21
Ein
Schachspiel
»Loren …« Kelly schritt über den Kai, gefolgt von einem kleinen, lächelnden Chinesen. »Ich möchte dir Peter Chan vorstellen.«
Loren stand auf und streckte die Hand aus. Er erinnerte sich an den Namen Dr. Chan auf der Hauptliste, die Stacey zusammenstellte, aber bisher war er ihm noch nicht begegnet. Er hoffte, dass der Mann eine nützliche Spezialisierung vorzuweisen hatte, zum Beispiel innere Medizin oder Pädiatrie.
»Dr. Martine, es ist mir eine Ehre. Ich habe Ihren Artikel gelesen: ›Eine Diskrete Algebra der Partikel-Wechselwirkung.‹«
»Tatsächlich?«
Kelly trat Loren auf den Fuß. »Wir können von Glück sagen, dass Dr. Chan von Princeton am Dinner von Homers Preisverleihung zugegen war. Er kam den ganzen weiten Weg von Princeton. Princeton.« Der Druck auf Lorens Fuß nahm zu.
»Oh. Dr. Peter Chan von Princeton. Sir, es ist mir eine doppelte Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen. Natürlich kenne ich Ihre Arbeit. In Cornell haben wir Ihre Lehrbücher benutzt. Die mathematische Fakultät hat damit Studenten der Wissenschaft auf Differentialrechnung und Prädikatenlogik vorbereitet.«
Das schien den kleinen Mann zu freuen. Als er lächelte, verschwanden seine Augen fast zwischen den Falten. »Gut für die Tantiemen«, sagte er. »Falls ich jemals Tantiemen bekomme. Sehr gut.« Er schüttelte Lorens Hand. »Wir müssen irgendwann einmal über Diskrete Algebra sprechen. Das wäre schön. Eines Tages. Nicht heute. Sie sind sehr beschäftigt. Das sehe ich.«
»Ja. Wir bereiten drei Boote vor, die nach Guantánamo segeln sollen. Jetzt, da wir elektrischen Strom haben, möchten wir Radar auf den Höhen installieren, um eine Angriffsflotte rechtzeitig zu erkennen. Es wird eine kommen, wissen Sie.« Loren wies bei jeder sich bietenden Gelegenheit darauf hin, wie wichtig Wachsamkeit war.
»O ja. Damit müssen wir rechnen. Ich habe die Wahrscheinlichkeit berechnet. Sie ist sehr hoch.«
»Das Radar auf dem Tafelberg El Yunque stammt von einer der Jachten und so weit oben arbeitet es nicht sehr zuverlässig. Wir hoffen, in dem Militärstützpunkt leistungsfähigere Radargeräte zu finden.«
»Ja. Ja, ich verstehe. Sie müssen sich Ihrer wichtigen Arbeit widmen. Ihrer sehr wichtigen Arbeit. Denn herrlich abstrakte Gedanken über Mathematik kann man nur denken, wenn man nicht von bösen Leuten mit Pfeil und Bogen bedroht wird.« Dr. Peter Chan schüttelte Loren ein drittes Mal die Hand. »Ich muss jetzt zurück. Auch ich nehme an den Verteidigungsbemühungen teil. Unter Anleitung von Mr. D.D. Pease baue ich eine Armbrust. Es wird nicht lange dauern, bis wir eine für jedes Schiff haben.«
Kelly sah ihm nach, als er fortging. »Er ist ein lieber Kerl.«
»Und ein ausgezeichneter Mathematiker. Aber in gewisser Weise ist es schade. Als ich erfuhr, dass sich unter den Akademie-Leuten ein weiterer Doktor befindet, hatte ich mir einen Arzt erhofft. Ich frage mich, wie viele Leute auf dieser Insel in der Lage sind, einen Blinddarm zu entfernen. Wenn ich mir vorstelle, dass der berühmte Peter Chan Armbrüste baut …« Loren schüttelte den Kopf.
»Ja. Ich dachte, wir könnten ihn vielleicht zum Commodore ernennen.«
»Zum Commodore?«
»Ja. Für die Expedition nach Guantánamo.«
»Warum benötigen wir dabei einen Commodore? Wir brauchen vor allem starke Rücken, um demontiertes Gerät auf die Boote zu tragen.«
»Ich denke, ihr braucht einen tüchtigen Commodore, jemanden, den die chinesischen Seeleute respektieren, die am Ufer auf euch warten werden, wenn ihr in die Bucht segelt.«
»Wieso glaubst du …«
»Fast fünf Prozent der amerikanischen Bevölkerung sind Chinesen, woraus folgt: Fast fünf Prozent der Menschen im Stützpunkt sind Chinesen, auf die das Nervengas aus irgendeinem Grund nicht wirkt. Wir dürfen also damit rechnen, dass etwa dreißig chinesische Seeleute unsere Expedition begrüßen werden.«
»Dreißig. Meine Güte, daran habe ich nicht gedacht.«
»Sie könnten eine wertvolle Erweiterung unserer Gemeinschaft sein, Loren. Sie sind jung und gesund und kennen sich mit genau den Dingen aus, von denen wir kaum etwas wissen: Kampf, Logistik, Segeln, Navigation und die Ausrüstung von Booten und Schiffen.«
»Aber sie sind der Feind. Sie stehen auf der anderen Seite.«
»Niemand kann ein Feind sein, ohne es zu wollen. Diese Seeleute werden ganz aus dem Häuschen sein, wenn sie erfahren, was im Mai geschehen ist. Ihre eigene Regierung hat entschieden, sie zusammen mit allen ihren Kameraden zu opfern. Sie haben nur überlebt, weil ihre Gene ein wenig anders sind. Wenn es uns gelingt, ihnen das begreiflich zu machen, haben wir sie auf unserer Seite.«
»Gut gebrauchen könnten wir sie zweifellos. Du liegst wie immer genau richtig, Kelly. Wir bitten Dr. Chan, als Commodore an der Expedition teilzunehmen. Dass er Chinese ist, dürfte von Vorteil sein. Und er ist ein liebenswerter Kerl, wie du gesagt hast. Er wird die anderen Chinesen für uns gewinnen, noch bevor wir mit den Erklärungen begonnen haben. Könntest du mit ihm reden?«
Kelly nickte.
»Sag ihm, was er sagen soll«, fügte Loren hinzu. »Ich rede mit den anderen, damit sie wissen, dass Peter Chan die Leitung bekommt. Und warum.«
»Gut. Jetzt möchte ich, dass du dir dies ansiehst.« Kelly nahm ein zusammengefaltetes Kleidungsstück aus ihrem Beutel, einen hellblauen Trainingsanzug mit silbernen Seidenstreifen an den Seiten. »Wir haben sie auf dem Dachboden des Sportzentrums gefunden. Hunderte, in allen Größen. Hübsch, nicht wahr? Vielleicht waren sie für die Olympiamannschaften bestimmt, die während des Sommers hier trainierten. Fühl den Stoff.«
Loren berührte weiche Baumwolle. »Du denkst an Uniformen.«
»Ja. Ein schick gekleidetes Expeditionskorps macht bestimmt einen besseren Eindruck auf die Seeleute von Guantánamo. Und ich denke nicht nur daran. Wenn wir kämpfen müssen, wann auch immer das passiert … Dann sollten wir uns wie eine Kampfgruppe fühlen. Uniformen helfen dabei.«
»Du hast recht, Kelly, gute Idee.« Loren sah auf seine Liste der Besatzungsmitglieder für die drei Segelboote. »Ich schicke sie alle zum Sportzentrum.« Kelly hatte immer recht. Er kam sich langsam überflüssig vor.
»Ich werde dort sein. Wir legen die Trainingsanzüge nach Größen sortiert bereit.«
*
»Ich verstehe nicht, warum wir all die Mühe aufwenden müssen, um unsere Funkgeräte zu verändern«, nörgelte Proctor Pinkham. »Es ist doch alles in Ordnung damit. Wir können damit den Kontakt unter den Booten halten. Warum lassen wir sie nicht einfach, wie sie sind?« Der Kern der Verteidigungsgruppe saß im Kreis auf dem Grasplatz des Schuldorfs.
»Wenn wir sie unverändert lassen und den Funk des Gegners stören, ist auch unser eigener gestört«, erklärte Edward geduldig.
»Ich verstehe nicht, warum wir den Funk der anderen stören sollten. Vielleicht ist es am besten, mit ihnen zu reden, sie zur Vernunft zu bringen. Dafür brauchen wir funktionierende Funkgeräte.«
»Sie kommen bestimmt nicht hierher, weil sie mit uns reden wollen, Ted.«
»Wenn sie überhaupt kommen.«
»Oh, sie kommen, sie kommen. Und wenn es so weit ist, müssen wir ihren Funkverkehr stören. Deshalb sollen unsere eigenen Funkgeräte mit Licht funktionieren. Wir verändern sie so, dass sie eine Stimme in Lichtsignale modulieren. Wir installieren Transceiver an den Mastspitzen. Auf diese Weise können wir auch bei gestörtem Funkverkehr in Verbindung bleiben.«
»Ich verstehe das alles nicht. Wie sollen Stimmen in Lichtsignale modelliert werden? Wie kann ich über etwas entscheiden, das ich nicht verstehe?«
»Moduliert.«
»Und ich will es nicht einmal verstehen. Versuchen Sie erst gar nicht, es mir zu erklären.«
»Sie müssen es nicht verstehen. Man muss nicht verstehen, wie ein Fernseher funktioniert, um sich ein Programm anzusehen.«
»Es gibt kein Fernsehen mehr!«, jammerte Pinkham. »Überhaupt kein Fernsehen. Ich habe einige Serien verfolgt und werde nie erfahren, wie sie ausgehen.«
»Das Stören des Funks ist Lorens Idee und ich halte sie für gut«, warf D.D.Pease ein. »Ohne eine Abstimmung per Funk können die Angreifer nicht koordiniert handeln. Das gibt uns einen Vorteil. Und es dürfte leicht sein, weil sich ein von der kubanischen Regierung eingerichteter Störsender in den Bergen befindet. Wir brauchen ihn nur in Betrieb zu nehmen, wenn der Kampf beginnt. Die Umrüstung unserer Funkgeräte ist keine große Sache. Dr. Barodin hat bereits zwei auf Lichtsignale umgestellt. Das eigentliche Problem besteht darin, die StratCom-Frequenzen zu stören. Zum Glück haben wir einen Transceiver, den wir auseinandernehmen können. Mr. Tomkis hat uns sein Gerät gegeben. Seine ID ist blockiert und deshalb hat er keinen Zugang mehr zu dem Netz. Aber die Schaltungen des Geräts geben uns einen Hinweis darauf, wie wir die StratCom-Sendungen stören können.«
»Warum machen wir uns überhaupt Gedanken über StratCom? Sie haben selbst gesagt, dass die Angreifer nur ein Gerät bei sich haben werden, das allein für die Kommunikation mit Amerika taugt. Und Amerika ist anderthalbtausend Kilometer entfernt.«
»Die Störung von StratCom gehört zum Plan«, erwiderte Pease. »Wegen des psychologischen Effekts. Wenn wir die Angreifer schlagen und ihnen erlauben, nach Hause zu melden, auf welche Weise wir den Sieg errangen … Dann kommen sie wieder, besser vorbereitet mit dem Wissen, wie wir sie beim ersten Mal geschlagen haben. Dann geht es immer so weiter. Aber wenn die Angreifer einfach spurlos verschwinden, ohne dass man in Amerika etwas von ihnen hört … Dann sieht die Sache anders aus. So etwas wirkt abschreckend und genau darauf zielt Lorens Plan ab.«
Proctor Pinkham war gereizt. All das Gerede über einen bevorstehenden Kampf ging ihm auf die Nerven. Seine Aufgabe bestand darin, bei Schülern und Studenten für Disziplin zu sorgen. Kriege zu führen, gehörte nicht in seinen Zuständigkeitsbereich. Was in seiner Erlebniswelt einem Krieg am nächsten kam, war eine Höschenjagd.* Während seiner Zeit in Cornell war es zu zahlreichen Höschenjagden gekommen und er hatte schließlich eine gute Strategie dagegen entwickelt, bei der es darauf ankam, den Studenten einen Schritt voraus zu sein. Als er jetzt über den bevorstehenden Angriff einer feindlichen Flotte nachdachte, kehrten seine Gedanken zu der alten Strategie zurück. Ein wichtiger Punkt hatte aus den Waffen der Campuspolizei bestanden und aus der Möglichkeit ihrer Anwendung.
»Warum können wir nicht eine Waffe erfinden, die die Angreifer abschreckt?«, fragte Pinkham. »Warum lassen sich all die Wissenschaftler nicht etwas einfallen? Wenn wir gute Waffen hätten und der Gegner nicht … Das würde alles ändern. Verstehen Sie? Wir könnten unsere Waffen heben und damit drohen und der Gegner würde es mit der Angst zu tun bekommen und die Flucht ergreifen.«
»Wir versuchen, etwas zu entwickeln«, sagte Edward. »Vielleicht erzielen wir einen Durchbruch, vielleicht auch nicht. Eine Sache, die wir in Erwägung ziehen, ist ein großer Reflektor, der das Sonnenlicht auf einen fernen Punkt konzentriert. Wir könnten ihn verwenden, um die Segel der Angreifer zu verbrennen.«
»Nicht schlecht, wenn die Sonne scheint«, sagte Mr. Pease. »Der Apparat ließe sich wohl kaum auf einem Segelboot montieren, da er recht groß wäre. Aber wir könnten ihn auf der Insel Little Inagua aufbauen, da wir wissen, dass die Angreifer von dort kommen.«
»Und woher wissen wir das?«, stöhnte Proctor Pinkham. »Ich weiß es nicht. Warum gehen alle davon aus, dass die Angreifer von Norden kommen und nicht an der Küste entlang segeln? Warum segeln sie nicht einfach von den Florida Keys hierher? Vielleicht suchen sie die Küste ab. Dann dauert es ein Jahr, bis sie hierherkommen. Ich glaube, dass sie so vorgehen. Wir haben ein Jahr Zeit und in einem Jahr können wir irgendeine Waffe erfinden und bauen.«
Loren schüttelte den Kopf. »Genau aus diesem Grund werden sie nicht die Küste absuchen: weil es ein Jahr dauert. So viel Zeit wollen sie sich nicht nehmen. In einem Jahr sind sie alle einem Schlaganfall erlegen. Sie werden also einen Plan verfolgen, der sich in wesentlich kürzerer Zeit realisieren lässt.« Die anderen nickten zustimmend, alle bis auf Proctor Pinkham.
»Sie werden hierher segeln, vermutlich mit Booten der Marineakademie«, fuhr Loren fort. »Sie werden sich von der Küste fernhalten und durch den Bahama Channel kommen, was sie an Litte Inagua vorbeibringt, wo sie sich nach Süden wenden werden, in Richtung der Windward-Passage. Dann beziehen sie Position im Süden und Osten der Insel. Weil ihr Plan darin besteht, erneut Gas einzusetzen. Eine Neuauflage der Sache im Mai. Sie wollen Kanister öffnen, den Wind ausnutzen und die Insel mit Gas angreifen. Sie wollen uns gar nicht finden. Sie wollen uns töten.«
Ted Pinkham schnitt eine Grimasse. »Das kann ich nicht glauben. Wie sollten sie dazu fähig sein? Sie würden nicht einfach Menschen umbringen, denen sie nie ins Gesicht gesehen haben. Das wäre nicht fair.« Fast verzweifelt sah er die anderen an. »Oder?«
»Wir haben alle dabei geholfen, Leichen aus Baracoa zu tragen«, sagte Mr. Pease nach einem Moment. »All die Toten … Niemand hat ihnen ins Gesicht gesehen.«
»Aber woher wollen wir wissen, dass sie so etwas planen? Wie können wir sicher sein?«
»Wir wissen es nicht mit absoluter Gewissheit«, räumte Loren ein. »Aber es ist sehr wahrscheinlich. Stellen Sie sich dies wie ein Schachspiel vor, Ted. Wir denken an die möglichen Züge unseres Gegners. Und dies ist einer, der aus seiner Sicht gesehen Sinn ergibt. Es ist ein guter Plan, aus seinem Blickwinkel. Er hat schon einmal funktioniert. Die Details sind ausgearbeitet. Besondere Vorbereitungen sind nicht erforderlich. Von Albert wissen wir, dass es im Aberdeen-Arsenal in Maryland einen Vorrat des Nervengases gibt, der in wenigen Tagen nach Annapolis transportiert werden kann. Von dort aus dauert es weniger als eine Woche, um die Positionen für den Einsatz des Gases zu erreichen.«
»Aber es würde ihnen doch gar nichts nützen, uns alle umzubringen. Die Effektoren bleiben aktiv, selbst wenn wir tot sind. Und sie sind gut versteckt.«
»Das wissen die Angreifer nicht.«
»Dann müssen wir es ihnen sagen. Wir könnten die Funkgeräte benutzen, um Kontakt mit ihnen aufzunehmen und ihnen mitzuteilen, dass ihnen das Gas überhaupt nichts nützt.«
»Sie würden sich irgendetwas anderes einfallen lassen.«
»Aber nicht das Gas. Wir hätten kein Nervengas mehr zu befürchten.«
»So ist das im Krieg, Ted. Die andere Seite setzt genau die Mittel ein, die einem am wenigsten gefallen.«
»Trotzdem«, sagte Edward. »Ted hat da nicht ganz unrecht. Wenn sie an uns vorbeikommen und die Windward-Passage erreichen, könnten wir uns mit ihnen in Verbindung setzen und versuchen, ihnen die Situation zu erklären. Vielleicht überlegen sie sich dann die Sache mit dem Gas.«
»Sie würden bestimmt nicht einfach umkehren«, sagte Van Hooten.
»Nein.«
»Das eigentliche Problem besteht darin, sie aufzuhalten«, sagte Loren. »Wir wissen, wie wir ihre Position feststellen und ihren Funkverkehr stören können. In dieser Hinsicht sind wir im Vorteil. Und wir haben den Wind auf unserer Seite. Aber früher oder später kommt es zum Kampf und wenn wir dabei mit unseren mittelalterlichen Waffen gegen ihre mittelalterlichen Waffen antreten müssen, droht uns eine Niederlage. Weil die Angreifer besser kämpfen können als wir. Wenn es nur um Pfeile, Schwerter und dergleichen geht, setzt sich der erfahrene, professionelle Kämpfer immer durch. Wir brauchen etwas, das uns in dieser Hinsicht eine gewisse Überlegenheit gibt.«
Geballte Denkkraft war zugegen: Barodin, Cardenas und seine beiden Assistenten, auch Loren selbst. Wenn es möglich war, eine wirkungsvolle Waffe für die Welt des Layton-Effekts zu erfinden, und in der wenigen Zeit, die ihnen noch blieb, so sollte diese Gruppe dazu imstande sein. Es war ein Gedanke, der zumindest ein wenig Trost spendete. Zwei der besten Köpfe auf der Insel, Homer und Sonia, hatten dieser Angelegenheit den Rücken gekehrt. Sonia wollte nichts mit den Verteidigungsbemühungen zu tun haben. Sie war in die Rolle der Beraterin und Lehrerin geschlüpft, unterrichtete Wissenschaft für die größeren Kinder. Was Homer betraf … Er war zu müde und zu entmutigt, um an dieser Runde teilzunehmen. Die fünf Wissenschaftler, die jetzt auf dem Grasplatz saßen: Ihnen musste es gelingen, eine neue Waffe zu entwickeln, zusammen mit der von Edward zusammengestellten Arbeitsgruppe. Wenn ihnen das nicht gelang … Dann blieb ihnen nichts anderes übrig, als mit Macheten und Pfeil und Bogen auf schwankenden Schiffsdecks um ihr Leben zu kämpfen. Loren schauderte, als er daran dachte.
*
Kelly und Curtis fanden ihn kurz vor Mittag in dem kleinen Kommandozentrum, das Proctor Pinkham unweit der Anlegestellen eingerichtet hatte.
»Zeit fürs Schwimmen«, sagte Kelly.
»Geht nicht, Kelly. Es gibt zu viel zu tun.«
»Immer nur Arbeit und kein Schwimmen macht Loren zu einem unglücklichen Jungen. Ich bin bei dir zu Hause gewesen und habe deine Badehose mitgebracht.« Kelly winkte damit. »Du kannst dich hinter den Sträuchern dort umziehen.« Sie ergriff seine Hand und zog. »Komm, Loren, du brauchst eine Pause.«
Er ließ sich zum Strand führen und dachte daran, dass er seit der Rückkehr von Punta Caleta nicht mehr gebadet hatte. Es fühlte sich gut an.
Nach dem Schwimmen saßen Loren und Kelly auf der Felszunge an der Seite des Strands und behielten Curtis im Auge, der im seichten Wasser spielte.
Kelly sprach Loren auf das einzige Thema an, das ihn derzeit interessierte. »Das ›Schachspiel‹, das dich die ganze Zeit beschäftigt, Loren … Ich glaube, es läuft auf eine geistige Simulation der Logik des Gegners hinaus.«
»Ja, das stimmt.«
»Du verhältst dich wie Simula-7.«
»Nenn mich Simula-8. Ein bisschen langsamer als die computerisierte Version.«
»Ja.« Kelly betrachtete einige kleine Muscheln an den Felsen. »Eine langsamere Simulation, mit weniger Verarbeitungskapazität.« Sie kratzte an einer der Muscheln, um zu sehen, ob sie sich vom Felsen löste. »Wäre mehr Kapazität nützlich?«
»Du meinst eine computerisierte Simulation? Oh, ich weiß nicht. Simula-7 wäre Overkill für unsere Situation. Und es hat sich viel verändert. Es würde eine Ewigkeit dauern, die neuen Parameter einzugeben.«
»Zweifellos. Vorausgesetzt, SHIELA ist noch einsatzbereit …« Kelly sprach nicht weiter und hielt den Blick auf die Muscheln gerichtet.
»Das sollte sie eigentlich. Sie bezieht ihre Energie aus Solarzellen, und die müssten noch immer funktionieren.« Loren war mit den Gedanken woanders. Eine gute Entscheidung des Proctors hatte darin bestanden, drei mit Radar ausgestattete Segelboote nach Norden und Osten zu schicken, damit eine Angriffsflotte frühzeitig entdeckt werden konnte. Loren musste einen Zeitplan entwickeln, der dafür sorgte, dass die Mannschaften regelmäßig ausgewechselt wurden. Sie konnten nur noch einige Tage draußen bleiben, bevor die Batterien gewechselt werden mussten. Die nächsten Boote, dachte Loren, sollten mit genug Ersatzbatterien für eine ganze Woche aufbrechen, aber eine Woche war vielleicht zu lang für die Besatzungen. Wie konnten sie wachsam bleiben?
»Und SHIELA befindet sich außerhalb des irdischen Magnetfelds«, fuhr Kelly fort. »Also auch außerhalb des Effekts. Stell es dir vor: ein 850 Petaflops starker Computer, der dort auf etwas wartet, das er berechnen kann.«
»Mhm.« Lorens Gedanken kehrten zu den drei Radarbooten zurück. Wie lange konnte eine Crew wachsam bleiben? Nichts war langweiliger, als Tag und Nacht auf einen Radarschirm zu starren. Vielleicht war Mr. Pease in der Lage, einen Detektor zu bauen, der ein akustisches Signal auslöste, wenn das Radar etwas erfasste.
»So viel Computerkapazität …«
»Ja.«
»Und sie liegt brach.«
»Mhm.« Wenn es für Pease zu viel war, konnte Edward vermutlich helfen. Niemand kam mit Elektronik besser klar als er. Aber Edward arbeitete schon an vielen anderen Dingen.
»Zuvor habe ich Computer immer rein akademisch betrachtet. Man benutzte sie, um die Kreiszahl Pi auf eine Milliarde Stellen hinter dem Komma zu berechnen, und andere dumme Dinge dieser Art.«
»Ja, dumme Dinge.«
»Aber dann stellte sich heraus, dass sie wesentlich mehr leisten konnten. Kluge Dinge.«
»Ja.«
»Das war eine Art Offenbarung für mich.« Kelly warf eine der Muscheln ins Wasser. »Eine echte … Offenbarung.«
Loren schwieg. Und plötzlich dachte er nicht mehr an die Radarboote, sondern an etwas, das Homer vor einigen Monaten »winziges Demo-Programm« genannt hatte. Offenbarung, Revelation. Revelation-13.
»Mein Gott, Kelly, wieso habe ich nicht längst daran gedacht? Wir können Revelation benutzen. Revelation-13. Wir können es benutzen, um uns zu verteidigen.«
»Können wir das?«, fragte sie erstaunt.
»Ja, natürlich.« Lorens Kopf war voller Details. »Das Programm steuert die Lasersatelliten. Wir richten den Mac-Laptop so her, dass er mit SHIELA kommunizieren kann, und lassen Revelation von einem Boot aus laufen. Wir fegen die angreifenden Schiffe vom Wasser. Beobachter auf weit voneinander entfernten Booten triangulieren ihre Positionen, wir übermitteln SHIELA die Koordinaten, und die Lasersatelliten schießen einen Ein-Sekunden-Strahl vom Himmel. Dürfte wie ein Blitz aussehen.« Loren war plötzlich auf den Beinen und tanzte fast vor Aufregung.
»Oh, Loren, das ist wundervoll. Ich fühle mich schon besser.«
»Ich muss sofort mit Edward reden. Es gibt jede Menge zu tun.« Er eilte über den Strand und ließ seine Kleidung liegen. Kelly faltete sie zusammen und legte sie in ihren Beutel, um sie Loren später zu bringen.
*
Loren schlief im am Strand gelegenen Kommandozentrum des Proctors und wurde von einem Mädchen geweckt, das zu Dan McCrees Gruppe gehörte und ein Kabel in der kleinen Hütte verlegte. Das ganze Schuldorf hatte inzwischen elektrischen Strom, der von dem Wasserkraftwerk stammte. Loren starrte das Mädchen an und versuchte, sich an seinen Namen zu erinnern. Auf dem Rücken des blauen Trainingsanzugs stand »McCrees Freiwillige« geschrieben. Schließlich fiel es ihm ein: Die junge Kabelverlegerin hieß »Chiqui« und war eine der beiden jungen Hispanos, die geholfen hatten, die Erste-Hilfe-Handbücher der Schule für alle anderen zu übersetzen. Sie nickte ihm zu, setzte dann ihre Arbeit fort. Es war noch sehr früh am Morgen; fast alle anderen schliefen noch.
Plötzlich knisterte es und eine Stimme kam aus dem Lautsprecher des Funkgeräts. »Hallo, Kommandozentrum. Hier ist El Yunque.«
Loren sprang zum Mikrofon.
»Hier Loren. Was gibt’s?«
»Wir haben einen Punkt auf dem Radar. Etwas kommt von Westen, dicht an der Küste entlang. Wir schätzen die Entfernung auf gut dreißig Kilometer. Was immer es auch ist, es scheint ziemlich schnell zu sein.«
»Wie viele Schiffe?«
»Woher zum Teufel soll ich das wissen? Ich sehe nur einen Punkt auf dem Schirm.«
Abgesehen von dem Mädchen war niemand da. Loren streckte die Hand nach ihrer Schulter aus. »Zieh dir Badesachen an, schnell. Ich möchte, dass du mit einem Windsurfer aufbrichst und die Küste hinunter segelst.«
»Kein Problem, Loren. Ich hab schon Badesachen an.« Chiqui zog den Trainingsanzug aus.
Loren entleerte seinen Rucksack, nahm einen Feldstecher und steckte ihn hinein. Er fügte ihm eins der lichtmodulierten, mit einer Richtantenne ausgestatteten Funkgeräte hinzu. In einer Schublade fand er zwei Müsliriegel und einen Apfel – das kam ebenfalls in den Rucksack.
»Komm her und sieh dir die Karte an, Chiqui. Wir sind hier. Ich möchte, dass du dich ein ganzes Stück von der Küste entfernst, bis du besseren Wind erreichst, und dann hier herunter segelst.« Loren deutete auf eine bestimmte Stelle der Karte. »Hier gibt es eine kleine Klippe, die über den Strand ragt und oben flach ist. Man kann sie leicht erklettern.«
»Da bin ich schon einmal gewesen«, sagte Chiqui. McCrees Jugendliche waren ganz wild aufs Windsurfen und nutzten praktisch jede Gelegenheit, allein oder in Gruppen an der Küste auf und ab zu segeln.
»Nimm einen von den anderen mit, wenn du sofort jemanden finden kannst. Segelt so schnell wie möglich, das ist wichtig. Versteckt die Windsurfer, wenn ihr die Klippe erreicht. Klettert hoch und beobachtet die Küste mit dem Feldstecher im Rucksack. Gebt per Funk Bescheid, wenn ihr jemanden kommen seht. Richtet die Antenne auf El Yunque.« Loren zeigte es ihr. »Sprich hier hinein und sag uns, was du siehst. Zähl die Schiffe und beschreib ihr Aussehen. Verlasst die Klippe nicht, bevor ich es euch sage. Lasst die Schiffe an euch vorbeisegeln und erstattet Bericht. Keine Sorge, sie können euch nicht hören. Aber passt auf, dass sie euch nicht sehen.«
»Verstanden, Loren. Ich nehme Kendra mit. Sie ist draußen.«
»Also los.« Loren drückte ihr den Rucksack in die Hände und gab ihr einen Klaps auf den Rücken. Dann kehrte er zum Funkgerät zurück. »Celestine, bitte kommen, Celestine, hier ist Loren am Strand.«
»Hier Celestine, Loren. Jared spricht.«
»Jared, etwas nähert sich von Westen an der Küste entlang.«
»Ich hab’s gehört.«
»Zwei Windsurfer sind unterwegs. Sie können mit vierzehn und mehr Knoten segeln und sollten die Klippen bei Maguana erreichen, bevor in Sicht gerät, was auch immer zu uns unterwegs ist. Bitte segeln Sie von Ihrer gegenwärtigen Position aus eine Stunde nach Westen. Halten Sie sich zurück, wenn etwas auf Ihrem Radar erscheint. Zeigen Sie sich nicht. Bleiben Sie luvwärts. Achten Sie darauf, dass die Unbekannten hinter dem Horizont außer Sicht bleiben.«
»Alles klar.«
Wenn dies der Angriff war, hatte sich Loren die ganze Zeit geirrt. Dann kamen die Angreifer die Küste entlang, nicht von Norden mit dem Wind. Wenn er in Hinsicht auf seine Theorie, die sich jetzt vielleicht als falsch herausstellte, weniger sicher gewesen wäre, hätte er Wächter irgendwo über Maguana postiert; dann wäre es nicht nötig gewesen, zwei Mädchen mit Windsurfern die Küste hinunterzuschicken.
Er ging nach draußen und läutete die Messingglocke neben der Hütte, eine ganze Minute lang. Es bedeutete, dass gleich vierzehn weitere Segelboote unterwegs sein würden.
Dies darf nicht der Angriff sein, dachte Loren. Nicht der richtige Angriff. Weil die Verbindung mit SHIELA noch nicht richtig funktionierte. Weil zahlreiche Details noch auf Klärung warteten.
Erste Bewohner des Dorfs kamen herbeigelaufen, alle in blauen Trainingsanzügen. Loren beobachtete eine schlanke junge Frau, die einen Beutel voller Macheten zu den Anlegestellen schleppte. Bitte lass es nicht dazu kommen, dachte er.
Wieder in der Hütte zog Loren seine Shorts aus, ohne auf die vielen Leute zu achten, die an der offenen Tür vorbeihasteten. Er zog ebenfalls einen blauen Trainingsanzug an und einen Moment später war er auf dem Kai neben der Columbia. Kelly war vor ihm eingetroffen und löste die Bugleine. Loren zählte die Besatzungsmitglieder; alle siebzehn befanden sich wie geplant an Bord. Er kümmerte sich selbst um Achterleine und Spring und dachte dabei: Lass dies eine Übung sein, nur eine Übung.
Mit Loren am Ruder legte die Columbia ab und fünfzehn Minuten später segelten sie mit acht Knoten die Küste entlang. Loren sah auf die Uhr. Bei dieser Geschwindigkeit erfolgte der Kontakt in siebzig Minuten. Aber es würde nur eine Übung sein. Bestimmt näherten sie sich keiner Angriffsflotte, sondern nur einem chinesischen Fischer oder vielleicht einem Wrack.
Hinter ihm erstreckte sich die Flotte der Verteidiger. Es sah wie nach einer der Regatten aus, an denen er zusammen mit Homer teilgenommen hatte: Jachten und Segler, unterwegs an einem schönen Tag, mit viel Sonne und gutem Wind. Nur die Macheten auf dem Deck und die fest montierten Armbrüste wiesen auf etwas anderes hin. Einige der anderen Boote hatten Spinnaker gesetzt. Wozu die Eile? Loren überlegte, ob es besser wäre, den Kampf weiter unten an der Küste zu führen. Oder hatten es die anderen so eilig, um es schnell hinter sich zu bringen? Er dachte erneut an die Zahlen: Sechs Boote segelten nach Norden, für den Fall, dass dies nur ein Ablenkungsmanöver war. Er rechnete noch immer damit, dass der Angriff von Norden kam, nicht aus dem Westen. Sechs nach Norden, acht nach Westen, plus die Celestine, die von ihrer Position dreißig Kilometer vor der Küste kam. Drei weitere Boote waren für die Guantánamo-Expedition eingesetzt. Es blieben zwei in Reserve, für die Fahrt nach Norden oder nach Westen, wie es die Umstände verlangten. Sie hielten sich auf der Höhe von Baracoa bereit. Loren versuchte sich zu erinnern, wer das Kommando führte. Er sah Captain Van Hooten am Ruder der Irena, nur zwanzig Meter backbords. Direkt hinter ihm kam die Kiruna mit Candace Hopkins als Captain. Der Wind wehte mit zwanzig Knoten und frischte weiter auf. Lorens Crew machte sich daran, ebenfalls einen Spinnaker zu setzen. Sie sahen ihn an, warteten auf sein Zeichen. Er winkte zustimmend; schließlich galt es zu vermeiden, dass er zu seinem eigenen Kampf zu spät kam.
Das Segel fing den Wind und Loren spürte, wie die Columbia schneller wurde. Er dachte an Sonia, die er kurz am Strand gesehen hatte, als sie aufgebrochen waren. Sie hatte nicht gewunken.
»Hallo, Loren. Ich bin’s, Chiqui.« Die Stimme kam aus dem Funkgerät in der Plicht. Kelly reichte ihm den Hörer.
»Ich bin ganz Ohr, Chiqui.«
»Wir haben ihn in Sicht. Einen alten Mann mit einem Katamaran. Nur ein Mann. Kommt wie ein Bandit die Küste herauf. Hat weißes Haar. Hinter ihm ist nichts zu sehen. Nichts. Aber ich beobachte noch immer.«
»Gut. Bleib an Ort und Stelle, Chiqui. Hallo, Celestine. Habt ihr gehört?«
»Ja, Loren. Wir haben ihn auf dem Radar.«
»Nähert euch. Vorsichtig.«
»Geht klar.«
Loren übermittelte den anderen Booten Anweisungen und sie drehten nacheinander ab, beginnend mit den letzten. Sie wandten sich nach Osten und hielten die Position, für den Fall, dass etwas aus der Richtung der Insel Little Inagua kam. Erneut sah er auf die Uhr. Innerhalb einer Stunde konnten sie wieder vor der Bucht von Baracoa in Position sein.
Es lief tatsächlich auf eine Übung hinaus. Loren beschloss, die beiden Mädchen noch einige Stunden an ihrem Beobachtungsposten auf der Klippe zu lassen, nur für den Fall, aber es schien wirklich keine Gefahr zu drohen. Mit etwas Glück hatten sie bald einen weiteren Rekruten und ein zusätzliches Boot.
Proctor Pinkham kam nach oben, mit zahlreichen Zetteln in den Händen. Der blaue Trainingsanzug spannte sich über seinem Bauch.
»Falscher Alarm, Ted. Nur eine Übung. Irgendein alter Knabe auf einem Segeltörn. Jared holt ihn zu uns.«
Der Proctor nickte. »Ich hab’s gehört. Wir sollten die Palomar auffordern, die Position der Celestine einzunehmen.« Kelly nickte und gab die Anweisung per Funk weiter. »Ich habe auch überlegt, Loren, dass es besser wäre, die Wachstationen weiter nach draußen zu verlegen. Die Boote können jetzt länger draußen bleiben, drei Tage und mehr. Sie sind also in der Lage, im Bahama Channel Position zu beziehen, ungefähr hundertdreißig Kilometer weit draußen. Das gäbe uns zwölf Stunden Vorwarnung. So viel Zeit ermöglicht es uns, den Feind auf See zu stellen. Wenn er dann Gas einsetzt, besteht für die Insel keine Gefahr. Was meinen Sie?«
»Gute Idee.«
»Wir sind sechzehn Minuten nach dem Alarm aufgebrochen, was nicht unbedingt großartig ist. Von jetzt an bleiben alle Boote an den Anlegestellen. Nur bei einem Unwetter bringen wir sie weiter draußen vor Anker. Und jeweils zwei Personen sollen jederzeit an Bord sein, auch in der Nacht. Wenn Alarm gegeben wird, können sie die Segel vorbereiten. Heute Morgen lagen wir alle in den Betten. Sechzehn Minuten sind zu viel.« Pinkham drehte den Kopf und blickte zur Flotte. »Wir waren langsam, aber sonst lief alles glatt. Der erste Alarm, ohne Pannen. Ich danke Ihnen allen. Gute Arbeit, Loren. Die beiden Mädchen mit den Windsurfern loszuschicken, war ein guter Einfall. Ich frage mich, ob ich daran gedacht hätte.« Er kehrte unter Deck zurück und schüttelte dabei den Kopf. Kelly sah Loren und lächelte.
*
Der alte Mann im Katamaran erwies sich als Lamar Armitage. Er war mit dem Fahrrad von Washington nach den Florida Keys gefahren, hatte dort ein kleines Boot gestohlen und war damit etwa hundertfünfzig Kilometer weit nach Kuba gesegelt, um anschließend über etwa neunhundert Kilometer hinweg der Küste nach Osten zu folgen. Die ganze Reise hatte dreizehn Tage gedauert. Loren fand ihn bei seiner Rückkehr in der Plicht der Celestine. Armitage sah schrecklich aus, von der Sonne verbrannt und erschöpft. Edward beugte sich über ihn.
»Himmel, Lamar, rund tausend Kilometer mit einem Katamaran. Hätten Sie nichts Komfortableres stehlen können?«
»Es musste schnell gehen«, erwiderte Armitage heiser. Seine Lippen, stellte Loren fest, waren rissig und salzverkrustet. »Katamarane sind schnell. Schnell, aber nicht bequem. Die knapp hundertfünfzig Kilometer der Überfahrt nach Kuba habe ich in einem Tag geschafft. An der Küste entlang habe ich versucht, jeden Tag möglichst weit zu kommen. Ich musste Ihnen etwas bringen und hatte es sehr eilig.«
Ed übernahm die Vorstellung. »Das ist Loren Martine. Lamar Armitage.«
Armitage sah Loren an und lächelte schwach. »Diskrete Algebra, um Partikelfelder zu erklären«, sagte er. »Ich habe Ihren Artikel gelesen.«
Loren schüttelte ihm die Hand. Proctor Pinkham stand direkt hinter ihm und Loren stellte ihn vor. »Dr. Armitage, das ist Proctor Pinkham, der Admiral unserer kleinen Flotte. Dr. Armitage ist ein Wissenschaftler von der Johns-Hopkins-Universität. Edward hat oft von ihm erzählt. Wir hoffen, dass er unserer Sache eine große Hilfe sein wird.«
»Ich bringe Ihnen dies.« Armitage hob den Plastikrucksack, den er gehütet hatte. Loren nahm ihn entgegen und stellte fest, dass er überraschend schwer war. Er enthielt einen schwarzen Inovo-Laptop. »Damit können Sie SHIELA erreichen«, sagte Armitage. »Und das Revelation-Programm. Das Ding wiegt eine Tonne. Ich habe mehrmals mit dem Gedanken gespielt, es über Bord zu werfen. Aber Revelation-13 könnte eine Hilfe sein.«
»Ja, das dachten wir auch. Wir sind damit beschäftigt, unseren eigenen Computer einzurichten. Aber dieses zweite Gerät ist sicher sehr nützlich.«
»Sie werden mit Gas kommen, wissen Sie. Mit Nervengas. Sie werden den Cuba-Libre-Plan wiederholen. Mit dem einen Unterschied, dass sie diesmal ihr eigenes Gas verwenden.«
»Ja, das ist uns klar.«
»Ah, Sie haben daran gedacht. Dann hätte ich mir unterwegs die eine oder andere Pause gönnen können. Mir hätte klar sein sollen, dass Sie daran denken. Les grands esprits se retrouvent, wie die Franzosen sagen. Große Geister denken in ähnlichen Bahnen.«
Kelly brachte Homer zur Celestine. Als er an Bord kam, sprang Armitage auf. Er und Homer waren sich nie direkt begegnet, kannten sich aber seit Jahrzehnten.
»Doktor Layton.« Armitage ergriff Homers Hand. Seine eigene zitterte. Dann machte er etwas, das alle anderen verblüffte: Er sank vor Homer auf ein Knie.
»Ich bitte Sie, was soll dieser Unfug? Doktor Armitage, mein Freund … Stehen Sie auf.«
»Doktor Layton …« Tränen glänzten in Armitages Augen und rollten über die Wangen, auf denen Meersalz eine dünne weiße Schicht gebildet hatte. »Ich glaube, Sie haben meine Seele gerettet, Doktor Layton, und das ist keine kleine Sache. Wissen Sie, ich hätte das ganze Fiasko verhindern können, wenn ich bereit gewesen wäre, zur rechten Zeit die Stimme zu erheben. All die Tode, die Sie verhindert haben, sind meine Seele.«
»Jetzt sind Sie hier. Wir alle sind hier. Und deshalb … Stehen Sie auf, Lamar. Kommen Sie.« Homer zog ihn auf die Beine. »So, jetzt können wir richtig miteinander reden. Aber nicht über Seelen. Seelen sind problematisch. Manchmal hat man eine, und manchmal lässt sie einen im Regen stehen. Nein, wir reden über Physik, wir beide. Wir haben viel zu besprechen. Wir könnten auch über ein Bad für Sie reden. Und über Essen. Wir haben hier genug zu essen, zum Glück. Dieser Mann könnte ein Bier vertragen, denke ich. Und er braucht Ruhe, Gelegenheit zu schlafen. In meinem Häuschen steht ein zusätzliches Bett; Sie können also bei mir unterkommen. Dann haben wir die Möglichkeit, auch noch spät in der Nacht zu reden, wenn außer uns alten Knaben alle anderen schlafen. Loren, hast du gesehen, wen wir hier haben? Lamar Armitage. Den Lamar Armitage. Den Armitage des Besonderen Attraktors. Er ist der Mann, der die ganze Theorie der Besonderen Attraktoren entwickelt hat.«
Armitage legte Homer die Hand auf den Arm. »Es ist Andronescus Paradox, nicht wahr? Andronescus Paradox hat die Welt angehalten, habe ich recht?«
»Oh, ja. Andronescu. Andronescu von der ETH, der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. Ein Freund von mir, wissen Sie. Ich kannte ihn damals. Als er noch lebte. Ja, es war Andronescus Idee, die uns zur Lösung des Rätsels der Pekuliarbewegung brachte. Und von dort aus war es nur ein kleiner Sprung bis zur Möglichkeit, die Welt auszuknipsen. Ich hielt es für das Beste, den Schalter zu betätigen, als klar wurde, welches Ende der Welt bevorstand.«
»Und damit haben Sie meine Seele gerettet. Ich meine, damit haben Sie mich gerettet. Sie haben mich davor bewahrt, all die vielen Toten auf dem Gewissen zu haben.«
»Mag sein. Dafür lasten jetzt etliche auf meinem.«
Proctor Pinkham war zur Reling getreten, hin und weg von den Worten »Admiral unserer kleinen Flotte«. Jetzt kehrte er zurück und wandte sich an Armitage. »Woher wussten Sie, dass wir hier sind, Sir? Woher wussten Sie, wo Sie uns finden können?«
»Ein Schachspiel, mein Freund. Mit dem Brett, das Ihnen zur Verfügung stand … Wohin hätten Sie sich sonst wenden können? Luvwärts, um im Vorteil zu sein und die Passage zu schützen. Dorthin werden sie kommen. Sie werden von Norden zur Windward-Passage segeln. Also mussten Sie hier sein, um sie aufzuhalten.« Armitage nickte in Richtung der Berge. »Vermutlich befindet sich ein Wasserkraftwerk in der Nähe.«
»Ja«, sagte der Proctor. »So in etwa haben wir es uns überlegt.«
»Les grands esprits«, wiederholte Armitage.