13
Den Hals
retten
Von ihrem Zimmer im Four Seasons Hotel in Georgetown riefen Homer und Albert das State Department an. Alberts Plan bestand darin, dem Außenminister eine Nachricht zu übermitteln, die ihn zu einem Rückruf veranlasste. Dann wollte er mit ihm ein Treffen im Weißen Haus vereinbaren. Der Minister konnte ihnen Zugang zum Präsidenten verschaffen. Der beste Weg, ihm eine Nachricht zukommen zu lassen, erklärte Albert, führte über Tracy Laxalt, eine junge Frau, die sich im State Department um den Bereich Karibik kümmerte. Da man seine Stimme vermutlich erkannt hätte, hielt Albert es für besser, wenn Homer den Anruf übernahm.
»State Department, Telefonzentrale. Guten Morgen.«
»Ja, guten Morgen. Ms. Laxalt bitte, die Sekretärin des Staatssekretärs für karibische Angelegenheiten.«
»Ja, Sir.« Es klickte.
»State Department, Telefonzentrale. Guten Morgen.«
»Äh, ja. Ich … guten Morgen. Ms. Laxalt bitte.«
»Ja, Sir.« Klick, klick.
»Hallo?«
»Ms. Laxalt?«
»Nein, hier ist die Telefonzentrale. Habe ich nicht gerade mit Ihnen gesprochen?«
»Ich denke schon. Ich versuche, Ms. Laxalt zu erreichen.«
»Wahrscheinlich hat sie gerade viel zu tun. Man kann wohl kaum von ihr erwarten, dass sie selbst an ihr Telefon geht. Ich verbinde sie mit ihrer Sekretärin.«
»Oh, danke.«
Klick. Klick.
»Hier Anschluss Miss Laxalt.«
»Ja, ich würde gern mit Miss Laxalt sprechen.«
»Tut mir leid, Sir. Miss Laxalt ist derzeit nicht an ihrem Platz. Hier spricht ihre Sekretärin.«
»Sie sind die Sekretärin der Sekretärin des Staatssekretärs?«
»Ja, Sir.«
»Wann kann ich Miss Laxalt erreichen? Es geht um eine wichtige Angelegenheit.«
»Sie ist nicht an ihrem Platz. Das sagen wir, wenn jemand nicht an seinem Platz ist. Damit wir nicht sagen müssen, ob jemand gerade zur Toilette gegangen ist oder so. Ich glaube, sie nimmt an einer Besprechung teil. Oder was auch immer. Ja, ich glaube, sie ist in einer Besprechung, aber ganz sicher bin ich mir nicht. Es finden ständig irgendwelche Besprechungen statt und deshalb kann man davon ausgehen …«
»Könnten Sie ihr etwas ausrichten? Kann sie zurückrufen?«
»… Es finden so viele Besprechungen statt, dass sie vermutlich an der einen oder anderen teilnimmt, das gehört zu ihren Pflichten. Ich meine, es ist Teil der Arbeit. Aber ja, ich kann Ihnen etwas ausrichten. Mal sehen, ob ich hier eine Nachricht für Sie habe.«
»Nein, ich möchte Ihnen eine Nachricht für Miss Laxalt geben.«
»Und sie ruft zurück, ja. Meistens. Ich meine, wenn sie längere Zeit weg ist, meldet sie sich meistens bei mir. Wenn sie zurückruft, könnte ich sie fragen, ob sie irgendwelche Mitteilungen für Sie hat.«
»Ich möchte bei Ihnen eine Nachricht für Miss Laxalt hinterlassen und sie bitten – damit meine ich Miss Laxalt –, mich anzurufen. Die Nachricht lautet: Homer Layton im Four Seasons Hotel. 524-6900. Layton. Es ist dringend.«
»Oh, ich nehme jetzt Ihre Mitteilung entgegen und gebe sie weiter, wenn Miss Laxalt anruft. Bestimmt ruft sie an, früher oder später. Ich schreibe Ihre Nachricht auf diesen kleinen Block …«
»Layton. 524-6900, Zimmer 228.«
»Ich schreibe es auf einen rosaroten Merkzettel.«
»Danke.«
»Schon aufgeschrieben. Und die Nachricht ist für …?«
»Miss Laxalt.«
»Oh, natürlich. Nun, ich richte es ihr aus, wenn sie wiederkommt. Und wenn sie anruft …«
»Danke.«
»Wenn sie anruft, lese ich ihr den Zettel vor.«
»Danke.«
»Und dann wird sie Sie anrufen.«
»Danke.«
»Wahrscheinlich morgen. Oder Freitag. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Sir.«
*
Senator Hopkins hatte das Konferenzzimmer »Flamingo« für seine Zukunftsplanung gemietet. Sechzehn Personen fanden sich dort ein, unter ihnen Sonia, Edward, Maria und Loren. Die vier genannten Personen waren allerdings nur körperlich anwesend. Sie hatten fast die ganze Nacht damit verbracht, Homers Listen durchzugehen und die darin genannten Aufgaben zu verteilen, Dinge, die erledigt werden mussten, wenn er das Zeichen gab. Kelly und Claymore hielten sich im Wohnzimmer der Suite bereit, für den Fall, dass Homer anrief. Claymore hatte Modellierton mitgebracht und formte daraus ein Abbild von Kellys Kopf und Schultern. Er ging ganz in seiner Arbeit auf, schien mit sich und der Welt zufrieden zu sein. Kelly hingegen wirkte recht angespannt, was sich auch auf ihre Darstellung in Ton übertrug. Sie sah sich die Morgennachrichten im Fernsehen an und wollte den anderen sofort Bescheid geben, wenn sich etwas tat.
Loren nahm am Konferenztisch Platz. Dass sie hier waren, gehörte zu Homers Plan. Der Schein musste gewahrt bleiben. Diesem Teil des Plans kam ebenso große Bedeutung zu wie den anderen. Senator Hopkins und die übrigen Versammlungsteilnehmer sollten nicht erfahren, was sich anbahnte. Wahrscheinlich ging alles vorbei, ohne dass irgendetwas passierte, und dann hätten sie ziemlich dumm dagestanden, wenn durch ihre Schuld etwas bekannt geworden wäre. Loren nickte dem Senator und Professor Porter zu, die einzigen ihm bekannten Personen vom Rest der Gruppe. Er gab sich normal und versuchte sich daran zu erinnern, was normal war. Sei normal, normal, normal.
Vor ihm lag ein Hefter mit Unterlagen, ebenso wie vor allen anderen. Loren öffnete ihn, fand eine Tagesordnung und einige Positionspapiere. In einem davon ging es um Lehrpläne und Studiengebühren bis zum Jahr 2099. Unter dem Hefter fand Loren einen gelben Block und schrieb drei Dinge auf, die ihm im Lift eingefallen waren. Homers Notfallplan sah offenbar eine Art Expedition vor. Es war die Rede von Proviant für zweihundert Personen, aber Loren hatte keine Ahnung, wer diese zweihundert sein sollten. Wenn sie sich mit so vielen Leuten auf den Weg machten, mussten auch noch andere Dinge berücksichtigt werden. Er begann damit, eine Liste von Erste-Hilfe-Vorräten zusammenzustellen. Oder hatte Homer bereits daran gedacht? Egal, Loren wusste besser, was nützlich sein konnte.
Am oberen Ende des Tischs legte Chandler eine Kunstpause ein. Es war eine ziemlich lange Pause. Er mochte es, wenn ihn die Blicke der Zuhörer fast anflehten weiterzusprechen. Ted Pinkham, Proctor der Universität, und Rektor Lawrence Bill hingen ihm praktisch an den Lippen, stellte er fest. Das waren wirklich zwei engagierte und loyale Gefolgsleute! Im Lauf des letzten Jahres hatte er ein wahrhaft beeindruckendes Team für Cornell zusammengestellt, obwohl noch der eine oder andere Zauderer aussortiert werden musste. Und die kleine Arbeitsgruppe, die er an diesem Morgen hier versammelt hatte, wäre zweifellos für jede Universität eine Ehre gewesen. Er musterte die Mitglieder seines Brain-Trusts. Sehr bedauerlich, dass sich Layton entschuldigt hatte, aber wenigstens waren seine drei Assistenten da, bereit dazu, für ihn zu arbeiten. Chandler vermutete, dass sie mehr als die Hälfte der reinen Denkkraft in diesem Raum repräsentierten. Er sah Dr. Duryea an, die links von ihm saß und die ganze Zeit auf ihrem Block schrieb. Wahrscheinlich notierte sie Ideen, die ihr bei der Lektüre von Tagesordnung und Positionspapieren im Hefter gekommen waren. Barodin und Martine schrieben ebenfalls. Dekan Sawyer blickte ins Leere, nein, auch sie notierte etwas auf ihrem Block. Chandler gratulierte sich selbst. Seine Leute steckten so voller Eifer, dass sie bereits mit der Arbeit begonnen hatten. Es wurde Zeit, dass er sich einschaltete und klare Führung zeigte.
»Ähm. Guten Morgen, meine Damen und Herren. Wie ich sehe, können wir beginnen. Lassen Sie mich mit einer Frage anfangen. Sie lautet: Was ist wichtig?« Chandler blickte am Tisch entlang und gab seinen Zuhörern Gelegenheit, darüber nachzudenken. »Damit meine ich: Was bringt eine Universität – oder menschliche Anstrengungen irgendeiner Art – zu echter Größe? Doktor Barodin, vielleicht könnten wir mit Ihnen beginnen.«
»Wie bitte?«
»Was ist wichtig? Was sind die mit wahrer Größe einhergehenden Eigenschaften?«
»Ich habe keine blasse Ahnung.«
»Äh. Genau. Wir wissen nicht, welche Eigenschaften damit einhergehen, nicht wahr? Deshalb haben wir uns hier eingefunden und diesen ›Brain-Trust‹ gebildet, wie ich ihn nennen möchte, um dieser Frage auf den Grund zu gehen und völlig neue Antworten zu finden, die uns den Weg durchs ganze Jahrhundert weisen.« Chandlers Blick kehrte zu Barodin zurück, der wieder über seinen Block gebeugt war und schrieb. Er wandte sich an Sonia. »Dr. Duryea, woraus könnten diese Eigenschaften Ihrer Meinung nach bestehen?«
»Eigenschaften?«
»Ja. Wie sind sie beschaffen?«
Sonia hatte überlegt, einer von Homers Listen mehrere Dutzend Rucksäcke hinzuzufügen; er schien nicht daran gedacht zu haben, wie sie all die zu kaufenden Dinge tragen sollten. Chandler wartete auf ihre Antwort und Sonia versuchte, sich auf seine Frage zu konzentrieren. »Äh … Wie sehen die Eigenschaften aus? Die Eigenschaften von … Ich meine, die wichtigsten Eigenschaften.« Ihr fiel nichts ein. »Nun, das ist eine gute Frage.«
»In der Tat. Aber wenn Sie eine der Eigenschaften nennen müssten, Dr. Duryea, damit die Diskussion beginnen kann, wie würde sie lauten? Was ist das Wichtigste für uns, damit wir Größe erreichen?«
»Äh … Überleben?«
»Ja. Das ist zweifellos notwendig. Aber lassen Sie uns etwas positiver sein und nicht nur ans Überleben denken. Was sind die wichtigsten Eigenschaften, die in direktem Zusammenhang mit Größe stehen? Nun? Ich bitte Sie … wer bricht das Eis? Die wichtigste Eigenschaft ist …? Rektor Brill?«
»Exzellenz, Herr Präsident.«
»Aha. Exzellenz. Und hier beginnen wir. Dekanin Sawyer, darf ich Sie bitten, Notizen anzufertigen? Schreiben Sie ›Exzellenz‹ als ersten Punkt auf die Eigenschaftenliste. Nun, Rektor Brill, gehen wir von diesem Punkt aus. Bitte nennen Sie uns die Maßnahmen, die Ihrer Ansicht nach nötig sind, um Exzellenz zu erreichen.«
Brill schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Die anderen sahen ihn an. Die Nummer Zwei in der Universitätshierarchie war nur etwas mehr als eins fünfzig groß. Maria Sawyer fiel es schwer, einen würdevollen Gesichtsausdruck zu wahren. Wenn Lawrence Brill stand, spürte sie das fast unwiderstehliche Verlangen, »Bitte stehen Sie auf!« zu rufen. Das war gemein. Reiß dich zusammen, Maria. Der Mann kann nichts dafür, dass er so klein ist. Er kann auch nichts dafür, ein schmieriger Speichellecker zu sein. Nur Rektor Brill nannte Senator Hopkins »Herr Präsident«. Vielleicht war er deshalb Rektor geworden.
»Exzellenz«, wiederholte Brill und sprach mit tieferer Stimme. »Unser Präsident hat mit einer Frage begonnen und ich möchte seinem Beispiel folgen. Wo könnte ein kritischer Mangel an Exzellenz zu einer ernsten Gefahr für unsere geliebte Universität werden?«
Es war eine rhetorische Frage. Brill hatte eine Antwort und wollte sie den anderen präsentieren, aber Senator Hopkins kam ihm zuvor. »In der Fakultät.«
»Genau. Ganz genau!« Brill schien sich über den Einwurf des Senators zu freuen, obwohl seine eigene Antwort ganz anders beschaffen gewesen war. Er hatte darauf hinweisen wollen, dass die Gefahr bei den Studenten lag. Aber zum Teufel auch. Er war anpassungsfähig. »In der Fakultät. Dort müssen wir unsere Aufmerksamkeit konzentrieren. Danke dafür, Chandler.«
»Gern geschehen.«
Brill fuhr aus dem Stegreif fort: »Unserer Fakultät mangelt es an Exzellenz, Anwesende natürlich ausgenommen. Und was müssen wir unternehmen, um Exzellenz in der Fakultät zu gewährleisten?«
»Mehr Geld«, sagte Professor Porter. »Viel mehr Geld für Gehälter. Viel, viel mehr Geld.«
»Hm. Das ist ein Vorschlag. Natürlich nicht der einzige, aber ein Vorschlag.« Er wirkte verwirrt. »Äh, Herr Präsident?«
Senator Hopkins ergriff wieder das Wort. Er trug eine ernste Miene – den Anfang der Diskussion hatte er sich etwas anders vorgestellt. Er richtete einen strafenden Blick auf Porter, ohne dass es zu offensichtlich wurde, wie er hoffte. »Ja, das war ein Vorschlag, in gewisser Weise. Und bestimmt hören wir noch andere.« Er dachte an Porters Namen. In seinen Gedanken und Notizen verband er die Fachbereichsleiter immer mit ihren jeweiligen Zuständigkeiten. Porter war also »Englisch«, der große Bursche neben ihm »Naturwissenschaft« und die Frau auf der anderen Seite »Ökonomie«. Natürlich hatten sie alle auch Namen, aber es war eine zu große Mühe, sie im Gedächtnis zu behalten. Zum Glück hatte Candace Notizen für ihn geschrieben, aus denen hervorging, welche Namen zu welchen Fachbereichen gehörten. Das Problem war nur, dass er es verabscheute, die Lesebrille zu tragen, wenn er zu den anderen sprach, und ohne die Brille konnte er die Hinweise nicht lesen. Im Senat genügte es, vom »ehrenwerten Herrn aus Louisiana« zu sprechen, ohne den Namen nennen zu müssen – ein viel besseres System.
»Der ehrenwerte Herr vom Fachbereich Englisch hat mehr Geld vorgeschlagen. Ich habe keinen Zweifel daran, nicht den geringsten Zweifel, dass es in Zukunft mehr Geld für die Fakultätsmitglieder geben wird. Daher können wir diesen Punkt abhaken, denke ich. Aber was derzeit wichtiger ist, meiner Meinung nach, sind die Schritte, die wir unternehmen müssen, um eine wahre Vorstellung von Professionalität zu vermitteln.«
»Professionalität ist das richtige Wort, genau das richtige Wort, Herr Präsident«, sagte Rektor Brill.
»Ja, das denke ich auch.«
»Die hier Versammelten sind natürlich ausnahmslos Profis«, fuhr Brill fort, »und eigentlich möchten wir nur, dass auch die anderen echte Profis werden. Anstatt dauernd rumzujammern und mit Protestkomitees und dergleichen Ärger zu machen. Das ist kein Professionalismus.«
»Wie wahr«, pflichtete ihm Proctor Pinkham bei. »Mit Studenten zu demonstrieren und Protestlieder zu singen, das ist nicht professionell. Es ist auch nicht ethisch oder moralisch und sollte nicht einmal erlaubt sein. Von Professionalität keine Spur.«
»In der Tat.« Chandler hatte kurz die Brille aufgesetzt, um einen schnellen Blick auf Candaces Notizen zu werfen. »Und das passt gut zu Professor Potters Forderung nach mehr Geld …«
»Porter.«
»Ja. Wie Sie vorhin gesagt haben, äh, William …«
»Walter.«
»Ja. Wachsende Professionalität bedeutet auch, dass früher oder später mehr Geld fließt, um sie zu belohnen, und natürlich auch die sie begleitende Exzellenz. Und wenn ich hier von mehr Geld spreche, so meine ich die kommenden Jahrzehnte.«
»Mehr Geld für das nächste Semester, das wäre gut und nötig. Eine ordentliche Erhöhung. Sonst werden uns zwei geschätzte Kollegen verlassen. Und Claudia hier hat ein ähnliches Problem.« Englisch zeigte auf Ökonomie. »Im Fachbereich Wissenschaft ist die Lage kaum anders.«
Chandler stürzte sich auf das Wort. »Die Wissenschaft! Bei diesem Treffen ist die Wissenschaft zum Glück gut vertreten, und zwar in Gestalt von Dr. Laytons drei Assistenten.« Er wandte sich an Loren. »Wir haben noch nichts von Ihnen gehört, Dr. Martine.«
»Hm?«
»Oder haben wir das?«
»Sie haben was?«
»Haben wir schon etwas von Ihnen gehört?«
»Von mir? Was?«
»Was Sie zu sagen haben. Ich glaube, wir haben noch nichts von Ihnen gehört.«
»Kein Wunder. Ich habe noch gar nichts gesagt.«
»Ich würde gern Ihre Meinung darüber hören, wie wir im Lauf des einundzwanzigsten Jahrhunderts ein höheres Maß an Professionalität in unserem wissenschaftlichen Fachbereich sicherstellen könnten.«
»Im einundzwanzigsten Jahrhundert.«
»Ja.«
»Nun … Was kann ich über das einundzwanzigste Jahrhundert sagen? Irgendetwas sollte mir einfallen.«
»Wären Sie nicht bereit, Rektor Brill zuzustimmen, insofern dass mehr Professionalität nötig ist, um unsere wissenschaftliche Arbeit zu motivieren und zu inspirieren? Ich denke hier nicht nur an die Zukunft einer einzelnen Universität, sondern an die ganze amerikanische Kultur. Meiner Ansicht nach gibt es derzeit nichts Wichtigeres, als die bereits erwähnte wahre Vorstellung von wahrer Professionalität zu vermitteln, finden Sie nicht auch?«
»Äh, ja. Wie Sie meinen.«
»Wahre Professionalität bedeutet, dass das Individuum der Institution dient, zum Wohle aller. Um dieses Thema geht es hier und heute, Dr. Martine. Wie man am besten die Bereitschaft schafft zu dienen.«
»Dienen?«
»Ja. Wie können wir die besten Forscher zu uns holen und dazu bringen, dass sie unserer Universität dienen und mit uns allen Exzellenz anstreben? Was meinen Sie?«
»Ich denke, dies wäre ein guter Zeitpunkt für eine Kaffeepause.«
Chandler sah ihn verständnislos an. »Wir haben doch gerade erst begonnen. Eine Tasse Kaffee steht direkt vor Ihnen.«
Loren blickte auf die dampfende Tasse Kaffee hinab. »Oh.«
Maria hatte die Augen geschlossen und den Kopf gesenkt. Sonia öffnete den Hefter und sah sich die Tagesordnung an. Die dort genannten Themen sollten von 9 bis 12.30 Uhr besprochen werden, und dann folgte ein Arbeitsessen. Sie sah auf die Wanduhr hinter Chandler, die 9.09 Uhr anzeigte.
*
Im Wohnzimmer der Suite sprang Kelly von ihrem Stuhl vor dem Schreibtisch auf, wo sie Adressen aus dem Telefonbuch notiert hatte – sie stellte eine Liste von Geschäften zusammen, wo sie alle notwendigen Dinge kaufen konnten. Sie trat zum Fernseher und hörte sich besorgt eine Meldung an, die am Ende der internationalen Nachrichten von CNN kam. Rasch schrieb sie eine kurze Mitteilung in Blockschrift und eilte zur Tür.
»Bitte pass auf Curtis auf, Claymore, damit er nichts kaputtmacht. Ich bin gleich wieder da.«
»In Ordnung, Kelly.«
»Und achte auf das Telefon. Du weißt schon.«
»In Ordnung, Kelly.«
Claymore war noch immer mit dem Modellierton beschäftigt und versuchte, ihn zu einem Abbild von Kelly zu formen. Als sie gegangen war, betrachtete er das bisherige Ergebnis seiner Bemühungen. Das Haar schien heute dichter an ihrem Kopf zu sein, als es sonst der Fall war. Vielleicht hatte sie keine Gelegenheit gefunden, es zu waschen. Clay veränderte das Erinnerungsbild vor seinem inneren Auge so, dass es Kelly mit dem sonst für sie typischen flauschigen sauberen Haar zeigte. Dann ersetzte er ihr T-Shirt mit der weißen Bluse, die sie manchmal trug, die mit dem hohen Kragen. Er bemühte sich, die Anspannung aus Stirn und Mundwinkeln zu entfernen, wobei er ein bisschen experimentieren musste, denn er wusste noch nicht genau, wie sich Anspannung auf das menschliche Gesicht auswirkte. Anschließend formte er die Lippen zu dem kleinen Lächeln, das fast immer auf ihnen lag, abgesehen von den letzten Tagen. Ja, viel besser. Claymore beugte sich vor, um die Änderungen am mentalen Bild auf das in Ton zu übertragen.
Kelly eilte durch den Flur zu den Aufzügen. Fast am Ende des langen Korridors befand sich ein Salon, der Gästen der VIP-Etage Tee, Kaffee, Obst und Gebäck anbot. Als sie an der Tür vorbeikam, hörte sie das leise Summen eines Druckers. Sie drehte sich um, folgte dem Geräusch und erreichte ein kleines Arbeitszimmer hinter dem Gästesalon. Nicht nur ein Drucker stand dort für die Gäste bereit, sondern auch ein Kopierer. Kelly fertigte einige Fotokopien an, kehrte in die Suite zurück und beauftragte Curtis, die Kopien den anderen im Flamingo-Konferenzzimmer zu bringen.
*
Am Tor vor dem Blair House zeigte Albert Tomkis seinen Ausweis und der Wächter winkte das Taxi durch. Vielleicht war der Minister hier. Albert hoffte, ihn zwischen den Besprechungen abzufangen und ihn davon zu überzeugen, dass ein Gespräch mit dem Präsidenten nötig war, um Unheil zu verhindern. Wenn er tatsächlich im Blair House war, konnten sie über die Pennsylvania Avenue gehen und das Oval Office in wenigen Minuten erreichen. Als sie sich dem Eingang näherten, lächelte Albert und deutete auf eine lange graue Limousine mit dem Nummernschild STATE-1.
Homer stieg aus dem Taxi, während Albert den Fahrer bezahlte. Er zögerte vor der Treppe und kam sich komisch vor wegen des fehlenden rechten Schuhs. Er schickte sich an, erst mit dem Außenminister und dann auch mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten zu reden, um eine Aktion zu verhindern, die den Weltuntergang bedeuten konnte, und dabei trug er nur einen Schuh.
Er versteifte sich, als ein attraktiver junger Mann in dunklem Anzug und mit Krawatte auf ihn zutrat. »Dr. Layton … Sie sind in guten Händen, Sir. Ich arbeite für Mr. Tomkis.« Homer nahm die Worte mit einem erleichterten Seufzen entgegen. »Der Minister wartet drinnen auf Sie.«
»Oh, gut. Also hat Tracy Laxalt ihn wohl erreicht.« Homer ließ sich von dem jungen Mann ins Gebäude führen. »Das stimmt doch, oder? Wie hat der Minister erfahren, dass wir kommen?«
»Es ist, wie Sie vermuten. Er hat die Nachricht erhalten, von Mr. Laxalt.«
»Gut«, sagte Homer. Dann stutzte er. »Mr.?«
»Hier entlang, Sir.«
»Moment.« Homer drehte den Kopf und hielt nach Albert Ausschau, aber er war nirgends zu sehen. Das Taxi rollte über die Zufahrt, mit mehreren Personen darin.
Der junge Mann ergriff Homers Arm und zog ihn mit sich. Auf der anderen Seite erschien ein weiterer Mann und nahm den linken Arm. Homer hob den Blick, sah blondes Haar, missmutig starrende blaue Augen und einen Verband an der Nase.
»Oh, oh.«
*
So leise wie möglich öffnete Curtis die Tür des Flamingo-Raums und schlich auf Zehenspitzen hinein. Er hielt den Kopf gesenkt, weil er glaubte, dadurch unauffälliger zu wirken. Ein dicklicher alter Mann mit weißem Haar und rötlichen Augenbrauen schwang am oberen Ende des Tischs eine Rede. Curtis ging auf leisen Sohlen zu Sonia und fühlte dabei mehrere Blicke auf sich ruhen. Er richtete sich ganz auf, wölbte die Hand an ihrem Ohr und flüsterte: »Hallo, Sonia.« Sie zerzauste ihm das Haar. Er gab ihr eine der Fotokopien, die er von Kelly erhalten hatte, und Sonia schob sie in den Hefter, ohne einen Blick darauf zu werfen. Chandler sah sie direkt an.
»Nur eine Mitteilung von Kelly. Über …« Für einen Moment fiel ihr nichts ein. »Über … Vorbereitungen. Aber Sie sagten gerade, Senator …?«
»Ich habe gerade gesagt, dass das Programm ›Großartige Bücher‹ genau die richtige Maßnahme sein könnte, um in der amerikanischen Bildung das Blatt zu wenden und die allgemeine Aufmerksamkeit auf, nun, großartige Bücher zu richten.«
»Ja«, erwiderte Sonia und versuchte, überzeugt zu wirken. Sie brannte darauf, sich die Nachricht anzusehen, die Curtis gerade gebracht hatte, aber Senator Hopkins schien beschlossen zu haben, diesen Teil seiner Präsentation explizit an sie zu richten.
»Ich frage mich, warum wir nicht schon eher daran gedacht haben. Können Sie sich vorstellen, welche Auswirkungen es hätte, wenn jeder Studienanfänger verpflichtet wäre, zum Beispiel Leben und Meinungen des Herrn Tristram Shandy zu lesen? Stellen Sie sich das vor!«
»Ja, ich stelle es mir vor.« Sonia nickte ernst.
Curtis hatte inzwischen Loren erreicht, flüsterte ihm »Hallo, Loren« zu und gab ihm ebenfalls eine Kopie. Loren legte sich das Blatt auf den Schoß und las die großgeschriebenen Worte:
PINAR DEL RIO, KUBA: 8.40 UHR. LOKALE RADIONACHRICHTEN BERICHTEN VON CHEMIE-/GASUNFALL ÖSTLICH VON PINAR. MÖGLICHE OPFER. KEINE EINZELHEITEN. RADIO HAVANNA SCHWEIGT SEIT 5.00 UHR. URSACHE FÜR GASUNFALL UNBEKANNT.
Senator Hopkins spürte, wie die Aufmerksamkeit der Anwesenden nachließ. Barodin und Dekanin Sawyer starrten mit großen Augen den kleinen Jungen an, der sich ihnen näherte. Und Dr. Martine las einen Zettel auf seinem Schoß. Die anderen am Tisch fragten sich, was los war. Chandler hatte über viele Jahre hinweg Erfahrungen als Lehrer gesammelt und wusste, wie man wieder die Aufmerksamkeit auf sich zog. Er schob seinen Stuhl zurück, stand auf, beugte sich vor und sah den Männern und Frauen in die Augen. Er dachte dabei an Jimmy Stewart in Mr. Smith geht nach Washington. Oder vielleicht stammte die Szene aus Anatomie eines Mordes. Jedenfalls war es Jimmy Stewart auf diese Weise gelungen, die volle Aufmerksamkeit vieler Leute an einem Tisch zu bekommen.
»Großartige Bücher!«, sagte er, hob dabei die Stimme und klopfte auf den Tisch, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Darauf kommt es an.« Er richtete den Blick auf Loren. »Großartige Bücher, angefangen mit Leben und Meinungen des Herrn Tristram Shandy. Glauben Sie nicht, dass wir damit die gewünschte Wirkung erzielen, Dr. Martine?«
Loren sah den Senator mit offenem Mund an. »Und welche Wirkung wollen wir erzielen?«
»Es geht um nichts weniger als die Heilung einer nationalen Krankheit.« Chandler deutete durchs Zimmer, als stünde es für das ganze Land. Es war eine Geste voller Dramatik, die sein Publikum fesseln sollte. »Lassen Sie mich betonen, dass ich dies nicht für eine Nebensache halte. Wir reden hier von der Krankheit, die die Jugend unserer großen Nation zerrüttet hat und sie von Größe abhält. Diese Krankheit zu erkennen und auszumerzen, Amerika wieder auf den richtigen Weg zu bringen … Das steht an erster Stelle. Deshalb sind wir heute hier. Wir haben uns heute Morgen an diesem Ort versammelt, weil wir versuchen wollen, unserer ganzen Kultur den Hals zu retten.« Bei den letzten Worten sah er Sonia an.
»Oh, den Hals retten«, sagte sie. »Ja, ich schätze, da ist Leben und Meinungen des Herrn Tristram Shandy ein guter Anfang.«
Eigentlich hatte sie Leben und Meinungen des Herrn Tristram Shandy gar nicht gelesen. Niemand im Flamingo-Raum kannte das Buch, nicht einmal Chandler. Er hatte es als ein Beispiel für großartige Bücher genannt, die niemand las (ohne zuzugeben, dass er es selbst nicht gelesen hatte), was zur nationalen Krankheit beitrug, die er so beklagte. Allerdings war es ein bisschen unangenehm, jetzt über ein Buch zu reden, bei dem er nicht wusste, wovon es handelte und das in einem vergessenen Jahrhundert geschrieben war, von einem Autor, an dessen Namen er sich nicht erinnerte. Chandler beschloss, das Thema zu wechseln.
»Oder wir könnten den Studienanfängern Verfall und Untergang des römischen Reiches von Gibbon zu lesen geben. Genau das richtige Mittel gegen den nationalen Bildungsnotstand. Es ist wie geschaffen dafür.« Er hatte Verfall und Untergang als Student an der Hill School gelesen, weil das Buch dort zur Pflichtlektüre gehört hatte. Zufrieden erinnerte er sich daran, dass es todlangweilig gewesen war. »Welches Buch nehmen wir, Dekanin Sawyer, Verfall und Untergang oder Tristram Shandy?«
»Wie wäre es mit Das verlorene Paradies von Milton und anschließend Child Harolds Pilgerfahrt von Lord Byron?«, sagte Maria. »Danach könnten sich die Studenten die Odyssee vornehmen, und zwar im griechischen Original. Erst dann würde ich ihnen die Lektüre von Verfall und Untergang nahelegen, weil sie sonst überhaupt nichts davon verstünden.«
Chandler beobachtete sie und suchte in ihrem Gesicht nach Hinweisen darauf, dass sie sich über ihn lustig machte. Aber sie las den Zettel, den ihr der kleine Junge gebracht hatte.
*
Zwei Türen führten aus dem üppig eingerichteten Salon von Blair House, beide verschlossen. Homer war eingesperrt. Seit einer halben Stunde starrte er kummervoll aus dem Fenster. Draußen führte ein breiter Sims am Fenster vorbei und um die Ecke des Hauses, wer weiß wohin. Er fragte sich, ob er aus dem Fenster klettern und Leib und Leben bei einem Fluchtversuch riskieren sollte. Schließlich entschied er sich dagegen, weil es sehr dumm gewesen wäre. Er litt an Höhenangst und fürchtete, ins Rosenbeet weiter unten zu fallen und dort von den Wächtern »gerettet« zu werden. Zweifellos würden sie ihn in diesen Raum zurückbringen und dann hatte er nichts weiter erreicht, als sich einen Haufen Dornen einzufangen. Außerdem stand ein Bewaffneter unten auf dem Rasen. Beim ersten Blick aus dem Fenster hatte ihm der Mann zugewinkt.
Er hörte Schritte im Flur und einen Moment später wurde die Tür von einer jungen Frau in Hosenanzug geöffnet. Sie wich zur Seite und ließ Rupert Paule eintreten. Nachdem sie seinen kleinen Aktenkoffer neben den Sessel gestellt hatte, in dem Paule Platz nahm, ging sie wieder hinaus. Homer fragte sich, welche Sicherheitseinstufung attraktive Frauen bekamen, die Türen öffneten und die Aktentaschen von Präsidentenberatern trugen.
In Hinsicht auf das bevorstehende Gespräch gab er sich keinen Illusionen hin. Paule würde sich alles anhören und ihn nicht zum Präsidenten lassen. Er würde ihn mit dem Rat wegschicken, das Regieren den Profis zu überlassen. Und mit den Profis waren Leute wie Rupert Paule gemeint.
Homer hielt ein Seufzen zurück. Wie auch immer die Situation beschaffen war, er musste irgendwie das Beste daraus machen. »Hallo, Rupe.«
»Dr. Layton … Es ist mir wie immer eine Ehre.«
»Oh, gleichfalls. Gleichfalls.«
»Wie ich hörte, haben Sie Geheimagent gespielt.«
»Eigentlich nicht. Eine kleine Geschäftsreise, sozusagen. Geplant war ein Arbeitsbesuch beim Präsidenten. Es ist sehr wichtig, dass ich mit ihm rede, und es dauert nur ein paar Minuten. Er will sich bestimmt anhören, was ich ihm zu sagen habe.«
»Er hört es bereits. Was Sie mir sagen, sagen Sie praktisch ins Ohr des Präsidenten.«
»Oh, da bin ich sicher. Sie ahnen gar nicht, wie sicher ich da bin. Allerdings möchte ich dieses eine Mal selbst mit ihm reden.«
»Leider macht er gerade sein Nickerchen. Er leidet noch am Jetlag, wegen der Reise nach Europa.«
»Ich glaube, unter diesen besonderen Umständen ist es angebracht, ihn zu wecken. Er könnte dabei helfen, einen Atomkrieg zu verhindern.«
Paule lehnte sich in seinem Sessel zurück und schmunzelte. Er schlug die Beine übereinander. Homer fühlte sich an eine literarische Figur erinnert und schließlich fiel sie ihm ein: Ichabod Crane. Die langen, dünnen Handgelenke ragten fast fünfzehn Zentimeter weit aus den Ärmeln der glänzenden schwarzen Anzugjacke. Auch die Fußknöchel waren zu sehen, ein ganzes Stück weit über den schwarzen Socken. Das Gesicht hatte etwas Raubvogelartiges und passte zusammen mit dem kurzen Haar und dem seitlich weit zurückliegenden Haaransatz ebenfalls zu Homers Vorstellungen von Ichabod Crane. Doch Crane hätte verängstigt wirken sollen und Paule schien nur gelangweilt zu sein. Er gähnte und wartete darauf, dass Homer sprach. Homer wartete ebenfalls und nahm mit einer gewissen Genugtuung zur Kenntnis, dass der schwarze Anzug aussah, als hätte Paule darin geschlafen. Dadurch fühlte Homer weniger Verlegenheit darüber, nur einen Schuh zu tragen.
»Es ist gut und schön, Konflikte zu vermeiden«, sagte Paule schließlich. »Solange man nicht davon besessen ist.«
»Oh, ich bin davon besessen. Was halten Sie davon, wenn wir beide über die Straße zum Weißen Haus gehen und dem Präsidenten erzählen, was in Kuba geschehen wird, wenn der Wind wechselt?«
Der dürre Mann schmunzelte erneut. »Der Wind hat bereits gewechselt, Dr. Layton.«
Homer stöhnte innerlich.
»Unsere Meteo-Leute hielten es für möglich, dass der falsche Wind vier Tage anhält«, fuhr Paule fort. »Aber das war nicht der Fall. Er wechselte genau zum richtigen Zeitpunkt. Als hätte ihn jemand für uns gedreht.« Es klang nicht überrascht. »Wir haben Freunde an hohen Orten.«
»Sie haben es also getan«, sagte Homer. »Die Insel ist tot. Zum größten Teil.«
»Sie ist befreit. Ja. Mehr als die Hälfte von Kuba ist zum ersten Mal seit vielen Jahren frei von Kommunisten.«
»Frei von Leben.«
»Frei von menschlichem Leben. In der Fabrik wurde ein ausgesprochen selektives Produkt hergestellt.« Ein Produkt. Es klang nach Zahnpasta oder etwas in der Art. »Das Rezept hatten die Kubaner von den Russen. Auf Tiere wirkt sich das Gas nicht aus. Wahrscheinlich starb nicht eine einzige Kuh. Wie gesagt, selektiv.«
»Womit sie meinen, dass Tausende oder gar Millionen von Menschen starben. Sind Sie jetzt unter die Massenmörder gegangen?«
»Wir kämpfen mit harten Bandagen. Die Kubaner mussten mit so etwas rechnen. Sie sind selbst schuld. Wir haben uns durch und durch verantwortungsvoll verhalten und nehmen nur zurück, was uns gehört.«
»Und der Guantánamo-Stützpunkt?«
»Ein bedauerlicher Verlust. Einige hohe Offiziere haben wir abgezogen; die anderen starben den Heldentod. Es ließ sich nicht vermeiden. Eine Massenevakuierung hätte unsere Pläne verraten.«
»Hat es irgendwelche Mitteilungen von gewissen Terroristengruppen gegeben?«
»Nur eine gereizte kleine Mitteilung, die uns heute Morgen erreichte. Die Gruppe, auf die Sie ansprechen, weist unsere Version der Ereignisse zurück. Sie geht sogar so weit, einen Vergeltungsschlag anzudrohen.«
»St. Louis.«
Das überraschte Paule. »Woher, zum Teufel, wissen Sie das?«
»Hab nur richtig geraten. Ich nehme an, Gloria Verde hat angekündigt, St. Louis mit einer mittelgroßen Rakete von der Landkarte zu pusten. Heute Abend oder morgen. Wir sollen die Zeit, die uns noch bleibt, für eine Evakuierung nutzen.«
»Ich habe keine blasse Ahnung, woher Sie das wissen, aber darauf läuft es hinaus, ja. Natürlich evakuieren wir nicht. Es ist nicht nötig.«
»Na ja, das Leben einiger Millionen Amerikaner fällt wohl nicht sehr ins Gewicht.«
»Nicht ein einziges Leben geht verloren, Dr. Layton. Wir haben geheime Waffen.«
»O ja. Revelation-13.«
»Meine Güte, Sie haben Ihre Quellen, wie? Aber ja, da Sie es schon erwähnen: Revelation-13 ist eine unserer Geheimwaffen. Sie wird die lächerliche Rakete abschießen, bevor sie St. Louis erreicht. Falls sie es überhaupt wagen, eine Rakete abzufeuern. Sie wären gut beraten, darauf zu verzichten und den erlittenen Verlust einfach hinzunehmen. Denn wenn sie St. Louis angreifen, wird Revelation-13 die Stadt schützen und anschließend wären wir gezwungen, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Natürlich sehr ungern.«
»Wenn der Raketenschild hält, greifen Sie Havanna an.«
»Sehr ungern, wie schon gesagt. Und wenn wir schon einmal dabei sind … Über weitere Ziele wird derzeit diskutiert. Nichts Unverdientes dabei, möchte ich betonen.«
»Und wenn der Schild nicht hält?«
»Oh, er wird halten, Dr. Layton. Das versichere ich Ihnen. Wir haben einige Wochen sehr intensiver Arbeit in Revelation-13 investiert.«
»Wochen? Es würde Jahre dauern, das Programm fertigzustellen.«
»Nicht mit dem Team aus Software-Spezialisten, das wir unter der Leitung von Dr. Armitage zusammengestellt haben. Ein Dutzend Leute, die Besten der Besten. Ihre Produktivität ist mindestens zehnmal so groß wie die des besten anderen Softwareteams auf der Erde.«
»Oh, gut zu wissen. Allerdings müssten sie ein paar Tausend Mal so produktiv sein, um so viel Arbeit in so kurzer Zeit zu schaffen.«
Paule richtete einen verdrießlichen Blick auf Homer. »Vielleicht sind unsere Spezialisten tatsächlich ein paar Tausend Mal produktiver gewesen, zumindest während der vergangenen Wochen.«
»Ausgezeichnet. So gut müssten sie auch sein, um fünfzig Millionen Zeilen Code zu schreiben.«
»Man kann Erstaunliches leisten, wenn man unter Druck steht.«
»Ja, wie zum Beispiel zehntausend Wörter pro Sekunde schreiben. So schnell müssen Ihre Programmierer gewesen sein, um das Programm zu vervollständigen.«
»Sie sehen das alles zu negativ, Dr. Layton. Wir alle wissen, dass nur kleine Teile eines Computerprogramms aktiv sind, wenn es läuft. Der Rest besteht aus Code für Situationen, die sich vielleicht nie ergeben. Unsere Leute schreiben nur die Teile des Programms, die wirklich benötigt werden.«
»Ich bewundere Sie für Ihre weise Voraussicht.«
»Der Schild wird halten, glauben Sie mir.«
»Und wenn nicht?«
»Er wird halten.«
Homer hatte die ganze Zeit gestanden. Sein rechter Fuß, der ohne Schuh, war eingeschlafen. Er setzte sich, um ihn zu entlasten. Dann schüttelte er den Kopf. »Rupert, Rupert, denken Sie nur daran, was Sie zu verlieren haben. Sie sind ein junger Mann. Ich bin alt; ich habe nichts zu verlieren. Ein schneller Tod ist dem vorzuziehen, was das Schicksal vielleicht für mich bereithält. Ich bin siebenundsiebzig. Alte Leute wie ich haben keine Illusionen. Eine Bombe könnte besser für mich sein als das Warten auf was weiß ich, Herzkrebs oder letale Hodenstriktur. Für Sie sieht die Sache anders auf. Sie haben sogar Kinder, glaube ich.«
Paule nickte und sah vor dem inneren Auge drei vage kleine Gesichter. Er war seit Wochen nicht mehr zu Hause gewesen. »Ich tue dies für sie, Homer. Für alle amerikanischen Kinder.«
»Für alle amerikanischen Kinder sollten Sie an die Möglichkeit denken, dass der Raketenabwehrschild nicht funktioniert.«
Paule zuckte die Schultern. »Nehmen wir das Schlimmste an, wenn Sie darauf bestehen. Das Schlimmste ist: Sechs unserer Städte werden vernichtet. Ein schrecklicher Schlag gegen uns, aber nicht tödlich. Unsere industrielle Kapazität bleibt intakt. Ebenso unsere Landwirtschaft. Aber denken Sie an unsere Feinde. Die ganze Welt wird volles Verständnis zeigen, wenn wir mit gerechtem Zorn all jene auslöschen, die uns immer ein Dorn im Auge waren. Gleichzeitig beweisen wir damit unsere Bereitschaft, strategische Waffen einzusetzen, wann immer wir es für nötig halten. Die Öffentlichkeit wird der Meinung sein, dass wir schwer angeschlagen sind, aber ist das wirklich der Fall?«
»Um Himmels willen, ein Achtel der Bevölkerung wird tot sein!«
»Ja, aber welches Achtel?«
Homer starrte ihn verständnislos an. Paule winkte ab. »Sechs große Städte. Der größte Teil der städtischen Bevölkerung ausgelöscht. Mehr als fünfzig Prozent aller Schwarzen im Land existieren nicht mehr und das ist ein Verlust, ja. Doch denken Sie mal an die Auswirkungen für unsere Sozialhilfe. In einem Tag streichen wir mehr Leute von den Listen der Sozialhilfeempfänger als je eine Regierung vor uns.« Paule lächelte. »Oh, ich glaube, die Nation wird immer noch auf den Beinen sein. Mit der Zeit wird sich herausstellen, dass die Vernichtung von sechs Städten kein tödlicher Schlag war, sondern eine Art … Läuterung.«
»Jesus. Ich kann nicht glauben, was ich da von Ihnen höre. Ich kann nicht glauben, dass Sie die Zerstörung von St. Louis einkalkulieren und …«
»Wenn der Raketenschild nicht hält, schlagen wir trotzdem zu. Dann wird die ganze Sache nur etwas schmutziger.«
»Oh, das macht es einfacher. Sie schlagen in jedem Fall los, ob der Schild hält oder nicht. Dann müssen Sie nicht einmal das Ergebnis abwarten. Warum sich mit der Frage quälen, ob es besser gewesen wäre, St. Louis zu evakuieren? Sie können Ihre Raketen sofort starten, sobald Sie wissen, dass eine zu uns unterwegs ist.« Die Logik war korrekt, aber Homer bedauerte sofort, die Worte ausgesprochen zu haben.
»Hm. Vielleicht haben Sie recht. Ich muss mit Hodge darüber reden. Und natürlich mit dem Präsidenten. Nun, Dr. Layton …« Paule stand auf. »So angenehm diese kleine Plauderei auch ist … Ich muss mich wieder um den Laden kümmern, wie Ihnen klar sein dürfte. Seien Sie gewiss, dass ich Ihre Bedenken dem Präsidenten vortragen werde, und der wird sich alles sehr sorgfältig durch den Kopf gehen lassen. Sehr sorgfältig. Übrigens … Soweit ich weiß, sprechen Sie heute Abend in der Akademie der Künste und Wissenschaften in Fort Lauderdale. Auch ich habe gute Quellen.«
Homer nickte; ihm schienen die Worte zu fehlen.
»Ich rate Ihnen also, den Delta-Flug heute Mittag nach Fort Lauderdale zu nehmen«, fuhr Paule fort. »Kurze Zeit später müssen wir den Reagan Airport schließen. Der Delta-Flug ist der letzte nach Florida. Ich habe mir erlaubt, zwei Plätze für Sie zu buchen.«
Homer unternahm noch einen letzten Versuch. »Der Präsident sollte in Erwägung ziehen, den Schlag gegen St. Louis hinzunehmen. Evakuieren Sie die Stadt und finden Sie sich mit ihrer Zerstörung ab. Schlagen Sie nicht zurück. Es ist kein schlechter Tausch. St. Louis gegen Kuba. Ein Springer gegen einen Läufer. Sagen Sie ihm, dass er es dabei belassen soll. Mit weiteren Risiken würde er zu viel aufs Spiel setzen.«
»Ich richte es ihm aus.« Paule deutete zur Tür. »Machen Sie sich jetzt besser auf den Weg, Dr. Layton. Ihnen bleibt nicht viel Zeit.« Paule streckte die Hand nach dem Telefon aus, als Homer aufstand. Bei der Tür angelangt blickte Homer noch einmal zurück zur Gestalt von Ichabod Crane, nun übers Telefon gebeugt. Vielleicht rief Paule die junge Frau, damit sie kam und wieder den Aktenkoffer für ihn trug.