an. Er hätte sagen können, dass seine Interessen Strategien im Krieg, der Suche nach Wissen und dem Konflikt von Liebe und … was galten?

An einem solchen Tag vor einem Jahr war er voller Enthusiasmus nach Ithaca gekommen. Heute fühlte er sich älter, sogar alt. Er dachte an seine drei Sorgen, unverständlich für den Seneca-Krieger und vielleicht auch für sich selbst. Warum spielten sie eine Rolle? Eine Laune des Schicksals hätte ihm drei ganz andere Leidenschaften geben können. Und wie wichtig konnten sie sein, wenn sie austauschbar waren? Würde das Universum davon Notiz nehmen, wenn es ihm gelang, eins dieser Probleme, oder vielleicht alle drei, zu lösen? Interessierte es sich dafür, ob Sonia und er glücklich zusammenlebten oder einfach auseinandergingen? Kümmerte es das Universum, ob er eins seiner Geheimnisse entdeckte oder nicht? Ob sie einen kleinen Planeten davor bewahrten, sich selbst zu zerstören?

In einer abstrakten Weise spielte nichts davon eine Rolle; wichtig wurden die drei Angelegenheiten vor allem durch den persönlichen Bezug. Dieser spezielle Loren Martin – im Gegensatz zu anderen, die er hätte sein können –, dieser Loren Martin definierte sich in Bezug auf die drei genannten Leidenschaften. Jede von ihnen stellte eine Herausforderung dar, der er sich bereitwillig gestellt hatte. Jede von ihnen war ein Grund für das schwindelerregende Glücksgefühl, das sich im Lauf des vergangenen Jahres dann und wann eingestellt hatte. Derzeit mochte er müde sein, was aber nicht bedeutete, dass ihm einer der drei Punkte weniger bedeutete. Der Unterschied war: Zum ersten Mal sah er die Möglichkeit eines Scheiterns.

*

Homer war wie üblich spät dran. Loren ging durch die leeren Zimmer und suchte nach Lebenszeichen. Schließlich nahm er mit dem Protokoll im großen Sessel vor Homers Schreibtisch Platz. Vielleicht machte Homer irgendwo ein Nickerchen, möglicherweise bei Dekanin Sawyer. Er bekam ebenso wenig Schlaf wie Loren und Sonia, und aus denselben Gründen.

In Homers Zimmer herrschte ein interessantes, provokantes Durcheinander oder einfach nur schreckliche Unordnung – es hing vom Blickwinkel des Betrachters ab. Loren sah sich in dem Chaos um, das nicht nur aus Chaos bestand, sondern auch aus Schmutz. Homers Augen versagten, wenn es um das Erkennen von Schmutz ging, und das Putzpersonal hatte verkündet, dass es einen Bogen um diesen Ort machte, solange nicht einige Tonnen Müll fortgeschafft waren. Zwei krumme Wege durch das verwirrende Sammelsurium aus Dingen und Dreck boten praktisch die einzige Möglichkeit, den Boden zu erkennen. Überall sonst standen Kartons mit Papieren, elektronischen Geräten und Versuchsaufbauten aus den Physikräumen, in denen Homer unterrichtet hatte. Während der Rennsaison auf dem See fuhren Homer und Claymore ein altes Star-Boot und viele Dinge jenes Boots überwinterten in Homers Zimmer, darunter Leinen, Rettungswesten und eine demontierte Winde. Auf dem Schreibtisch stapelten sich Papiere. Wenn man den Raum mit einem Kaffeebecher betrat, fand man keine Stelle, wo man den Becher absetzen konnte.

Das Arbeitszimmer enthielt viele Schätze, aber angetan hatte es Loren vor allem ein großer Apparat, der fast zweieinhalb Meter lang war und ganz oben auf dem Bücherbord hinter dem Schreibtisch lag. In den fünfziger Jahren hatte dieser Gegenstand an Experimenten teilgenommen, bei denen es um die Erzeugung von kohärenten Lichtstrahlen gegangen war. Dort oben, von Homer halb oder ganz vergessen, ruhte ein Vorfahr des modernen Lasers. Allerdings lag diesem Apparat ein etwas anderes Funk­tions­prinzip zugrunde, weshalb man von »Maser« sprach. Maser hatten sich in der Wissenschaft zunächst großer Beliebtheit erfreut, dann aber den leistungsfähigeren Lasern weichen müssen. Dieses besondere Exemplar war ein Rubin-Maser und verdankte seinen Namen dem Umstand, dass sein Licht durch einen kleinen Rubinkristall geleitet wurde. Der Apparat funktionierte noch immer; man brauchte ihn nur einzuschalten.

Loren legte das Protokoll auf einen Listingstapel beim Schreibtisch und ging zum Maser. Er strich mit der Hand über das Gerät und die aus Hartholz bestehende Auflage, drehte den runden Knopf auf die Ein-Markierung. Der Maser summte für einen Moment und projizierte dann einen dünnen roten Strahl vom Emitter am einen Ende bis zum fast zwei Meter entfernten Empfänger am anderen. Loren wusste, dass die Seiten des Strahls exakt parallel zueinander verliefen, bis auf einige Ångström genau. Und wie immer war er von dem dünnen, klar abgegrenzten Strahl fasziniert.

»Aha!«, erklang eine Stimme. Homer.

»Ebenfalls aha.«

»Ich meine nicht Aha im Allgemeinen, sondern Aha im Besonderen. Ein Aha über kohärentes Licht. Über Kohärenz. Heute, mein junger Freund, setzen wir uns hier und sind sehr kohärent. Bist du bereit dafür, kohärent zu sein?«

»Hiermit erkläre ich meine Bereitschaft für Kohärenz.«

Homer fügte dem Chaos auf dem Schreibtisch einen Arm voller Bücher hinzu und bedeutete Loren mit einem Wink, in dem Sessel Platz zu nehmen. Dann setzte er sich selbst. Da er recht klein war, verschwand er hinter den vor ihm aufragenden Papierbergen.

»Ups.« Er erschien wieder. »Nun, mal sehen. Um der Kohärenz willen müssen wir einen Konstruktionsfehler dieses Stuhls korrigieren. Was hat man sich nur dabei gedacht, ihn so niedrig zu machen?« Er nahm einige der Bücher vom Schreibtisch, außerdem auch noch zwei oder drei vom Boden, und legte sie auf den Stuhl. Dann setzte er sich erneut. »Ausgezeichnet, ausgezeichnet, noch besser als ausgezeichnet. Also, wo waren wir?«

»Bisher noch nirgends.«

»Stimmt. Bisher noch nirgends. Stellen wir uns also vor, dass wir wo sind, an einem Ort, wo die Planck-Konstante einen Wert von eins hat.«

Loren musterte Homer im rötlichen Licht. Sein Gesicht verriet nichts.

»Also, die Planck-Konstante ist eins. Eins Komma null null. Was für ein Ort ergibt sich daraus?«

»Einer, an dem Quanteneffekte mit dem bloßen Auge sichtbar sind«, sagte Loren und hatte das Gefühl, es schon einmal gesagt zu haben.

»Genau.«

»Billardkugeln rollen nicht, sondern nehmen einzelne Positionen ein. Allerdings lassen sich diese Positionen nicht genau bestimmen, weshalb die Kugeln unscharf und verwischt erscheinen.«

»Ja. Sag mir, Loren, was hat uns an einen solchen Ort gebracht?«

»Das ist eine dumme Frage, Homer. Wir sind da, weil er unserer Vorstellung entspringt, weil er Teil unserer Hypothese ist.«

»Stimmt. Wir müssen dumme Fragen stellen, Loren. Wenn wir nur intelligente Fragen stellen und wenn wir nur intelligente Antworten für sie präsentieren … Dann beschreiten wir nur die intelligenten Wege, die all die anderen intelligenten Leute vor uns beschritten haben. Die dumme Frage lautet: Wie kommt es, dass wir an einem Ort sind, wo die Planck-Konstante einen Wert von eins hat?«

»Ich schätze, es ist ein alternatives Universum, wie das von Mr. Tompkins.«

»Angenommen, das ist nicht der Fall. Angenommen, der Ort befindet sich im gewöhnlichen Universum, in diesem. Angenommen, er ist hier, in Ithaca. Angenommen, Billardkugeln rollen plötzlich nicht mehr, sondern hüpfen von einer Position zur nächsten, ohne den Raum dazwischen zu passieren. Und sie bleiben verschwommen, weil man ihre genauen Positionen nicht bestimmen kann. Nun, wer würde in diesem Moment in Ithaca Billard spielen, wenn nicht Dr. Loren Martine von Salamanca, ein bekannter Physiker, der gern über die Rätsel der Welt nachdenkt. Er stößt die Kugel an und sie hüpft von einer Stelle zur nächsten und er denkt Aha. Aber Aha was?«

»Aha, die Planck-Konstante hat sich verändert.«

»Aha, richtig. Aber was bedeutet es, dass sie sich verändert hat? Sollte eine Konstante nicht konstant sein?«

»Worauf willst du hinaus, Homer? Natürlich ist die Planck-Konstante konstant.«

»Wenn sie wirklich konstant ist, wieso springt dann die Billardkugel? Wie kommt es, dass die Konstante plötzlich einen Wert von eins Komma null gewonnen hat? Wenn ich mich richtig erinnere, betrug sie sechs Komma sechs zwei sechs mal zehn hoch minus vierunddreißig. Habe ich recht?«

»Ich denke schon. Hör auf, dumme Fragen zu stellen, Homer. Stell einige intelligente.«

Homer wirkte enttäuscht. Aber dann lächelte er schief, wie so oft, und versuchte es erneut. »Na schön, na schön. Zwei Minuten für intelligenten Kram. Zwei Minuten Pause. Anschließend kehren wir zum veränderten Ithaca mit den hüpfenden Billardkugeln zurück und du erklärst mir, warum die Konstante nicht konstant ist. Für diese beiden Minuten unterhalte ich dich mit einem Rätsel. Es lautet: In meinem Zimmer gibt es kaum Platz genug, sich umzudrehen, aber trotzdem bewahre ich hier diese Monstrosität auf – warum nur?« Er deutete über die Schulter hinweg zum Maser. »Ich gebe dir einen kleinen Hinweis: Der Grund ist nicht das hübsche rote Licht.«

»Warum du den Maser aufbewahrst? Weil er dich an etwas erinnert, schätze ich. Oder an jemanden.« Loren wusste, dass Homer während eines Studienurlaubs mit dem Konstrukteur des Masers zusammengearbeitet hatte.

»Von emotionalem Wert spricht er da, der junge Mann. O ja, den hat der Maser durchaus. Ich verbinde viele angenehme Erinnerungen damit. Sie stammen aus dem Jahr 1968. Wie kann man nicht sentimental werden, wenn man an 1968 zurückdenkt? Zum Beispiel war ich damals jünger. Menschen in deinem Alter übersehen das oft: Bevor man älter ist, ist man jünger. Ich war damals an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, Einsteins alter Schule. O ja, eine sehr sentimentale Angelegenheit. Ob du recht hast mit deiner Vermutung? Nein, hast du nicht. Das ist nicht der Grund, warum der Maser noch da liegt. Ich würde ihn aus emotionalen Gründen behalten, wenn er fünfundzwanzig Zentimeter lang wäre, nicht fast zweieinhalb Meter. Nein, es gibt einen anderen Grund.«

»Hm. Weil er etwas veranschaulicht, etwas Interessantes.«

»Ja. Aber was?«

Loren erinnerte sich vage an etwas Seltsames in Hinsicht auf den Maser, an eine sonderbare Eigenschaft, die damals zwar bemerkt, doch nie richtig erklärt worden war. »Innerhalb des Strahls geschieht etwas. Etwas, das nicht dem entspricht, was man eigentlich erwartet.«

»Aha!«

»Lieber Himmel, ich habe seit Jahren nicht mehr daran gedacht. Es gab da einen Artikel in einer Fachzeitschrift.«

»Ja, geschrieben von Andronescu an der ETH. Von meinem alten Freund Andronescu.«

»Es ging dabei um Wärmetransport im Innern des Strahls. Dinge erwärmen sich nicht so schnell, wie es eigentlich der Fall sein sollte. War es das?«

»Bist nahe dran. Das Gesetz von Boyle-Mariotte, nach dem der Druck idealer Gase bei gleichbleibender Temperatur und gleichbleibender Stoffmenge umgekehrt proportional zum Volumen ist, scheint im Innern des Strahls nicht zu gelten. Das Gas dehnt sich weniger aus, als man erwarten sollte. Aber nur ein kleines bisschen weniger, um einige Teile pro tausend. Alle anderen hätten es für einen Messfehler gehalten, aber nicht so Andronescu. Ein hervorragender Mann im Laboratorium, legte immer großen Wert auf absolute Präzision. Ein großer Rumäne mit dichtem schwarzem Haar und außergewöhnlich großen Händen, die jedoch sehr geschickt sein konnten. Er maß beim Gasvolumen eine Abweichung von einem Zwanzigstel Prozent, und zwar immer, bei jedem Experiment. Außer­halb des Strahls ein bestimmtes Volumen, und darin ein Zwanzigstel Prozent weniger, bei gleichem Druck und gleicher Temperatur.«

»Andronescus Paradox.«

»Ein Paradox im Gefüge des Universums. Der Artikel war wundervoll geschrieben. Erschien auf Deutsch in der ETH-Physikserie 1971. Und für diese ausgezeichnete Arbeit bestand der Lohn aus …?«

»Keine Ahnung. Er starb. Niemand erinnert sich mehr daran.«

»Genau. Der übliche Lohn für großartige Arbeit.«

»Ich glaube, beim CERN in Genf hat jemand versucht, das Experiment mit Laserstrahlen zu wiederholen. Hat nicht geklappt.«

»Stimmt. Bei einem Laser bleibt das Phänomen aus.«

»Vielleicht auch bei einem Maser.«

»Nein, beim Maser ist es da. Ich kann es dir zeigen. Das mache ich gleich. Bis dahin geh einfach davon aus, dass es stimmt, Loren. Das Gesetz von Boyle-Mariotte ist eine Konstante, die im Innern des Strahls nicht mehr konstant ist.«

»Verstehe.«

»Boyles Konstante, die Planck-Konstante. Was bedeutet es, wenn eine Konstante nicht mehr konstant ist?«

Loren blickte in den roten Strahl. In der Geschichte der Wissenschaft gab es zahlreiche Beispiele für Konstanten, die schließlich zu Variablen geworden waren. So hatte man bis zu Kepler die Schwerkraft für eine Konstante gehalten. Wo und wann man es auch überprüfte, immer fielen Objekte mit derselben Beschleunigung zu Boden. Aber in Wirklichkeit ist die Schwerkraft keine Konstante, sondern eine Variable, die von der Masse des Planeten und der Entfernung von seinem Zentrum abhängt. Die Masse der Erde ändert sich nie und ein Mensch kann seine Entfernung von ihrem Mittelpunkt nur unwesentlich verändern. Deshalb hatte man die Gravitation immer für konstant gehalten. Bis zu Kepler, der das Gegenteil bewies.

Loren wählte seine Worte sorgfältig. »Wenn eine Konstante den Eindruck erweckt, sich zu verändern … Ich schätze, dann verbirgt sich irgendwo in ihr eine Variable.«

»Bravo.«

»Es gibt eine Variable, eine Quantität, die sich verändern kann, das aber nur selten tut.«

»Gut.«

»Bisher hat sich dieser Faktor nie verändert, denn sonst wären wir nicht von einer Konstante ausgegangen. Als er sich dann zum ersten Mal veränderte, sah es für uns so aus, als wäre ein Gesetz der Physik plötzlich nicht mehr gültig, oder nicht mehr ganz.«

»Gut.«

Was geschah in dem Strahl? Loren blickte ins Leere und stellte sich vor, im Innern des Strahls zu sein, Teil eines einfachen dünnen Gases. Um ihn herum schwebten Atome, angeregt von einer Wärmequelle. Er war eins dieser Atome und bewegte sich, als er Wärme empfing, stieß gegen andere und erzeugte auf diese Weise Druck und Ausdehnung. Aber nicht ganz so viel wie sonst. Warum? Was passierte? Er wusste es nicht.

Lorens Blick kehrte ins Hier und Heute zurück und richtete sich auf Homer, der eingeschlafen war.

*

Die Bücherregale außerhalb des Computerraums enthielten zwei Kopien von Andronescus Aufsatz. Loren nahm einen, fügte ihm ein Deutsch-Englisch-Wörterbuch hinzu und zog sich in sein Arbeitszimmer zurück. Eine Stunde später hatte er sich durch den Artikel gearbeitet und glaubte, ihn wenigstens einigermaßen zu verstehen. Zumindest glaubte er, Antwort auf die Frage gefunden zu haben, ob die von Andronescu verwendete Druckkammer dunkel oder transparent gewesen war. Er hatte eine dunkle Kammer benutzt, eine geschlossene Aluminiumkapsel mit festem Volumen, ausgestattet mit einem Druckmesser. Mit solchen Kapseln wurde Studienanfängern in Physikräumen das Gesetz von Boyle-Mariotte demonstriert. Woher also wussten die Gasatome, dass sie sich in der Präsenz von Licht befanden, wenn kein Licht ins Innere der Kammer gelangen konnte? Vielleicht kam mit dem Licht noch etwas anderes, ein mit dem Lichtstrahl verbundener Effekt. Loren blätterte zu einer Passage zurück, die unterstrichen war und einen säuberlich an den Rand geschriebenen Kommentar aufwies, auf Deutsch und mit einer einzelnen Initiale versehen, einem C. Loren vermutete, dass das C für Constantin stand, Andronescus Vornamen. Im Wörterbuch schlug er das eine Wort nach, das er nicht kannte: Streichholz. In der Anmerkung hieß es, dass ein Streichholz im Innern des Strahls langsamer brannte, dass es sich langsamer entzündete und langsamer ausging.

Loren kehrte in Homers Arbeitszimmer zurück und fand eine Streichholzschachtel neben dem Maser. Dutzende von abgebrannten Streichhölzern lagen in der Nähe, wie ihm jetzt auffiel. Loren entzündete ein neues und wartete, bis es ruhig brannte, bevor er es in den Strahl hielt. Die Flamme wurde etwas niedriger. Er hielt das Streichholz noch etwas länger ins Licht, um zu sehen, ob es ausgehen würde, aber das war nicht der Fall. Es brannte nur mit einer etwas kleineren Flamme. Beim zweiten Streichholz stellte er fest, dass man den gleichen Effekt erzielten konnte, wenn man die Flamme in die Nähe des Strahls hielt und nicht direkt hinein. Der ganze Bereich im Verlauf des Strahls schien langsameres Brennen zu bewirken.

»Diese Sache mit der Liebe. Welch eine Verkomplizierung eines hübsch ordentlichen Lebens.« Homer war wieder wach.

»Hm?«

»Die weiblichen Vertreter der Spezies, oder vielleicht sollte ich besser sagen: die weibliche Spezies. Weißt du darüber Bescheid?«

»Natürlich, Homer. Alle wissen darüber Bescheid. Äh, Frage: Was glaubst du, warum lässt der Strahl das Streichholz komisch brennen?«

»Antwort: Andronescus Paradox. Frage: Warum sind Frauen so, wie sie sind? Ich meine, wie werden sie so?«

Loren blies das Streichholz aus und wandte sich Homer zu. »Dir geht etwas durch den Kopf.«

»Das will ich doch stark hoffen.« Homer blickte auf seine im Schoß gefalteten Hände. »Glaubst du, eine siebenundsechzig Jahre alte Frau könnte an …« Er sah zu Loren auf. »… Sex interessiert sein?«

»Klar.«

»Ah. Nun, vielleicht ist es das. Wer hätte das gedacht? Ich meine, Maria … Wer hätte gedacht, dass sie nach einem ganzen Leben ohne …« Homer unterbrach sich und errötete ein wenig unter seinem weißen Haar. »Was hast du für einen großen Mund, Homer. Damit du besser Geheimnisse ausplaudern kannst.«

»Sie hat nie …?«

Peinlich berührt von der eigenen Indiskretion verzog Homer das Gesicht. »Nein. Nie. Da bin ich sicher. Sprich nicht darüber. Ich habe zu viel gesagt.«

»Ich werde das Geheimnis hüten.«

»Natürlich gilt das auch für mich.«

»Für dich?«

»Meine diesbezüglichen Erfahrungen bisher: nicht vorhanden. Null.«

Es gab also nicht nur zwei junge Jungfrauen im einundzwanzigsten Jahrhundert, sondern auch noch zwei ältere. Loren sank in den Sessel vor dem Schreibtisch. »Es ist nicht zu spät, Homer. Du kannst lernen. Besorg dir ein Buch.«

»Ich habe ein Buch! Natürlich habe ich ein Buch. Der Teil ist einfach. Aber wie geht man bei solchen Dingen vor? Woher weiß man, dass es das ist, was sie will? Sie schickt mir Signale, aber ich glaube, nicht einmal sie selbst weiß, was sie bedeuten. Keine Ahnung. Ich rate nur. Was ist, wenn ich mich irre?«

Loren spürte eine starke emotionale Reaktion in seinem Innern. Er beugte sich vor, streckte die Hand über den Schreibtisch und legte sie auf Homers Arm. »Mach dich ran«, sagte er und versuchte, mit fester Stimme zu sprechen. »Warte nicht. Veranalysiere es nicht. Vertrau deinem Instinkt.«

»Ja, dem Instinkt vertrauen. Das dürfte die Antwort sein.«

»Sie ist es. Und wenn du dich irrst … Na und? Aber wenn du recht hast und wenn sie recht hat, dann könnte es …«

»Ja. Es könnte ein ganz neues Leben für zwei alte Ziegen sein. Und du hast recht: Ein Irrtum bedeutet nur ein bisschen Verlegenheit, mehr nicht. Sie würde sagen: ›Du hast doch nicht etwa geglaubt, dass ich …‹ Und ich antworte: ›Ups, tut mir leid.‹«

»Es wäre nicht so schlimm.«

»Nicht so schlimm, nein. Aber ich hab trotzdem, na ja, Schiss. Hier bin ich, fast siebzig Jahre alt, und nie in meinem Leben hab ich mich in eine Position gebracht, in der mich eine Frau zurückweisen könnte. Und jetzt habe ich vor, mich in eine solche Position zu bringen.«

»Bravo.«

*

Kelly, Edward und Sonia waren eingetroffen und hatten mit der Arbeit begonnen. Loren und Homer blieben in Homers Zimmer und rätselten über den Strahl. Es war nicht nur ein Rätsel, glaubte Loren, sondern ein Hinweis auf etwas, das die ganze Zeit übersehen worden war. Es gab keine offensichtliche Verbindung zwischen der Anomalie im Strahl und der bisher erfolglosen Suche nach einer Erklärung für die Pekuliarbewegung, aber Loren gewann immer mehr den Eindruck, dass die Lösung des einen Rätsels auch das zweite Geheimnis lüften würde. Es war nur eine Ahnung, aber wie er selbst gesagt hatte: Manchmal lohnte es sich, dem Instinkt zu vertrauen.

Homer hatte die Richtung, die sie jetzt einschlugen, bereits erforscht. Es war durchaus möglich, dass er jenen Weg bis zum Ende beschritten und die Entdeckung gemacht hatte, die Loren erst noch machen musste. Aber vielleicht wusste er auf eine intrinsische Art und Weise, was das Paradoxon verursachte, ohne in der Lage zu sein, eine Antwort zu formulieren und aufzuschreiben. Möglicherweise brauchte er die Hilfe eines Mechanikers. Oder Homer benötigte ihn überhaupt nicht; immerhin schien er ziemlich sicher zu sein, welche Richtung es einzuschlagen galt. Vielleicht hatte er das Rätsel längst gelöst und führte ihn nun durch die gleichen Schritte, um eine Bestätigung zu erhalten.

Sich von Homer den Weg zeigen zu lassen, bedeutete den einen oder anderen Stolperstein. Manchmal schlief er mitten in einem Satz ein. In ihren Gesprächen kam es immer wieder zu Unterbrechungen, verursacht vom einen oder anderen kleinen Nickerchen. Und nach jeder solchen Pause wechselte Homer das Thema. Wenn er erwachte, sprach er über alles Mögliche.

»In seinem Innern ist das menschliche Bewusstsein wie ein Computer«, sagte Homer nach einem seiner kleinen Schläfchen. »O ja. Eine sehr tröstliche Vorstellung, denn Computer verstehen wir. Den Teil des menschlichen Bewusstseins, der wie ein Computer ist, können wir einigermaßen ergründen. Früher sah das anders aus. Die Leute hatten überhaupt keine Ahnung von Computern. Es verhielt sich genau anders herum. Man erklärte Computer mit Begriffen, die sich auf Bewusstsein und Gehirn bezogen, denn das Gehirn schien vertrauter zu sein. Es wurden sogar direkte Parallelen gezogen, indem man den Computer ›Elektronengehirn‹ nannte. Das Gehirn ist wie ein Computer oder wie mehrere von ihnen. Das gilt zumindest für mein Gehirn. Aber vielleicht nicht für das meines Bruders.«

Loren sah vom Maser auf. »Claymores Gehirn hat keine Ähnlichkeit mit einem Computer?«

»Es ist anders. Zum Beispiel hat er ein komisches Gedächtnis. Was manche Dinge betrifft, ist er eine echte Kanone. Er erinnert sich praktisch an alles, das er liest; er braucht nie irgendein Detail nachzuschlagen. Aber an unsere Eltern erinnert er sich nicht. Er weiß nicht mehr, wo wir als Kinder gelebt haben. Manchmal glaube ich, dass seine Erinnerung nur einige Monate zurückreicht.« Für einige Sekunden ging Homers Blick durch Loren. »Kein gutes Gedächtnis für die Vergangenheit, aber vielleicht eins für die Zukunft. Ob das möglich ist? Vielleicht. Könnte sein. Oder auch nicht. Jemand, der sich kaum an Vergangenes erinnert … Ist es denkbar, dass er sein ganzes Gedächtnis für Dinge in der Zukunft braucht?«

»Da muss ich passen.«

»Oft scheint er sicher zu sein, was passieren wird. Als wäre es für ihn bereits geschehen. Als wir vor elf Jahren nach Ithaca kamen, stieg Claymore aus dem Wagen und ging schnurstracks zu dem Haus, das ich gemietet hatte. Der Wagen stand nicht vor dem Haus, denn dort parkten andere Fahrzeuge, und ich hatte es ihm nie beschrieben. Es befand sich die Straße hinunter, auf der anderen Straßenseite, aber er ging geradewegs darauf zu. Man hätte meinen können, er kehrte nach Hause zurück. Und es gibt andere Beispiele. Viele. Ich glaube, er weiß, was geschehen wird. Er spricht nur nicht darüber.«

»Der Mann, der sich an die Zukunft erinnert.«

»Ja. Und jetzt scheint er sich daran zu ›erinnern‹, dass wir fortgehen. Für mich ist das völlig neu, aber er scheint davon überzeugt zu sein. Er glaubt, dass wir bald fortgehen und nicht zurückkehren. Er kauft nur noch Lebensmittel für ein paar Tage, mehr nicht. Weil wir bald nicht mehr hier sind. Ich habe ihn darauf angesprochen, aber er will nicht darüber reden. Das Thema interessiert ihn nicht. Doch in seinem Verhalten gibt es viele kleine Hinweise.«

»Wir reisen nach Florida, vielleicht meint er das«, sagte Loren. Homer wollte Claymore und alle Projektmitarbeiter nach Fort Lauderdale zur Preisverleihung mitnehmen. Alles sollte ein großer Spaß werden, ein wohlverdienter Urlaub. »Wir reisen nach Florida und kehren nicht zurück? Es sind doch nur ein paar Tage. Wenn es für immer ist, sollte ich vielleicht mehr Sachen mitnehmen.«

»Ich werde daran denken, wenn ich packe. Außerdem sagt er, und das ist besonders seltsam, dass die Farbe anders sein wird.«

»Welche Farbe?«

»Ich glaube, er meint alles. Die Zukunft sei rosarot, sagt er.«

»Das sind ja rosige Aussichten.«

»Ja. Aber was bedeutet das? Die Zukunft ist noch nicht geschehen. Wie kann Claymore etwas davon gesehen haben? Die Zeit fließt nur in eine Richtung. Es ergibt keinen Sinn.« Homer schwieg gedankenverloren und nach einigen Sekunden glaubte Loren, er sei wieder eingeschlafen. Doch nach einer langen Pause fragte Homer: »Was ist die Zeit?«

Er schien keine Antwort zu erwarten. Loren wartete darauf, dass er fortfuhr, und nach mehr als einer Minute sagte Homer:

»Das Konzept der Zeit erschien mir immer sonderbar, irgendwie nicht richtig. Andere Dinge sind klarer. Studenten fällt es oft schwer zu verstehen, wie Licht sowohl aus Partikeln bestehen als auch eine Welle sein kann, aber damit hatte ich nie Probleme. Wenn ich draußen in der Sonne sitze, fühle ich sie auf mich herabfallen, all die Teilchen, die Photonen. Manchmal glaube ich fast, ihr Prasseln zu hören, wie von kleinen Regentropfen. Und ich spüre auch die Wellen, beinahe so, als richtete sie mir wie statische Elektrizität die Härchen an den Armen auf. Aber es ist nichts Elektrisches, es sind tatsächlich die Wellen des Lichts.

Ich fühle die Quantenbewegungen von Elektronen und ich fühle, dass die Geschwindigkeit des Lichts die Obergrenze für alle Geschwindigkeiten ist. Ich fühle alle Effekte der Relativität. Wie Mr. Tompkins auf seinem Fahrrad fühle ich die kleinen Veränderungen der Masse, wenn er fester in die Pedale tritt. Ich brauche kein anderes Universum aufzusuchen, in dem die Lichtgeschwindigkeit geringer ist. Ich fühle es in diesem Universum.

Aber die Zeit fühle ich nicht. Oder was ich fühle, ist nicht das, was man fühlen sollte. Ich habe sie nie verstanden. Das kleine ›t‹, das in Gleichungen die Zeit darstellt, ist für mich nichts weiter als ein Korrekturfaktor, den ich hinzufüge, damit die Gleichung richtig aufgeht. Ich komme mir immer wie ein großer Schwindler vor, wenn ich das kleine t schreibe, weil ich nicht fühle, was es bedeutet. Was ist die Zeit? Erklär mir, was die Zeit ist, Loren.«

»Die Zeit ist ein … Fluss.« Es war eine schwache Antwort, das wusste er.

»Ah, ein Fluss. Das ist eine große Hilfe. Die Zeit ist ein Fluss. Der Fluss t.« Homer wirkte müde. »Wir müssen über diesen Fluss nachdenken, Loren. Wir müssen darüber nachdenken und lernen, wie er sich anfühlt.«

*

Die Erkenntnis kam von ganz allein und schlich sich in sein Bewusstsein. Loren hätte sie nicht aufhalten, sich nicht gegen sie sträuben können. Seine Rolle bestand allein darin, sie in Empfang zu nehmen. Sie kam nicht mit einem Schlag, sondern entfaltete sich langsam, im Lauf einer Stunde. In dieser Zeit bewegte sich Loren nicht und Homer ebenso wenig. Schließlich wusste er, was er zuvor nicht einmal in Erwägung gezogen hatte: Die falsche Konstante verbarg sich in der allgemeinen Vorstellung von der Zeit. Sie tarnte sich als Teil des kleinen t. Etwas von diesem t konnte sich von der Zeit, wie man sie kannte, trennen. Dieser Teil hatte die Fähigkeit, sich zu verändern, was bisher aber nie geschehen war. Bis zum ersten Mal der Maser aktiv wurde und einen roten Lichtstrahl schuf. Im Innern dieses Strahls wurde die Zeit um einen winzigen Bruchteil verlangsamt, vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte. Der dünne rote Strahl bewirkte eine lokale Störung der Bedeutung von Zeit.

»Die Zeit im Strahl ist anders, nicht wahr, Homer?«

»Ja.«

»Sie ist langsamer.«

»Ja.«

»Die Flamme brennt mit derselben Geschwindigkeit, sowohl im Strahl als auch außerhalb davon. Es ist die veränderte Zeit, die für ein scheinbar langsameres Brennen sorgt.«

»Ja.«

»Das hast du gewusst.«

»Ja.«

Bei einem Durchbruch erwartet man ein Hochgefühl, aber Loren fühlte nichts. Vielleicht folgte das später. Derzeit gab es nur Verwirrung. Er kam sich vor wie ein Archäologe, der gerade einen Beweis dafür gefunden hatte, dass die Kultur, die er untersuchte, von einem Zauberer erschaffen war, mit einem Schwenk seines Zauberstabs. Was er bisher für vernünftig und klar gehalten hatte, war plötzlich vollkommen verrückt geworden, wie ein Kartenspiel, bei dem es nur Joker gab.

Homer zeigte mit einem langen Finger auf ihn. »Ich habe jetzt eine Aufgabe für dich, mein junger Freund. Ich möchte, dass du alles durcharbeitest und aufschreibst, was genau im Innern des Strahls geschieht.«

»Diese Arbeit hast du bereits geleistet, nehme ich an.«

»Ja.« Homer schien sehr zufrieden mit sich zu sein. »Aber ich möchte, dass du sie wiederholst. Arbeite alles aus und bring es in eine Form, die du mir und anderen vorlegen kannst. Sieh es als eine Art Hausaufgabe.«

Loren hatte Homers Aufträge immer mit Begeisterung entgegengenommen, doch diesmal ärgerte er sich. Warum zeigte ihm Homer nicht einfach, was er herausgefunden hatte? Warum sollte er sich die Mühe machen, es selbst zu entdecken? Er war kein Student im ersten Semester, der lernen musste, wie man forschte; er sollte eigentlich ein geschätzter Kollege sein. Loren versuchte, sich seinen Ärger nicht anmerken zu lassen, aber Homer hatte ihn bereits gesehen und grinste. Zum Teufel mit ihm.

Loren ging und schlug die Tür hinter sich zu.