27
Münzen der Zeit

Dass Candace Fournier Hopkins ihre wahre Berufung als Marineoffizier gefunden hatte, war für die Gemeinschaft von Baracoa Village eine ebenso große Überraschung wie die seltsame Veränderung in Lorens beruflicher Laufbahn. Vor gut einem Jahr hatte er in seinem Geburtstagsbrief davon geschrieben, dass er jetzt den Weg einschlug, dem er für den Rest seines Lebens folgen würde, und dabei hatte er an ein Leben als theoretischer Physiker gedacht. Inzwischen vergingen manchmal Monate, ohne dass er einziges Mal an Physik dachte. Eine größere Leidenschaft hielt ihn in ihrem Bann, die des Kriegs.

Die Schlacht im Bahama Channel war nie weit von Lorens Gedanken entfernt. Immer wieder fühlte er, wie sich der Bug der Columbia in den Rumpf der hilflosen weißen Jolle bohrte und er hörte das Bersten von Holz, als Mast und Takelage fielen. Er spürte das Hämmern seines Herzens, als er mit einer Machete in der Hand aufs Deck des feindlichen Boots sprang, vernahm dabei den heiseren Klang seiner Stimme. Manchmal erwachte er mitten in der Nacht aus einem Traum, in dem es jede Menge blaue Blitze, Gasmasken tragende Schurken und Blut gegeben hatte. Dann war sein Mund trocken von Furcht, und sein Puls raste. Die eine Hälfte von ihm hoffte, dass so etwas nie wieder geschah, doch die andere wünschte sich, dass es nie aufhörte. Loren war auf den Geschmack gekommen. Er hatte für sein Leben und sein Land gekämpft und gewonnen; im Vergleich damit verblasste alles andere.

Der Rest seines Lebens, so wusste er, würde dem Kampf gewidmet sein. Das Abenteuer von Fort Belvoir bestätigte das, wenn eine Bestätigung notwendig gewesen war. Der neue Weg lag klar vor ihm: Er würde diese Insel und die Gemeinschaft von Baracoa Village verteidigen, solange er lebte.

Loren vermutete, dass Rupert Paule und der geheimnisvolle Reverend Gallant zwar entmutigt, aber nicht endgültig besiegt waren. Irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft würde es einen neuen Angriff geben und Loren war sicher, dass er diesmal aus dem Süden erfolgte. Was nicht bedeutete, dass seine Wachsamkeit im Channel und entlang der Westküste nachlassen durfte. Aber es galt, das Hauptaugenmerk nach Süden zu richten. Die feindliche Flotte würde ein ganzes Stück östlich an Puerto Rico vorbeisegeln, vielleicht ganz um die Inseln über dem Winde herum, um dann mit den Passatwinden im Rücken anzugreifen. Sie würde sich Kuba aus dem Süden oder Südwesten nähern, abhängig von der Jahreszeit. Immer wieder hatte Loren diesen Plan aus der Sicht des Gegners überprüft und Kelly, Candace und Proctor Pinkham gebeten, ihm Alternativen anzubieten, die den Feind noch schlagkräftiger machten. Niemand von ihnen war imstande gewesen, Paule bessere Karten in die Hand zu geben. Also ging Loren davon aus, dass sie sich auf eben diesen Plan vorbereiten mussten.

Wenn sie sich erfolgreich verteidigen wollten, mussten sie hinter die angreifende Flotte gelangen, damit sie den Wind auf ihrer Seite hatten. Ein derartiges Manöver erforderte große Sorgfalt und wenn das Zeichen zum Angriff gegeben wurde … Von dem Moment an hing alles davon ab, dass sie in der Lage waren, dem Feind davonzusegeln. Es wäre dumm gewesen anzunehmen, dass Rupert erneut altersschwache Boote wie die McMillan-Jollen in den Kampf schickte. Diesmal setzte er bestimmt etwas ein, das schneller und wendiger war, vermutlich Mehrkörperboote. Solche Boote waren der Baracoa-Flotte eindeutig überlegen. Irgendwann würde Rupert dampfgetriebene Schiffe ins Spiel bringen, doch daran arbeitete auch Baracoa. Vielleicht dauerte es noch ein Jahr, aber dann hatten sie die Möglichkeit, einem Angriff mit Dampfschiffen aus dem Norden zu begegnen. Bis dahin mussten sie vor allem schnellere Segler fürchten. Paule hatte unmittelbaren Zugang zu allen teuren Spielzeugen, die von amerikanischen Jachtbesitzern im Lauf der Jahre angesammelt worden waren. Loren hingegen standen nur die Boote zur Verfügung, mit denen sie Kuba erreicht hatten, außerdem einige Katamarane von Guantánamo. Die Revolutionäre Republik Kuba war kein großes Jacht-Zentrum gewesen.

Wie konnte er der Flotte von Baracoa einen Vorteil verschaffen? Loren dachte an bessere Segelformen, an geringeren Wasserwiderstand, bessere Rumpfgeschwindigkeit und höherer Anstellwinkel. Wenn sie auch nur fünf Grad näher am Wind segeln konnten als die angreifende Flotte, so hätten sie dadurch einen großen Vorteil gewonnen, einen sehr großen.

Mithilfe des Physikers in ihm begann er, ein Modell zu zeichnen, das insbesondere die Faktoren berücksichtigte, die die Zugkraft des Segels beim Trimm nahe am Wind beeinflussten. In nur einer Stunde entwickelte er die Gleichungen aus seinen Erinnerungen an den Bernoulli-Effekt – sie betrafen die Beschleunigung des Winds am vorderen Rand eines Segels und die daraus resultierende, das Boot nach vorn ziehende Kraft. Er schätzte den Widerstand des Kiels, der das Boot daran hinderte, in Windrichtung abzutreiben. Jede dieser Gleichungen erforderte eigene Berechnungen, wobei der Faktor Zeit eine besondere Rolle spielte, was Lorens Gedanken zu T-prime zurückkehren ließ.

Er tauchte noch einmal tief ein in die beiden Komponenten von T-prime und berechnete die Gleichungen neu. Da das Boot und der Ozean, durch den es segelte, gleichermaßen vom Faktor Zeit betroffen waren, glichen sich die Unterschiede aus, wodurch die Berechnungen dasselbe Resultat ergaben. Aber angenommen, Boot und Meer waren nicht gleichermaßen betroffen. Angenommen, T-prime konnte einen Wert für das Segel gewinnen und einen anderen für den Kiel? Loren erinnerte sich vage an etwas, das sich im vergangenen Frühjahr in Ithaca ergeben hatte und vielleicht dabei helfen konnte, ihre Boote schneller zu machen. Unter seinem Bett fand er die Umhängetasche, die ihn beim Flug von Ithaca nach Fort Lauderdale begleitet hatte. Bei den Vorbereitungen für den Aufbruch hatte Homer darauf bestanden, dass Loren das Protokollbuch aus dem Laboratorium mitnahm. Vielleicht, so hatte er argumentiert, fanden sie eines Tages am Pool ein paar Minuten Zeit, über einen Aspekt der Probleme nachzudenken, an denen sie arbeiteten, und dann war es vielleicht nötig, die Aufzeichnungen des Protokollbuchs zu Rate zu ziehen. Loren suchte in seiner Umhängetasche danach und fand es ganz unten.

Er setzte sich auf sein Bett in dem kleinen Haus, das er mit Edward teilte, und ging die datierten Einträge des Buchs durch. Schließlich kam er zu dem Sonntagnachmittag, an dem er der Gruppe seine Entdeckungen über T-prime präsentiert hatte. Dort standen die sechs inzwischen vertrauten Gleichungen, fein säuberlich in seiner Handschrift geschrieben. Er blickte darauf hinab und dachte noch einmal über ihre Bedeutung nach. Es war noch immer erstaunlich, wie falsch sie bis dahin von der Zeit gedacht hatten. Die alte Betrachtungsweise erschien ihm jetzt simpel und naiv. Die Zeit war alles andere als simpel. Sie war grotesk und kompliziert, »pekuliar« in dem besonderen Sinn, in dem Homer dieses Wort verwendet hatte. Andererseits war sie nicht grotesker und komplizierter als die inneren Mechanismen, die Physiker früherer Generationen bei Energie, Gravitation und Licht entdeckt hatten.

Doch all das betraf die Physik, die reine Wissenschaft. Worum es Loren in erster Linie ging, war ein Trick, mit dem er Segelboote schneller machen konnte. Er suchte nach einer Möglichkeit, einen Vorteil aus den Gleichungen zu ziehen. Mit dem Protokollbuch machte er sich auf die Suche nach Edward und fand ihn in der Werkstatt.

»Sieh dir das an, Ed. Etwas aus unserer Vergangenheit.« Loren öffnete das Buch an der Stelle der T-prime-Gleichungen und legte es auf die Diagramme des Telefonnetzes, die sich Edward zusammen mit D.D. Pease angesehen hatte. »Ich störe doch nicht, oder?«

»Himmel, nein. Pease und ich sind nur damit beschäftigt, die normale Welt zurückzubringen. Nichts Wichtiges, keine Sorge. In der nächsten Woche geben wir unserer Gemeinschaft funktionierende Telefone.«

»Oh, gut. Ed, sieh dir diese Gleichung an und sag mir, ob ich auf dem falschen Pflaster bin.«

»Ich nehme an, du meinst eine falsche Fährte. Oder vielleicht einen falschen Dampfer.«

»Ja. Du erinnerst dich sicher, dass ein zweiter stabiler Wert für T-prime existiert, abgesehen von dem, den wir mit unseren Effektoren nutzen. Es gibt den ursprünglichen alten Wert, den ich T-prime-null genannt habe, und er betraf die frühere Welt. Dann gibt es T-prime-eins, den reduzierten Zeitfluss, den wir jetzt haben, eine Verlangsamung um etwa ein Zwanzigstel Prozent.«

»Ja, ich erinnere mich.« Edward wirkte geistesabwesend.

»Aber die Gleichung sagt noch einen zweiten stabilen Wert voraus, eine wesentlich langsamere Zeit als die beiden anderen. Ich nenne diesen Wert T-prime-zwei. Er würde die Zeit auf etwa zehn Tausendstel des gegenwärtigen Werts verlangsamen.«

»Ja.«

»Interessant ist, dass diese Zeit zu langsam wäre, um sich auszubreiten. Ich meine, sie würde Tausende von Jahren brauchen, um das irdische Magnetfeld zu erreichen und sich darin auszudehnen. Ihr Wirkungsbereich bliebe lokal begrenzt, auf die unmittelbare Umgebung eines entsprechenden Effektors.«

»Oh, gut. Es würde mir gar nicht gefallen, die Welt um einen Faktor zehntausend zu verlangsamen. Das wäre ein herber Rückschlag für unser Telefonprojekt.«

»Ja. Aber stell dir vor, wir bauen einen Effektor für T-prime-zwei und befestigen ihn am Kiel eines Segelboots. Wenn wir den Effektor einschalten, kommt es zu einer enormen Verlangsamung der Zeit in Richtung des Strahls. Wenn wir den Strahl senkrecht zum Kiel ausrichten, ergibt sich daraus ein extrem stabiles Segelboot. Es würde nicht mehr krängen und es könnte nicht in Windrichtung abtreiben. Ich meine, es treibt durchaus ab, aber so langsam, dass man es nicht merkt. Verstehst du? Wir hätten den perfekten Kiel. Und er hinge überhaupt nicht vom Wasserwiderstand ab. Das Boot könnte sich ungehindert nach vorn und nach hinten bewegen, aber nicht seitwärts. Und es könnte sich auch nicht zur Seite neigen. Mit anderen Worten: Es hätte vollkommene Stabilität.«

»Nicht unbedingt ein Vorteil, wenn man den Kurs ändern muss«, sagte Pease.

»Dann schalten wir den Effektor ab. Und wenn der neue Kurs anliegt, schalten wir ihn wieder ein. Denkt nur daran, welche Vorteile es für uns hätte, wenn wir ohne seitliche Abdrift und ohne Krängung segeln könnten. Es wäre uns ein Leichtes, den Feind auszumanövrieren.«

»Nicht schlecht«, sagte Edward.

»Nicht schlecht? Dies ist wundervoll und wichtig, Ed! Womit auch immer ihr gerade beschäftigt gewesen seid, ich meine, ihr solltet es stehen und liegen lassen und mit mir an dieser Sache arbeiten.«

Barodin zuckte die Schultern und schenkte Loren ein kleines schelmisches Lächeln. »Pease und ich, wir sind vernünftige Leute und so sehr von der Aussicht auf einen perfekten Kiel beeindruckt, dass wir dir eine ganze Werkbank zur Verfügung stellen, die dort drüben direkt vor dem Fenster. Da kannst du deinen neuen Apparat bauen. Oh, du brauchst uns nicht zu danken. Die Werkbank gehört dir. Stell die Kisten und Kästen auf den Boden, verscheuch die Katze und leg die Funkgeräte beiseite, die auf ihre Umrüstung warten. Du kannst schalten und walten, wie du willst, und musst nur still wie eine Maus sein, um das Alexander-Graham-Bell-Projekt nicht zu stören.«

»Edward! Wollt ihr mir nicht helfen?«

»Natürlich helfen wir dir, Loren. Wir haben dich bereits auf die Liste gesetzt. Du hast eine Nummer. Wie lautet seine Nummer, D.D.?«

»Eins acht sechs. Er kommt direkt nach der neuen Spule für den Wasserboiler im Mädchenwohnheim.«

»Da hörst du’s. Nummer einhundertsechsundachtzig. In ein oder zwei Monaten kannst du ganz auf uns zählen.«

Loren räumte die Werkbank frei und brummte dabei vor sich hin. Er brauchte etwa eine Stunde, um mit den Teilen, die er in der Werkstatt fand, einen neuen Effektor zu bauen. Als alles fertig war, berechnete er, wie viel Strom für T-prime-zwei nötig war, und bastelte dann eine entsprechende Energiequelle zusammen. Nichts geschah. Er überprüfte seine Berechnungen und versuchte es erneut. Auch diesmal leuchtete der Strahl nur kurz auf und verschwand sofort wieder; er blieb nicht stabil. Nach der Gleichung sollte er stabil sein, aber das war er nicht.

Nachdem Loren noch einmal alles durchgerechnet hatte, machte er sich auf den Weg zu Sonia. Er wusste, wo sie um diese Zeit am frühen Nachmittag sein würde: im offenen Speisesaal. Dort fand er sie tatsächlich; sie korrigierte gerade einige Aufsätze.

»Hallo, Sonia. Erinnerst du dich an dies?« Loren legte die Seite aus dem Protokollbuch vor ihr auf den Tisch.

Sonia blickte voller Abscheu auf die Gleichungen. »Kaum.«

»Denk an den Sonntag, als ich diese Gleichungen auf dem Plasmaschirm gezeigt habe. Unmittelbar nach der Präsentation haben wir zwei verschiedene Arbeitsgruppen gebildet, die sich mit unterschiedlichen Aspekten von T-prime beschäftigen sollten, und wenn ich mich nicht irre, solltest du die Bedeutung des zweiten stabilen Werts untersuchen, T-prime-zwei.«

»Ich erinnere mich nicht.«

»Das kannst du doch nicht vergessen haben, Sonia. Du hast als erste darauf hingewiesen, dass es einen zweiten stabilen Wert für eine noch langsamere Zeit gibt. Du hast ihn sogar berechnet. Hier steht er, in deiner Handschrift.« Loren deutete auf eine Anmerkung am Rand derselben Seite, eindeutig von Sonia geschrieben. »Du hast gesagt, der zweite Wert wäre stabil bei einem Zeitfluss von 0,00013.«

»Ich erinnere mich nicht.«

»Jedenfalls, ich hab es ausprobiert und dabei hat sich herausgestellt, dass der Wert nicht stabil ist. Der Strahl verschwindet unmittelbar nach dem Einschalten.«

»Loren, ich muss vierzig Aufsätze korrigieren. Und in einer halben Stunde kommen die Schüler für den Sonderunterricht.«

»Ich bitte dich, Sonia, dies ist wichtig.«

Ärger zeigte sich in ihrem Gesicht. »Wichtig! Ich sage dir, was wichtig ist. Ich habe einen kleinen Jungen, der jede Nacht ins Bett macht. Er schläft zusammen mit zehn anderen Jungen und alle wissen Bescheid. Selbst die Mädchen haben davon gehört. Kannst du dir vorstellen, wie sich das anfühlt? Er ist elf Jahre alt. Er ist elf und es zerreißt ihn innerlich. Das ist wichtig. Die Gleichungen spielen keine Rolle.«

»Oh«, sagte Loren. Er kam sich ein bisschen dumm vor und blickte aufs Protokollbuch hinab. Nach einem Moment sah er wieder auf. »Versuch es mit Honig.«

»Was?«

»Gib ihm Honig. Wir hatten ein ähnliches Problem mit meiner kleinen Schwester Sanchy, als sie in dem Alter war. Asunción gab ihr jeden Abend vor dem Zubettgehen einen Teelöffel Honig. Sie sagte, damit wäre ihr Problem bald gelöst. Und so kam es auch.«

»Danke. Ich versuch’s.«

»Schaden kann es nicht.«

»Danke. Und jetzt … Ich habe viel zu tun.«

*

Wenige Wochen nach ihrer Ankunft in Baracoa im Frühling hatte Homer das Haus im Schuldorf verlassen, das ihm von Rektor Brill zugewiesen worden war. Stattdessen hatte er sich in einer Hütte direkt am Meer niedergelassen, einen knappen Kilometer den Strand hinunter. Sie gab nicht viel her, aber er brauchte auch nicht viel. Wenn er die Tür öffnete, waren es nur wenige Schritte bis zum Wasser. Der frühere Besitzer war ein Muschelsammler gewesen und daran nahm sich Homer ein Beispiel. Jeden Morgen konnte man beobachten, wie er Muscheln aller Art, Krabben und essbare Algen zum Kochhaus trug. Loren fand ihn um kurz nach drei am Nachmittag in der Hütte. Als er eintrat, lag Homer auf dem Boden, mit einem kleinen Waschbären auf dem Bauch. Die liebevolle Szene entlockte Loren ein Lächeln und natürlich sah Homer das Lächeln. Es schien ihn zu ärgern.

»Oh, ja. So ist das, wenn man alt wird. Das denkst du jetzt, nicht wahr, junger Freund?« Homer stand auf und setzte sich auf den einzigen Stuhl. Der Waschbär sprang auf seinen Schoß. »Du denkst: Wenn man alt wird, lässt man es langsamer angehen und eigentlich ist es gar nicht so schlimm. Man spielt mit kleinen Tieren und den Nachmittag verbringt man damit, rücklings auf dem Boden zu liegen und sich auszuruhen. So ist das mit dem Alter, alles wird nur ein bisschen langsamer. Das denkst du, nicht wahr? Aber da liegst du völlig falsch. Das Alter ist keine Verlangsamung, sondern ein Schiffbruch.« Zorn funkelte in Homers Augen.

»Du brauchst nicht gleich an die Decke zu gehen, Homer. Ich bin nur gekommen, weil ich dich um Rat fragen möchte.«

»Hier ist ein Rat für dich: Werd nicht alt. Das Alter ist wie ein Schiffbruch. Wenn du einen solchen Schiffbrüchigen siehst, so lächele nicht dieses kleine Lächeln, das die Herablassung der Jungen zum Ausdruck bringt. Ich habe mein Los mit diesem kleinen Burschen geteilt, wie ich ein Opfer des Sturms. Wir sind beide schiffbrüchig. Ich, weil ich alt bin, und er, weil er Waise ist. Moment mal! Ich schätze, ich bin ebenfalls Waise, denn meine Eltern sind längst tot. Und du kommst rein und lächelst, als wäre alles in bester Ordnung. Es ist nicht in Ordnung. Wir wollen keine Schiffbrüchigen sein. Es ist scheußlich.«

Loren setzte sich auf den Rand von Homers Bett und bemerkte, dass ein zusammengefaltetes Nachthemd unter dem Kissen hervorragte. Homer bemerkte auch diesen Blick. Er war sehr aufmerksam. »Du kennst alle meine Geheimnisse. Tagsüber spreche ich mit Tieren und nachts liege ich mit Maria im Bett. Sag ihr bloß nicht, dass du davon weißt. Sie ist sehr anständig.«

»Kein Wort von mir.«

Homer lehnte sich auf dem Stuhl zurück, kratzte den Waschbären hinter den Ohren und seufzte tief. »Man braucht nicht mehr viel Schlaf, wenn man alt ist. Das gehört zu den wenigen Vorteilen, ein Schiffbrüchiger zu sein. Eine Stunde Schlaf ist viel. Jeden Morgen bei den Besprechungen mit Chandler bekomme ich allen Schlaf, den ich brauche. Dadurch bleibt mir nachts viel Zeit für Maria.«

»Klingt gut.«

»Ist es auch. Dieser pelzige kleine Bursche heißt übrigens Bärenbann oder vielleicht Drachentöter. Ich lerne gerade erst Waschbärisch. Bärenbann, das ist Dr. Loren Martine, Wissenschaftler und Admiral des Ozeans.«

»Hallo, Bärenbann«, sagte Loren. Der Waschbär richtete einen intelligenten Blick auf ihn.

»Was also kann ich für dich tun? Nicht dass ich geneigt wäre, irgendetwas für irgendjemanden zu tun.«

»Ich habe heute Morgen über T-prime nachgedacht.«

»T wie Tee? Du hast über ein Getränk nachgedacht?«

Loren ging nicht darauf ein. »Ich habe unser Protokollbuch hervorgeholt und mir noch einmal die Gleichungen angesehen. Es sollte einen weiteren stabilen Wert für T-prime geben. Die Gleichungen sagen ihn voraus. Aber er existiert nicht. Ich habe einen Effektor für T-prime-zwei gebaut und er funktioniert nicht.«

»An den ganzen Kram erinnere ich mich nicht mehr.«

»Im Ernst, Homer. T-prime ist die wichtigste Arbeit, die du jemals geleistet hast. Zukünftige Generationen werden deinen Namen nicht mit dunkler und leuchtender Materie in Zusammenhang bringen, sondern mit dem Layton-Effekt und deiner Lösung des Rätsels der Pekuliarbewegung. Du bist der Mann, der den Fluss der Zeit geändert hat.«

»Ich? Nein. Das ist gar nicht mein Ding. Physik und Mathematik sind mir viel zu langweilig. Es erstaunt mich, dass du überhaupt daran denkst, obwohl es so viele bessere Möglichkeiten gibt, Körper und Geist zu beschäftigen. Warum gehst du nicht schwimmen, um nur ein Beispiel zu nennen? Das Schwimmen ist wundervoll hier. Oder warum suchst du dir nicht eine nützliche Arbeit? Du könntest Muscheln sammeln. Eine sehr befriedigende Arbeit, kann ich dir sagen, und meine wahre Berufung, wie ich inzwischen weiß. Wirklich schade, dass ich einen so großen Teil meines Lebens verbraucht habe, bevor ich zu dieser Erkenntnis gelangt bin. Zuerst macht es Spaß, die Muscheln zu suchen, in der warmen Sonne und mit einer kühlenden Brise, die mir über die Haut streicht, und anschließend esse ich einen Teil meines Funds. Kann man sich mehr wünschen? He, warum ziehe ich nicht los und suche ein paar Muscheln?« Er stand auf, wodurch der kleine Waschbär zu Boden rutschte. Neben der Tür lehnte eine Grabegabel für Muscheln an der Wand. Homer nahm sie und ging ohne ein weiteres Wort hinaus.

Loren blieb zurück und wechselte einen verwunderten Blick mit Bärenbann. Ein kurzer Pfiff kam vom Strand und der Waschbär lief zur offenen Tür. Dort verharrte er noch einmal, warf Loren einen letzten Blick zu und machte sich dann eilig daran, Homer über den Strand zu folgen.

*

Peter Chan war Lorens letzte Hoffnung auf konstruktiven Rat. Der Mathematiker von Princeton war nicht nur eine Koryphäe auf seinem Fachgebiet, sondern auch noch Amateur-Physiker. Wie sich herausstellte, war er auch ein recht guter Tischler. Er ging bei D.D. Pease in die Lehre und half bei der Reparatur des Bugs der Columbia. Mit einem großen Schweifhobel glättete er die Planken des neuen Bugs.

»Mr. Pease ist ein Künstler mit einem solchen Hobel«, teilte er Loren mit. »Sehen Sie sich nur die linke Seite des Bugs an. Dafür hat er nur ein paar Minuten gebraucht. Ich arbeite seit Stunden an der anderen Seite und sie ist nicht annähernd so gut gelungen.« Er richtete einen kummervollen Blick auf das Ergebnis seiner Arbeit, das für Loren perfekt aussah. Der etwas dickliche Professor trug ein T-Shirt, an dem sich große Schweißflecken gebildet hatten. Holzspäne klebten in der einen Hälfte des runden Gesichts.

»Ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich mir Rat von Ihnen erhoffe, Dr. Chan. Ich habe Probleme mit diesen Gleichungen.« Loren legte die betreffende Seite aus dem Protokollbuch auf das gerade geglättete Bugsegment. Sie knieten nebeneinander auf dem Gerüst, das die Columbia in der improvisierten Werft umgab. Chan sah sich die Gleichungen kurz an und setzte dann die Arbeit fort.

»Die berühmten T-prime-Gleichungen«, sagte er.

»Ja.« Loren bezweifelte, dass ein so kurzer Blick genügte, um die Gleichungen richtig zu erfassen. Er musste irgendwie das Interesse des Professors wecken, damit er sie sich noch einmal ansah. »Lassen Sie mich das Problem erklären. Es sollte einen zweiten stabilen Wert von T-prime geben, bei 0,00013. Aber das ist nicht der Fall. Meine Versuche, den zweiten Wert zu erreichen, sind gescheitert. Er scheint gar nicht zu existieren, zumindest nicht dort, wo ich ihn erwarte. Doch die Gleichungen sagen ihn voraus.«

»Die dritte Gleichung ist falsch«, sagte Chan und es klang so, als könnte es nicht den geringsten Zweifel daran geben. Er legte den Hobel beiseite, strich über beide Seiten des Bugs und verglich sie mit den Fingerspitzen. Sein Blick ging dabei ins Leere.

Loren starrte ihn an. »Wie können Sie so etwas behaupten? Sie hat den ersten stabilen Wert vorausgesagt, T-prime-eins, und er war genau dort, wo er sein sollte. Andernfalls wären wir gar nicht in der Lage gewesen, die Effektoren zu bauen und mit ihnen die Zeit zu beeinflussen.«

»Ja. Für T-prime-eins ist mit der Gleichung alles in Ordnung. Aber sie beschreibt nicht die Art und Weise, wie die Dinge vor dem Einschalten der Effektoren gewesen sind, die Welt bei T-prime-null, wie Sie es nennen. Ihre Gleichung sieht für die vergangenen achtzehn Monate gut aus, erklärt jedoch nicht, wie es während all der Jahrmilliarden vorher zuging.«

Loren sah auf die Seite hinab und überlegte, was die dritte Gleichung über den Null-Zustand sagte. Es schien alles zu stimmen, soweit er das erkennen konnte. »Was ist falsch daran?«

»Versuchen Sie einmal, die Gleichung mit einem Zeitwert von null aufzulösen.«

Loren kam der Aufforderung nach und rechnete im Kopf. »Und?«

»Und was? Was bedeutet Zeit mit einem Wert null? Es ergibt überhaupt keinen Sinn.«

»Die Gleichung weist nur darauf hin, dass es sich um eine Zeit handelt, in der null Energie im Universum verwendet war.«

»Richtig. Und seitdem hat die verwendete Energie zugenommen, sie ist immer weiter gewachsen. Zeit mit einem Wert null bedeutet also: Es war der Beginn der Zeit, was auch immer man davon halten mag. Vorher kann es keine Zeit gegeben haben.«

»Ja. Darauf deutet die Gleichung hin, auch wenn ich nicht ganz sicher bin, welche Schlüsse sich daraus ziehen lassen.«

»Das Verstreichen von Zeit verbraucht Energie. Ich sage nicht, dass es unmöglich ist. Man hat weitaus Erstaunlicheres entdeckt. Ich meine nur, dass es unwahrscheinlich klingt. Aber angenommen, es stimmt. Dann könnten wir den aktuellen Wert von t berechnen, wenn wir wüssten, wie viel Energie verbraucht worden ist. Wir könnten das genaue Alter des Universums bestimmen.«

»Daran habe ich nie gedacht. Die Menge der verbrauchten Energie kennen wir natürlich nicht.«

»Nein, aber wir könnten die maximale Energiemenge berechnen, die jemals für den ›Verbrauch‹ zur Verfügung gestanden hat. Stellen Sie sich ein Universum vor, das zu Anfang mit Materie vollgepackt war. Stellen Sie es sich als einen massiven Block vor.«

»In Ordnung.«

»Sagen wir, der Block besteht aus … Oh, ich weiß nicht. Woraus könnte er bestehen?«

»Aus Nickel, zum Beispiel. Die Kerne von Planeten scheinen aus Nickel zu bestehen.«

»Also gut, Nickel. Wenn das ganze Universum reines Nickel wäre, hätte es das maximale denkbare Energiepotenzial. Berechnen Sie, wie viel Energie das bei einer Umwandlung der gesamten Materie wäre. Wie auch immer die Antwort lauten mag, es ist zweifellos mehr Energie, als es jemals im Universum gegeben hat.«

»Na schön.« Loren ging auf Chans Logik ein. »Das spezifische Gewicht von Nickel ist 9. Ein Kubikzentimeter Nickel wiegt neun Gramm, mehr oder weniger. Das ist die Masse. Nach der Gleichung E = m c2 ergäbe sich daraus ein Energieäquivalent von …« Loren rechnete. »Es wäre immens.«

»Ja. Nehmen wir jetzt an, dass seit Zeit gleich null so viel Energie in jedem Kubikzentimeter des Universums verbraucht worden ist. Daraus ergibt sich das Maximalalter des Universums.« Chan hatte noch immer keinen zweiten Blick auf die Gleichungen geworfen. Vielleicht war das gar nicht erforderlich, vermutete Loren inzwischen. Er sah erneut auf sie hinab und löste die Gleichungen mit dem gegenwärtigen Wert von t auf.

»Das Ergebnis besteht aus etwas mehr als einer Billion Sekunden.«

»Richtig. Das Universum kann also nicht älter sein als eine Billion Sekunden. Mal sehen. Das Jahr hat pi mal zehn mal eine Million Sekunden. Wir teilen eine Billion durch diese Zahl und daraus ergibt sich: Sie haben gerade herausgefunden, dass das Universum nicht älter als dreißigtausend Jahre sein kann. Gute Arbeit. Nobelpreisverdächtig.«

»Aber wir sind von einer absurden Annahme ausgegangen. Wenn das Universum zu Anfang nicht mit Materie vollgepackt war …«

»Dann haben Sie bewiesen, dass es noch jünger ist. Wenn die maximale Dichte des Universums den heutigen Werten ähnelt, kann es nach Ihrer Gleichung nur einige Minuten alt sein.«

»Was zum Teufel bedeutet das?«

»Es bedeutet, dass Ihre Gleichung falsch ist. Rechnen Sie noch einmal alles durch.«

Loren war völlig perplex. Er suchte nach einem Fehler in Chans Logik, aber es gab keinen. Die Gleichung war tatsächlich falsch. Sie war die ganze Zeit falsch gewesen. Er musste noch einmal von vorn beginnen. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«

Dr. Chan nahm den Hobel und strich damit vorsichtig über die rechte Seite des Bugs. »Sie fangen natürlich dort an, wo Sie sind. Bei Ihren sechs Gleichungen. Dass sie nicht ganz stimmen, bedeutete nicht, dass sie völlig falsch sind.«

Loren blieb skeptisch. »Ich könnte den Rest meines Lebens damit beschäftigt sein.«

Chan hobelte eine Zeitlang und schließlich sagte er: »Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen. Vielleicht hilft sie. Es geht dabei um einen Physiker namens Planck.«

»Max Planck.«

»Ja. Als Physiker wissen Sie natürlich über Planck Bescheid. Ich möchte Ihnen erzählen, wie der Mann als Mathematiker eingeschätzt wird, was wir Mathematiker von ihm denken. Planck war ein hervorragender Physiker, aber als Mathematiker taugte er nicht viel.«

»Tatsächlich nicht?«

»Nein. Als Mathematiker war er eine Art Gauner. Damals, im Jahr 1899, beschäftigte er sich mit der Frage, warum Metall glüht, wenn es erhitzt wird. Alle waren der Meinung, dass es glühen sollte, aber eher blau und nicht rot. Die Newton’sche Physik sagte voraus, dass ein auf tausenddreihundert Grad erhitztes Kupferstück blaues Licht abstrahlen sollte. Doch bei entsprechenden Experimenten glühte es immer rot. Es zeigte ein hübsches Kirschrot. Die damaligen Wissenschaftler wussten nicht, was sie davon halten sollten. Alle anderen Physiker fragten sich: Was im Innern des Metalls bewirkt ein solches Verhalten, ohne dass Newtons Gesetz infrage gestellt wird? Planck hingegen stellte eine ganz andere Frage. Sie lautete: Wie muss ich Newtons Gleichung verändern, damit sie ein rotes Glühen voraussagt? Er schrieb die Gleichung nieder, fügte die Frequenz des roten Glühens hinzu und bastelte dann daran herum, damit sich die gewünschte Lösung ergab. Die leichteste Veränderung, die ihm einfiel, bestand darin, die Energie in kleine unsichtbare Pakete aufzuteilen, die ›Münzen der Energie‹. Auf der Grundlage dieser neuen Theorie untersuchte er noch einmal die rote Färbung des Glühens, um herauszufinden, wie groß die betreffende Münze sein musste.«

»Plancks Wirkungsquantum.«

»Genau. Er hatte nicht einen klaren Beweis für die Existenz einer Münze der Energie und auch keinen konkreten Grund, bei ihr von einer bestimmten Größe auszugehen. Er nahm die Gleichung und arbeitete sich rückwärts durch sie, damit sie aufging. In der wissenschaftlichen Welt, insbesondere bei den Mathematikern, herrschte natürlich Empörung. Niemand hielt etwas von der Art und Weise, wie er zu seinen Ergebnissen gelangt war. Mit einer Ausnahme. Ein Mann nahm das Ergebnis trotz allem ernst.«

»Einstein.«

»Ja. In seiner zweiten Abhandlung von 1905 griff Einstein auf Plancks Münze der Energie und den Wert der von Planck errechneten Konstante zurück, um zu zeigen, was in der Brown’schen Bewegung geschah. Planck hatte eine wichtige Wahrheit entdeckt. Seine Methode mag nicht unbedingt sauber gewesen sein, aber er fand die Wahrheit heraus. Und deshalb gilt Planck, der schlechte Mathematiker, heute als hervorragender Physiker.«

»Was bedeutet das für mich?«

»Versuchen Sie, ein bisschen an den Gleichungen zu basteln, mein Freund. Finden Sie den zweiten stabilen Wert …«

»Ich habe es versucht!«

»Sie haben dort danach Ausschau gehalten, wo Sie ihn erwartet haben. Suchen Sie dort, wo er ist.« Chan bedachte ihn mit einem für Kinder und dumme Tiere reservierten Blick.

»Oh, ich verstehe. Sie meinen ein empirisches Experiment. Ich verändere immer wieder die Energie des Strahls, bis ich einen stabilen Wert finde.«

»Genau. Und wenn Sie den stabilen Wert gefunden haben, fügen Sie ihn der Gleichung hinzu und biegen sie so lange zurecht, bis alles aufgeht.«

»Das wird ziemlich lange dauern. Der zweite stabile Wert könnte sich überall befinden.«

»Dann versuchen Sie es mit einem zweiten Trick. Stellen Sie sich vor, Sie hätten das empirische Experiment bereits durchgeführt und herausgefunden, dass der Wert nicht 0,00013 beträgt, sondern zum Beispiel 0,000022. Reden Sie es sich ein. Überzeugen Sie sich davon, dass 0,000022 der empirisch beobachtete Wert ist. Geben Sie ihn in die Gleichung ein und finden Sie heraus, wie er sich auswirkt und welche Veränderungen Sie vornehmen müssen.«

»Das ist kein Trick, sondern Schwindel. Der tatsächliche Wert wird mit ziemlicher Sicherheit nicht 0,000022 sein. Also kann ich mit der Erklärung dafür, warum er genau diese Größe haben sollte, überhaupt nichts anfangen.«

»Die Erklärung wäre ungenau, aber alles andere als nutzlos. Sie müssen die Werte einiger Korrekturfaktoren verändern, aber nicht das Konzept.«

»Ich verstehe.« Loren zuckte die Schultern. Viel Arbeit stand ihm bevor und es bedeutete, dass er wertvolle Zeit von seiner wichtigsten Aufgabe abzweigen musste, von den Vorbereitungen auf den zweiten Angriff des Feinds. Er bezweifelte, dass er Gelegenheit fand, den Vorschlag in die Tat umzusetzen. »Danke für den Rat, Dr. Chan. Ich gehe jetzt und denke darüber nach.«

»Ah, mein lieber Freund, Dr. Martine. Das ist das Rezept für ein fünfjähriges Projekt. Gehen Sie nicht. Nehmen Sie hier Platz und geben Sie den Wert 0,000022 ein. Basteln Sie an der Gleichung. Ich helfe Ihnen, während ich gleichzeitig den Bug glätte. Zusammen lösen wir das Problem bis zum Abendessen.«

Loren nickte. Er setzte sich, mit dem Rücken zum Überwasserschiff der Columbia, nahm ein Stück Holz und benutzte es als Schreibunterlage. Dr. Chan reichte ihm einen Stift. Loren drehte die Seite aus dem Protokollbuch und schrieb die dritte Gleichung mit einem Wert für T-prime-zwei von 0,000022. Dann lehnte sich zurück und dachte darüber nach, was es bedeuten könnte. Es war kein fünfjähriges Projekt. Es war nicht einmal ein Fünf-Minuten-Projekt. Nach nur neunzig Sekunden sah er auf. »Man könnte dies mit dem gleichen Kunstgriff erklären, den auch Planck benutzt hat.«

»Aha.«

»Wenn wir uns die Zeit in kleinen Paketen vorstellen, wie die Energie aufgeteilt in kleine Münzen, so hängt der Wert von T-prime-zwei von der Größe einer solchen Münze ab.«

»Aha.«

»Ich schätze, deshalb haben Sie mir die Geschichte erzählt.«

»Vielleicht.«

»Aber das ist doch absurd. Münzen der Zeit … Ich habe kein Recht, über so etwas zu spekulieren. Ich habe keine Theorie, keine Erklärung, keinen Grund zu glauben, dass mehr dahintersteckt als reine Spekulation.«

»Aus Ihnen wird nie ein guter mathematischer Gauner. Sie sind zu prinzipientreu.«

»Und der Wert kann ohnehin nicht 0,000022 betragen. Er muss viel kleiner sein. Wenn ich mir jetzt noch einmal die erste Gleichung ansehe, sollte ich imstande sein, Ihnen die genaue Größe der Münze zu nennen. Einen Moment …« Loren starrte auf das, was er gerade geschrieben hatte, und versuchte, eine klare Vorstellung von den Konsequenzen zu gewinnen. »Dies ist verblüffend, Peter. Sehen Sie sich das an!«

Loren sprang auf und wäre fast über das Geländer des Gerüsts gefallen. Dr. Chan hielt ihn am T-Shirt fest und verhinderte einen Sturz in die Tiefe. »Dies ist atemberaubend, Peter. Ein Trick – Schwindel – brachte uns zur Idee einer Quantenzeit, aber jetzt kann ich Ihnen beweisen, dass es tatsächlich so sein muss. Ich kann es beweisen! Es stellt sich nicht mehr die Frage, ob es eventuelle ›Münzen der Zeit‹ gibt. Sie existieren wirklich.« Er hob den Blick von der Seite, die er noch immer in den Händen hielt. »Ich kann es nur noch nicht glauben.«

»Warum sollten Sie es nicht glauben können? Es gibt Münzen der Materie, der Energie, des Lichts und der Gravitation. Weshalb sollte es bei der Zeit anders sein? Warum sollte sich allein die Zeit unendlich teilen lassen können?«

Loren sah erneut auf die veränderte Gleichung hinab und nach einem Moment lächelte er. Vor einem knappen Jahr wäre er von der Entdeckung hingerissen gewesen, von ihren Auswirkungen auf die Universität und die Welt der Physik. Er hätte vielleicht auch an den guten Ruf gedacht, den er damit erwarb. Jetzt spielte nichts von dem eine Rolle. Jetzt dachte er nur daran, dass er mit dieser Entdeckung in der Lage war, den perfekten Kiel zu bauen.