Eine grosse Nummer
Vier Tage später
Pookie Chang humpelte die Stufen zur Franklin Street Nummer 2007 hinauf. Die Trümmer, die unter dem Säulenvorbau gelegen hatten, waren weggeräumt worden. Gelbes Absperrband hing zwischen den Pfosten und warnte vor dem fehlenden Geländer, durch das Bryan erst wenige Tage zuvor Erickson nach unten gerissen hatte.
Pookie warf einen Blick zurück auf seinen Buick. Rasch senkte sich die Nacht herab. Eine nach der anderen schalteten sich flackernd die Straßenlaternen ein. John Smith lehnte an der Beifahrertür des Wagens und nippte an einem Becher Kaffee. Er lächelte Pookie zu und reckte den Daumen nach oben.
Je mehr sich die Dinge ändern, umso mehr bleiben sie sich gleich.
Pookie schob sich den Aktenhefter unter den Arm. Jemand hatte die hölzerne Eingangstür ersetzt. Die neue Tür war geschmackvoll, mit künstlerischen Gravuren geschmückt und aus solidem Stahl.
Pookie drückte auf die Klingel.
Er hatte immer noch Schmerzen. Er fühlte sich völlig zerschlagen. Sein Körper würde sich erholen, aber wie stand es um seine Psyche? Was sie gesehen hatten, wäre für jeden zu viel gewesen, und für einen bescheidenen, gottesfürchtigen Jungen aus Chicago galt das ganz besonders.
Die Tür ging auf. Bryan Clauser stand im Türrahmen. Er sah gut aus. Noch wenige Tage zuvor war sein Körper von Brandblasen, zwei gebrochenen Fingern und einer aufgerissenen, frisch geklammerten Wange gezeichnet gewesen. Jetzt war das einzig Auffällige an seinem Gesicht ein ordentlich gestutzter dunkelroter Bart.
Wenigstens dieses Gesicht wirkte, als wäre alles in Ordnung. Die Augen? In ihnen lag ein Ausdruck, den sie zuvor nicht gehabt hatten. Auch Bryan hatte in zu kurzer Zeit zu viel gesehen.
»Bri-Bri«, sagte Pookie. »Wie hängen sie?«
Bryan schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Bruder. Der Name lautet jetzt Jebediah, aber du kannst mich auch einfach Jeb nennen.«
»Das hört sich zwar eher nach Ein Duke kommt selten allein an, aber ich möchte dich lieber nicht in superkurzen Shorts sehen.«
»In dem Fall kannst du mich einfach Mister Erickson nennen.«
Pookie lachte. »Na klar. Soll mir recht sein. Bittest du mich nun rein oder was?«
Bryan nickte und machte rasch einen Schritt zur Seite. Pookie trat ein. Wie zuvor war er überwältigt von der altertümlichen Eleganz des Gebäudes. Nur dass die Villa jetzt keinem verrückten alten Mann mehr gehörte. Jetzt gehörte sie seinem verrückten besten Freund.
Pookie folgte Bryan ins Wohnzimmer, wobei er auch jetzt das Teakholz, den Marmor, das polierte Messing und die reich verzierten Bilderrahmen geradezu gierig in sich aufsog.
Emma saß zusammengerollt auf einem wunderschönen vergoldeten Sessel aus viktorianischer Zeit. Die Hündin trug noch immer einen weißen Verband um den Kopf. Sie sah Pookie und begann, mit dem Schwanz zu wedeln, obwohl sie sich nicht die Mühe machte, aufzustehen.
Pookie deutete auf Emma. »Bri-Bri, ich weiß, dass du so viel Kultur hast wie ein Hinterwäldler, der außer auf seinem Traktor höchstens noch auf irgendeiner Stadiontribüne rumhängt. Aber vielleicht solltest du die Hündin doch nicht auf einem Sessel sitzen lassen, der mehr gekostet hat als mein Buick, als er noch neu war.«
»Emma kann sitzen, wo sie will«, sagte Bryan leise. »Sie wohnt hier.«
Pookie erkannte den Ton in Bryans Stimme. Emma war Bryans letzte Verbindung zu Robin. Die Hündin konnte im Haus tun und lassen, was sie wollte – um es zurückhaltend auszudrücken.
Pookie ging zu Emma und kraulte sie zärtlich hinter den Ohren. Ihre Augen verengten sich zu einem lautlosen Hundelächeln. Er tätschelte ihren Oberkörper und wandte sich dann an Bryan.
»Dann gehört dir das jetzt alles?«
»Sozusagen.«
»Was heißt sozusagen?«
»Na ja, genaugenommen gehört es immer noch Erickson«, erwiderte Bryan. »Es ist nur so, dass ich jetzt eigentlich Erickson bin.«
»Du siehst ziemlich gut aus für einen Siebzigjährigen.«
Bryan nickte. »Ja. Ich meine, der Bürgermeister kümmert sich um all diese Dinge. Er kennt da einige Leute.«
»Was für Leute?«
»Ich bin mir nicht sicher«, sagte Bryan. »Mächtige Leute. Ich weiß nur, dass ich der Erlöser bin. Alles andere ist vorerst nicht wichtig.«
»Also wirst du diesen Wahnsinn nicht an die Öffentlichkeit bringen? Du bist plötzlich ganz auf Zous Linie, was die Immobilienpreise angeht und die Tatsache, dass die Menschen nicht alles zu wissen brauchen?«
Bryan nagte an seiner Unterlippe. Dann schüttelte er den Kopf. »Das alles kümmert mich im Moment nicht. Ich glaube, dass Sly entkommen ist. Der Erstgeborene möglicherweise auch. Dort unten waren Hunderte dieser Kreaturen, aber wir haben keine hundert Leichen gesehen. Der Tunnel, durch den wir rausgekommen sind, existiert nicht mehr. Ich muss herausfinden, wohin die übrigen von Maries Kindern geflohen sind. Und wenn Robins Mörderin noch da draußen ist, muss ich sie finden. Die Jagd wird all meine Nächte in Anspruch nehmen, Pooks. Es ist mir scheißegal, wer am Ende die Rechnung dafür zahlt.«
Pookie nickte. Seine moralische Entschlossenheit, einen Killer, der auf eigene Faust in der Stadt für Sicherheit sorgen wollte, der Justiz zu übergeben, war nicht mehr ganz so nachdrücklich, wenn es sich bei diesem Killer um jemanden handelte, der ihm das Leben gerettet hatte. Und zwar gleich zweimal. Wenn man bedachte, was Pookie gesehen hatte und wie nahe er dem Tod gewesen war … dann war es so vielleicht das Beste.
»Hey, hast du den durchgeknallten Keller schon entrümpelt? Damit könntest du sicher einen irren Flohmarkt aufziehen.«
Bryan schüttelte den Kopf. »Nein. Ein Trophäenzimmer ist für Trophäen.«
Ein Trophäenzimmer?
»Du beschäftigst dich doch nicht mit Taxidermie, Bri-Bri, oder?«
Bryan zuckte mit den Schultern, antwortete jedoch nicht.
Pookie konnte nur darum beten, dass Bryan sich einen letzten Rest seiner geistigen Gesundheit bewahrt hatte und nicht denselben Weg wie Erickson einschlagen würde.
»Ich habe gute Neuigkeiten«, sagte Pookie. »In der Zentrale heißt es, dass Chief Robertson den Vorwurf, du hättest Jeremy Ellis und Matt Hickman ermordet, richtigstellt.«
Bryan nickte. »Dafür hat der Bürgermeister gesorgt. Robertson hat ihn gestern ins Krankenhaus begleitet, damit er sich mit Amy unterhalten konnte.«
Chief Amy Zou hieß jetzt nur noch Amy?
»Stimmt es, dass sie hier wohnen wird?«
»Wenn es so weit ist, dass sie die Station für Brandverletzungen verlassen kann – ja«, sagte Bryan. »Amy ist ein Wrack, Pooks, körperlich und geistig. Sie spricht nicht. Sie ist überhaupt nicht richtig da, Mann. Ich weiß nicht, ob sie jemals über das hinwegkommen wird, was sie getan hat und was ihr angetan wurde. Ich besorge ihr Hilfe, die beste, die man für Geld bekommen kann. Auch die Mädchen bleiben hier – wenigstens so lange, bis sie wieder aus der Klinik kommt.«
Bryan Clauser, der ehemalige Junggesellen-Bulle, kümmerte sich jetzt um zwei kleine Mädchen. »Hast du überhaupt eine Ahnung von Kindererziehung?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Aber bis vor ein paar Tagen wusste ich auch nichts darüber, wie man Monster umbringt. Du musst schon selbst entscheiden, was von beidem du für komplizierter hältst. Was ist mit Aggie James? Weiß irgendjemand schon etwas über ihn?«
»Ja, und das sind keine so guten Neuigkeiten, Bri-Bri. Anscheinend ging es in der Klinik nach der Schießerei ziemlich chaotisch zu. Gegen sechs Uhr morgens kam ein gewisser Officer Johnson auf die Neugeborenenstation.«
Wieder schüttelte Bryan den Kopf. Dann stieß er ein bewunderndes Lachen aus. »Unfassbar.«
»Absolut. Das Komische an einer Dienstmarke und einer Pistole ist, dass die meisten Menschen sich nicht die Zeit nehmen, um deine Identität genauer zu überprüfen. Kaum dass er die Station betreten hatte, schnappte er sich das Baby und rannte davon. Wir suchen nach ihm, aber bis jetzt hat niemand ihn oder das Baby wiedergesehen.«
»Jesus«, sagte Bryan. »Das Baby ist wie Rex. Wir müssen es finden.«
Pookie nickte, doch er fragte sich, was Bryan tun würde, wenn er das Kind finden sollte. Ein Monster umzubringen ist eine Sache, ein Baby zu ermorden etwas ganz anderes.
»Also, Bryan, wenn Seine Hoheit, der Bürgermeister, deinen Namen reingewaschen hat, warum kommst du dann nicht zurück und bist wieder mein alter Kumpel Bryan Clauser?«
Bryan zögerte. Er warf einen Blick auf Emma. »Weil Bryan Clauser in Wahrheit nie existiert hat. Und nach allem, was passiert ist, gibt es ihn ganz gewiss nicht mehr, Pooks. Lass die Dinge ruhen.«
Das würde Pookie tun, doch nur vorerst. Chief Zou war nicht der einzige Mensch, der angesichts der Ereignisse völlig fertig war. Dasselbe galt auch für Mike Clauser. Pookie würde das Verhältnis zwischen Vater und Sohn wieder in Ordnung bringen, ganz egal, wie viel Energie ihn das kosten würde.
Bryan musterte den Aktenhefter, den Pookie in der Hand hielt. »Ist der für mich?«
Pookie reichte ihn seinem Freund. »Der Hand-Werker hat letzte Nacht wieder zugeschlagen.«
Bryan öffnete die Akte und betrachtete die Tatortfotos. »Opfer fünf und sechs«, sagte er. »Und wieder wurden ihnen die Hände abgeschnitten.«
»Wir haben nichts, Bri-Bri. Er hinterlässt die Symbole, aber das war’s dann auch schon. Du und ich – wir beide wissen, dass die Polizei diesen Typen niemals finden wird. Entweder hilfst du uns, oder er wird immer weitermachen.«
Bryan nickte. Er schloss den Hefter. »So sieht’s wohl aus. Pooks, es wird dunkel. Möchtest du mit mir auf die Jagd gehen?«
Pookie hatte gewusst, dass diese Frage kommen würde, doch all seine lange eingeübten und besonders schlagfertigen Antworten hatten sich in Luft aufgelöst. Bryan war dafür geschaffen, diese Dinge zu tun. Pookie Chang nicht.
Pookie schüttelte den Kopf und ging in Richtung Eingangstür. »Ich kann nicht. Ich und mein neuer Partner müssen einen Mord in Japantown untersuchen.«
Bryan schien zunächst verwirrt. Dann öffnete er die Tür und sah auf die Straße zu Pookies Buick. John Smith winkte.
»Black Mister Burns ist dein … dein Partner?«
»Ich will tot umfallen, wenn ich lüge.«
Bryan starrte nach draußen. Schließlich nickte er. »Ja, das ist gut. John hat wirklich riesigen Einsatz gezeigt, Pooks. Du hättest es sehr viel schlechter treffen können.«
Pookie wollte sagen: Ich hätte es auch noch sehr viel besser treffen können, wenn ich nur genügend Mumm hätte, um mit dir auf die Jagd zu gehen. Aber das tat er nicht.
Bryan zwang sich zu einem Lächeln. »Wenn du nichts dagegen hast, dann bereite ich mich jetzt darauf vor, zur Arbeit zu gehen.«
»Keine weiteren Einzelheiten, Bruder.«
Bryan streckte die Hand aus. »Danke, Mann.«
Pookie schüttelte sie. »Du dankst mir? Du hast mir zum zweiten Mal das Leben gerettet.«
Bryan sah zu Boden. »Ja, schon, aber … ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn du nicht zu mir gehalten hättest. Jetzt, da Robin nicht mehr am Leben ist, bist du … na ja, du bist alles, was ich noch habe.«
Pookie zog ihn an sich und umarmte ihn. »Nur zu. Tu dir bloß keinen Zwang an, du Riesenschwachkopf. Ich bin wirklich froh, dass du diesen emotionalen Goldklumpen noch rausgewürgt hast, bevor du wieder absolut reserviert und resigniert und was auch immer sonst noch so bist.«
Pookie klopfte Bryan auf die Schulter. Dann ließ er ihn los. »Viel Glück bei der Jagd«, sagte er und verließ Bryans Villa.
Pookie fühlte sich wie ein Versager, weil er Bryans Handlungen nicht unterstützte, aber das alles war einfach zu viel. So viele Tote – Robin, Baldwin Metz, Jesse Sharrow, Rich Verde. Und sie alle waren von etwas umgebracht worden, das Pookie in seinem tiefsten Inneren eigentlich noch immer nicht als real akzeptieren konnte. Dazu die Dinge, die er in der Höhle gesehen hatte, und die Tatsache, dass er selbst dem Tod sehr, sehr nahe gewesen war.
Wenigstens vorläufig war Bryan Clauser auf sich allein gestellt.